Filmfest 1369 Cinema
Die Herbstzeitlosen ist ein Spielfilm der Schweizer Regisseurin Bettina Oberli aus dem Jahr 2006. Die Tragikomödie basiert auf einem gemeinsamen Drehbuch Oberlis und der Autorin Sabine Pochhammer und handelt von der Truber Dorfladenbesitzerin Martha, die nach dem Tod ihres Mannes beschliesst, mit Unterstützung ihrer Freundinnen eine Lingerie-Boutique zu eröffnen. Die Hauptrolle übernahm Stephanie Glaser. In weiteren Rollen sind Heidi Maria Glössner, Annemarie Düringer und Monica Gubser zu sehen.
Der vom Schweizer Fernsehen mitproduzierte Film wurde am 5. Oktober 2006 in der Schweiz zur Vorführung freigegeben und wurde mit knapp 590’000 Besuchern zur erfolgreichsten Produktion des Jahres. Der Film rangiert hinter Rolf Lyssys Die Schweizermacher (1978) und vor Michael Steiners Mein Name ist Eugen (2005) an zweiter Stelle der ewigen Bestenliste des Schweizer Kinos.[2]
An dieser Stelle müssen wir noch einmal klarstellen, dass die „deutsche“ Filmchronologie dem gesamten DACH-Raum gewidmet ist, daher kam es in der zweiten deutschsprachigen Chronologie (Weimarer Kino und ab 1930 Jahr für Jahr) auch zu Besprechungen schweizerischer und österreichischer Filmproduktionen, und deswegen stellen wie heute wieder einen Fil aus der Schweiz vor, der, siehe oben, zu den erfolgreichsten des Landes zählt, auch „Die Schweizermacher“ hatten wir im Rahmen dieser Chronologie ausgewählt, als Filmbeispiel für das Jahr 1978.
Handlung (1)
Mit dem Tod ihres Mannes Hans (1921–2005) vor 9 Monaten hat die 80-jährige Martha ihre Lebenslust verloren und würde ihm am liebsten ins Jenseits folgen. Die Jassrunde mit den Freundinnen ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Ihr Dorfladen in Trub im schweizerischen Emmental dümpelt vor sich hin und ihr Sohn Walter, der Dorfpfarrer, möchte die Räume für seine Bibelgruppe nutzen.
Als er vorschlägt, sie solle doch den Laden aufgeben und etwas Neues beginnen, kommt sie eher durch Zufall während eines Einkaufs in Bern mit ihrer quirligen und optimistischen Freundin Lisi darauf, sich jetzt im höheren Alter ihren Lebenstraum zu erfüllen: eine Lingerie-Boutique.
Aus dem grauen Gemischtwarenladen wird eine charmante Dessousboutique. Daran stösst man sich jedoch im Ort, und schnell macht sich Widerstand bei den Einwohnern breit. Ihr eigener Sohn opponiert ebenso wie der konservative Gemeindepräsident der fiktiven Traditionspartei LLP, Fritz Bieri, Sohn von Marthas Freundin Hanni gegen die vermeintliche Verführung zur Sündhaftigkeit durch Reizwäsche.
Auch Marthas andere Freundinnen neben Lisi, Frieda und Hanni, sind nicht so ganz davon überzeugt, dass die Dessousboutique ein Erfolg werden kann. Durch die Hilfe verschiedener Personen, unter anderem aus dem Computer- und dem Stick-Kurs des Altersheimes, startet Martha einen erfolgreichen Web-Shop für ihre Dessous mit gestickten Trachtenmotiven. Mit ihrer Energie werden ihre Freundinnen angesteckt. Hanni macht die Fahrprüfung, die ihr der Mann Ernst aus Kostengründen früher verweigerte, damit dieser nicht ins Altersheim muss, Frieda lernt, mit dem Computer und dem Internet umzugehen. Jedes Mal, wenn Walter oder Fritz Intrigen gegen sie schmieden, um sie zur Aufgabe des Ladens zu zwingen, schöpft sie daraus nur neue Kraft.
Doch dann stirbt Lisi in ihrer Küche plötzlich an einem Herzschlag. Diese hatte sich immer damit gebrüstet, dass sie schon in Amerika gewesen ist, doch Walter hatte kurz vor ihrem Tod in einer Intrige dies als Lüge herausgestellt. Lisi zuliebe versprechen sich die drei Freundinnen an ihrem Grab, ihre jeweiligen Vorhaben weiter zu verfolgen. Der Widerstand des Sohnes wird gebrochen, als Martha merkt, dass er ein Verhältnis zu Lisis Tochter Shirley hat.
Während eines Sängerfestes auf einer Wiese kommt es zu einer direkten Auseinandersetzung zwischen Fritz und Martha. Die Festbesucher werden von Marthas Ideen überzeugt, unter anderem durch eine spontane Präsentation ihrer Dessous durch die Tochter von Fritz und ihrer Freundin. Ein kleiner Verkaufsstand mit ihren Dessous wird von vielen Frauen umlagert.
Walter, der seiner Frau Vreni endlich die Wahrheit gesagt hatte, gibt sich einen Ruck und kann die Sänger des Ortes davon überzeugen, anstatt der alten verschlissenen Traditionsfahne die moderne, von seiner Mutter genähte, zu zeigen.
Rezension
Bei meiner Befassung mit dem Schweizer Film in zwei Etappen, die sich aus zwei Thementagen auf 3Sat im Jahr 2017 zusammensetzen, gab es manche schöne Überraschung, und auch den einen oder anderen Film, den ich mir außerhalb einer solchen Werkschau wohl kaum gegönnt hätte. „Die Herbstzeitlosen“ ist eine der besonders positiven Überraschungen gewesen. Es ist eine herrliche Selbstermächtigungsgeschichte über die ältere Generation, und natürlich ein Frauenfilm, von einer Frau inszeniert. Die meisten von uns werden aber unabhängig vom Geschlecht irgendwann von den Themen betroffen sein, die hier verhandelt werden, und dabei vielleicht noch kreativer sein müssen als die drei oder vier Damen von der Dessousboutique, denn eines merkt man natürlich: In der Schweiz sind alle materiell irgendwie doch so aufgestellt, dass sie mal ein Experiment wagen können, ohne bei Misserfolg gleich auf der Straße zu landen.
Da ist also eine Grundwürde und ein Respekt für das Leben auch der Senior_innen, die bei uns mehr und mehr unter die Räder eines vom Neoliberalismus angetriebenen Generationen-Clashs zu kommen drohen. Die Radikalität neuer Lebensentwürfe, die dann vermutlich erforderlich sein wird, ist den drei Schweizerinnen ja eigentlich fremd, sie tun etwa ganz Traditionelles, nämlich einen Handwerksbetrieb gründen, dessen einziges Problem es ist, dass er sich mit Wäsche befasst, die einen sexuellen Ruch hat.
Trotzdem ist das Thema universell und zudem sind die Rollen wunderbar gespielt. Ein bekannter Name aus dem Ensemble war für mich nur Annemarie Düringer, die in ihren jüngeren Jahren auch in Deutschland gefilmt hat, aber sie reiht sich in eine nicht übertriebene, aber feine und äußerst liebenswerte Darsteller:innengemeinschaft, in der jede Frau für etwas Bestimmtes, für Eigenschaften und Talente steht, die Männer hingegen vor allem als Betonköpfe gezeichnet werden. Das Dorf sind sie, Petit Paris, das sind die Damen, die es ihnen zeigen. Viele Klischees sind zu besichtigen, aber wenn die Schweizer es selbst so inszenieren, wer wollte ihnen widersprechen? Selbst das Reaktionäre der Herrengilde wirkt angesichts des Dialekts irgendwie charmanter als bei uns – dabei spart der Film aber nicht mit deftigen Aussagen, bei denen ich manchmal „Oho!“ gerufen habe, weil manche Dialoge durchaus jenseits der Political Correctness angesiedelt sind. Der Wechsel zwischen sehr feinen, kleinen Szenen und einigen eher derben Momenten ist aber gelungen, und dadurch, dass der Film eine Hollywood-Dramaturgie hat, in der sich beherzte Individuen für ihr individuelles Glück einsetzen oder doch für die Selbstachtung und Sinngebung in Bezug auf ihr eigenes Leben, wirkt er vertraut und enttäuscht nicht die Muster, die wir in Filmen und im Grunde bei allen Geschichten bevorzugen. Die Erzähltechnik bewegt sich in sicheren Bahnen.
Finale
Freilich ist „Die Herbstzeitlosen“ kein rasanter Film, vielmehr gibt er den Figuren Zeit, sich zu entwickeln und interessant und liebenswert zu sein. Das Kantige und manchmal etwas amateurhaft wirkende der Darstellungen hat wohl vor allem mit der Sprache zu tun, vermutlich gab es in diesem Fall nur eine mittelmäßig dialektorientierte Variante, die man bei uns noch verstehen kann, die für Schweizer Verhältnisse aber schon sprachlich aufgehellt wurde. Manche Szenen sind aber auch urkomisch gerade wegen dieses etwas sperrigen Layouts. Der Film wurde sogar ins Rennen um einen Auslands-Oscar geschickt, schaffte es aber nicht in den Kreis der Nominierten. Es ist jedoch ein wichtiger und in weiten Teilen richtiger Film, den ich zu den sogenannten Inspirationsfilmen rechnen möchte: Zu den Werken, die man Menschen zeigen sollten, die den Lebensmut verloren haben und sich einer Welt hilflos ausgeliefert fühlen, in denen für sie kein mit Aktivität mehr zu füllender Platz zu sein scheint.
In Deutschland betrifft diese Marginalisierung viel mehr Menschen in allen Altersklassen als in einem so funktionablen Land wie der Schweiz – und gerade die Jüngeren, die am liebsten alle Alten umbringen würden, die ihnen angeblich etwas wegnehmen, obwohl sie selbst lange Zeit dafür gearbeitet haben, sollten sich diesen Film mal anschauen und darüber nachdenken. Da gibt es weitaus schlimmere Ansichten und ein weitaus rüderes Verhalten als das, was die Generation 40–50 zeigt, und das man hier an den Personen der Söhne von Martha und Hanni festmachen kann.
78/100
Kritiken
- Gernot Gricksch von der tvDIGITAL schrieb, dies sei die Schweizer Antwort auf die britischen Kalender Girls (2003); eine toll gespielte Komödie mit viel Witz und Charme.
- Das Lexikon des internationalen Films meinte: Eine lebensbejahende, mit einer Reihe Schweizer Altstars besetzte Mundart-Komödie, die geschickt die Chiffren und die holzschnittartig-schwülstige Dramaturgie des gängigen Heimatfilms umschifft und zu einem charmanten Plädoyer für Würde und Lebensfreude im Alter wird.[3]
- Alexandra Seitz von der Berliner Zeitung schrieb: Zwar mag Oberlis Inszenierung sich wie harmloses Bauerntheater gängiger Vorurteile über die vermeintliche Rückständigkeit der Landbevölkerung bedienen und so manchen Witz auf deren Kosten machen. Im Kern jedoch trifft ihre Geschichte vom getrübten Altweibersommer einen wenig schmeichelhaften und weit generelleren Sachverhalt: Das gestörte Verhältnis zwischen den Generationen und die Entmündigung und Verdrängung der Alten.[4]
- Meike Stolp erklärte bei critic.de: Es geht Oberli nicht darum, ihre Damen zu Rock’n’Roll-Omas aufzubauen, die sich den Weg aus der Gemeinschaft in die vermeintliche Freiheit erkämpfen. Martha, Lisi, Hanni und Frieda fühlen sich wohl in Trub, Freiheiten erkämpfen sie sich nur innerhalb dieser Gemeinschaft. Ebenso verzichtet Oberli auf den platten Witz auf Kosten der reaktionären Kinder Marthas und Hannis. Auch sie haben Gründe für ihr Handeln und diese werden dem Zuschauer ebenso vermittelt. Anders als Beeban Kidrons HERBSTZEITLOSE verlässt sich Bettina Oberli eben nicht nur auf ihre charismatischen Schauspielerinnen.[5]
© 2018 Rote Sonne 17, Thomas Hocke
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Bettina Oberli |
|---|---|
| Drehbuch | Bettina Oberli Sabine Pochhammer |
| Produktion | Alfi Sinniger |
| Musik | Luk Zimmermann |
| Kamera | Stéphane Kuthy |
| Schnitt | Michael Schaerer |
| Besetzung | |
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