Jerichow (DE 2008) #Filmfest 1376 #DGR

Filmfest 1376 Cinema – Die große Rezension

Der Postmann als Ostmann

Jerichow ist ein deutscher Spielfilm von Christian Petzold aus dem Jahr 2008 mit Benno FürmannNina Hoss und Hilmi Sözer in den Hauptrollen. Die Filmpremiere war am 28. August 2008 im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Venedig

Thomas kehrt heim aus Afghanistan, will das Elternhaus renovieren, verliert das dafür zurückgelegte Geld an einen Typ, bei dem er Spielschulden hat, lernt zufällig Ali kennen, wird dessen Lieferfahrer und kommt dessen Frau Laura näher und Laura und Thomas schmieden einen Plan.

Wenn man die Handlung so zusammenfasst, ist klar, was wir im Film erst nach einer Zeit begreifen konnten: Dass es sich hier um eine in beinahe unbewohnt scheinendes ostdeutsches Land verlegte Version von James M. Cains reißerischem Thriller „The Postman Always Rings Twice“ handelt. Als dieses Vorbild im Verlauf der Handlung klar wurde, kam es zum logischen Automatismus: Wir verglichen „Jerichow“ mit der wohl immer noch besten Verfilmung des Romans aus 1946, mit John Garfield und Lana Turner in den Rollen von Thomas und Laura (hier sind es Benno Führmann und Nina Hoss).

Handlung (1)

Der aus dem Afghanistan-Krieg entlassene Soldat Thomas kehrt nach Jerichow, in den dünn besiedelten Nordosten Deutschlands, in das nach dem Tod seiner Mutter geerbte Haus zurück. Gegenüber einem Gläubiger behauptet er, völlig mittellos zu sein, hat aber, um das Haus renovieren zu können, eine größere Summe Geldes versteckt; als sein Verfolger es findet, nimmt er alles an sich und lässt ihn durch einen Kumpan niederschlagen. Thomas ist gezwungen, einen schlecht bezahlten Saisonjob als Gurkenpflücker anzunehmen.

Durch Zufall lernt er den Türken Ali kennen, der betrunken in eine Uferböschung gefahren ist. Thomas macht sein Auto wieder flott, behauptet gegenüber der Polizei, er habe am Steuer gesessen, und fährt Ali sogar nach Hause. Kurze Zeit später verliert dieser, erneut betrunken, den Führerschein und engagiert Thomas als Fahrer, um seine 45 verpachteten Imbissstuben beliefern und kontrollieren zu können. Dabei zeigt sich, dass einige Pächter zu betrügen versuchen, was Ali auch einmal handgreiflich sanktioniert, sich dadurch jedoch selbst in Gefahr bringend, sodass Thomas schon an seinem ersten Arbeitstag in eine Auseinandersetzung, die zu eskalieren droht, kurz entschlossen eingreift, seine erworbenen Kampftechniken nutzend. 

Ali lädt Thomas ein, seinen Einstand mit einem Picknick am Ostseestrand zu feiern, und bringt seine Frau mit, die wesentlich jüngere, attraktive Blondine Laura. Wieder einmal betrunken, tanzt Ali selbstvergessen zu türkischer Musik, und fordert die beiden auf, „deutsch“ zu tanzen, während er sich für eine Weile entfernt. Damit stiftet er eine sich schnell entwickelnde Affäre zwischen Laura und Thomas; unklar ist, ob er das arglos tut oder mit Kalkül, um seine Frau auf die Probe zu stellen und eventuell in flagranti zu ertappen. Grund zur Eifersucht haben beide Männer: Es bleibt offen, ob Laura Ali mit einem seiner Geschäftspartner tatsächlich „nur“ finanziell betrogen hat, wie sie vorgibt.

Eine mehrtägige Reise Alis heizt die Beziehung zwischen Laura und Thomas weiter an – und ihre kriminelle Energie. Der entscheidende Punkt, noch vor Alis Eifersucht und gelegentlicher Gewalt, ist Lauras finanzielle Abhängigkeit von ihm: Als er sie heiratete, übernahm er ihre Schulden in Höhe von 142.000 Euro, legte aber per Ehevertrag fest, dass diese wieder an sie zurückfallen, wenn sie sich von ihm scheiden lässt. So entsteht bei beiden die Idee, Ali aus dem Weg zu räumen, indem sie einen Autounfall inszenieren, der wie ein Selbstmord aussehen soll.

Am geplanten Tatort angekommen, erfährt Laura von Ali, dass er die Reise in die Türkei nur vorgetäuscht hatte. In Wirklichkeit war er in einer Klinik in Leipzig; er sei unheilbar herzkrank und habe nur noch zwei bis drei Monate zu leben; er wolle ihre Schulden begleichen und ihr die Firma überschreiben; sie solle sich von Thomas helfen lassen. Seine Bitte, sie möge bei ihm bleiben, lässt darauf schließen, dass er sehr wohl über den Stand ihrer Beziehung im Bilde ist. Schließlich entdeckt er sogar Thomas in seinem Versteck und errät, was beide vorhatten. Außer sich, fordert er sie auf zu verschwinden und setzt dann das, was mit ihm geschehen sollte, selbst in die Tat um: Er fährt mit dem Auto über die Klippen in den Tod.

Rezension

Aber kann man echten Thriller dem Zentrum der Schwarzen Serie, der heute zu deren Klassikern zählt, mit einem deutschen Film von 2008 vergleichen? Ja und nein. Deutsche Regisseure können keine echten Thriller, seit Fritz Lang emigriert ist, und daher wäre es nicht gerecht, zum Beispiel zu schreiben, dass „The Postman“ von 1946, der in Deutschland „Im Netz der Leidenschaften“ heißt, weniger kryptisch und auf das anspielend, was die Handlung treibt, trotz viel mehr Handlung und der Film-noir-typischen Rückblendentechnik spannender ist als der simpel gebaute und chronologisch gefilmte „Jerichow“.

Jeder Film muss räumlich und sozial verortbar sein, wenn er ein Gegenwartsfilm sein will, und wie hier drei Menschen in einem ziemlich heruntergekommenen Ostdeutschland des Jahres 2008 stehen, jeder mithilfe der anderen und jeder für sich allein, das ist macht eine ganz andere Atmosphäre als wenn die Geschichte eines Landstreichers, eines kleinen Geshäftsmannes und seiner „gekauften“ Frau sich in den prosperierenden Nachkriegs-USA abspielt. Die Atmosphären und Stile sind sogar gekreuzt: Während der US-Film in seiner konstrastreichen Düsterkeit, wie die Films noirs generell, vom deutschen Expressionismus beeinflusst ist, hat Petzolds „Jerichow“ einen deutlichen Schlag vom französischen Film abbekommen, mit seiner poetischen Landschaftsverwendung, den beinahe südlich intensiven Farben und einer scheinbaren Simplizität, hinter der sich dann doch dieselbe gleiche Botschaft verbirgt wie im über 70 Jahre älteren US-Film: Geld zerstört die Welt. Vor allem, wenn man keines hat. Vor allem, wenn man damit nicht klarkommt, dass man keines hat.

„Romance without finance is a nuisance”, heißt es in einem Song von Charlie Parker, der es wissen musste und an den uns die Stelle erinnert hat, in der genau diese Ansicht von Laura ausgesprochen wird. Das ist auf der Fahrt von Thomas‘ altem Elternhaus, auf der sie im Fußraum des Lieferwagen-Fahrerhauses kauert, um nicht von Thomas‘ alter Nachbarin oder sonstwem entdeckt zu werden. Da reden die beiden sehr explizit über die finanziellen Gegebenheiten. Der Film, der sonst so gut in Bildern spricht, wird hier seltsam banal, obwohl die Leute wirklich so denken. Weil auch das banal ist. Im Deutschland des Jahres 2008 hätte Laura sich scheiden lassen können und mit Thomas nach Berlin gehen, und, bis es jobmäßig klappt, Hartz IV beziehen können. Ein alter Afghanistan-Kämpfer mit hervorragender Physis, auch wenn ohne nähere Erklärung etwas von unehrenhafter Entlassung gemunkelt wird, hätte sicher bald einen Job bekommen, selbst Laura, die eine Gefängnisvergangenheit hat, hätte sich sozial vernetzen können.

Das ist Theorie und Logik, aber Menschen sind nicht immer so gestrickt, das wird uns an der Stelle vielleicht etwas zu deutlich, aber nicht ohne Sinn und Verstand ins Ohr getönt, wo der Film doch sonst so visuell mit uns kommuniziert. Symbolische Handlungen und Situationen und Settings geben sich die Türklinke zu den Verständnisplätzen des Films in die Hand, sodass diese einfachen Menschen eben nicht banal wirken. Gut, schon die Bodensex-Szene fanden wir ein wenig überzogen, denn ob betrunken oder nicht, davon hätte Ali aus wenigen Metern Entfernung etwas mitbekommen müssen. Es ist aber häufig so, dass wir mit Handlungselementen kritisch umgehen, die nicht einer objektivierbaren Nachvollziehbarkeit zugänglich sind, das liegt u. a. an der Arbeit für die TatortAnthologie (im neuen Wahlberliner „Crimetime“, Anm. TH 2025).

Wenn man es psycho-logisch betrachtet, dürfte es das alles ja nicht geben: Frauen, die sich in unserer heutigen Zeit kaufen lassen, Männer, die im Nichts eine Imbisskette aufbauen, andere Männer, die in ebenjenem Nichts hängen bleiben und dort ein Haus aus den 1920ern oder 1930ern mit Tonnendach auf Vodermann bringen wollen. Wer sich mit diesen Gebäuden auskennt, die während der DDR-Zeit kaum gepflegt wurden, weiß, welch einen Aufwand dies bedeutet. Rationalität ist nicht das, was wir zum Maßstab fürs Handeln der Figuren in Jerichow machen sollten, und das haben sie mit den meisten Buch- und Filmcharakteren gemeinsam. Es gibt zwar viele Filme, in der gerade die durchgehende Nachvollziehbarkeit der Abläufe fasziniert und echten Thrill schaffen kann, aber schon in dem US-Film, den wir angesprochen haben, ist dies eher zweitrangig. Es geht um Individuen, die sich ihre individuellen Gefängnisse selbst geschaffen haben, weil sie sind, wie sie sind, nicht so, wie wir uns vielleicht verhalten würden, in ähnliche Situation gestellt. Oder, schlicht ausgedrückt: Die meisten von uns würden nicht morden.

Der Unternehmer, der in der Einsamkeit lebt, findet eine Frau, die für seine Verhältnisse zu attraktiv ist und bindet sie, indem er ihre Schulden übernimmt – nicht, ohne sich rückzuversichern, denn er ist clever und außerdem stets misstrauisch, wie wir im Verlauf des Films häufig beobachten können. Darin unterscheidet er sich mindestens graduell von der gutmütigen Figur des Ehemannes, die uns „Im Netz der Leidenschaften“ begegnet. Der Ex-Soldat ist sogar besser hergeleitet: Er kehrt in die alte Heimat zurück, die etwas wie Muttlerliebe und Unschuld der Kindheit suggeriert, zum Beispiel durch das Baumhaus – das sich aber schnell als Falle herausstellt. An diesem romantischen Platz hat Thomas Geld für die Renovierung des Hauses versteckt, und der Typ, dem er etwas schuldet, findet es dort, schlägt Thomas zusammen und damit ist die Zeit der Unschuld endgültig vorbei. Dass Charaktere, die zu Beginn eine wichtige Rolle spielen, nach dieser Szene komplett aus dem Film genommen werden, lässt uns zwiespältig zurück. Da finden wir die Variante aus dem US-Film schicker. Darin wird auf ein Einführung verzichtet. Ein Mann unterwegs, ein Geschäftsmann, der für seine Gaststätte einen Helfer sucht. Eine Frau, die dort bedient und mit ihrer Erscheinung die Kunden anzieht. Fertig ist das Szenario, von dem man genau weiß, es wird zu enormen Spannungen führen.

Vielleicht ist es wirklich so, dass man Thomas und Laura mit ihren Hintergründen mehr erklärt, ihn durch die Aktion zu Beginn, sie als Talking Head in eigener Sache, weil wir uns heute, karges Ostdeutschland hin oder her, schwerer vorstellen können, wie Menschen sich so verstricken und Geld solch ein Menetekel darstellt. Das muss auf erheblichen Biografieschäden fußen. Deshalb ist es wiederum nachvollziehbar, warum Alis Hintergrund nicht dargestellt wird: Er ist die einzige selbstbestimmte Figur in dem Dreieck und macht sein Ding, auch wenn es viel Kraft kostet, den ständigen Betrügereien von Pächtern und Lieferanten auf der Spur zu bleiben. Es kostet so viel Kraft, dass das Herz nicht mehr mitspielt und wir lernen daraus, dass auch dieser Mann ein Getriebener ist. Das ist ein zusätzlicher Ansatz oder eine Verstärkung der Botschaft, die „Im Netz der Leidenschaften“ nicht zeigt. Etwas anderes gibt es dort auch nicht: Eine Rekurs auf Fremdenfeindlichkeit, wie er im Buch sehr wohl vorkommt, wo der Kleinunternehmer griechischer Herkunft ist. Dies hat Petzold aufgegriffen und einen türkischstämmigen Mann daraus gemacht, der vermutlich nach der Wende von Berlin aus in den Osten vorgerückt ist und dort eine Art einsames Imperium aufgebaut hat, dessen Funktion sich nicht erschließt. Sie erschließt sich nicht, weil man nie Kunden sieht, wenn Thomas und Ali einen der Imbisse anfahren. Das sollte man allerdings nicht zu linear sehen, die kammerspielartige Anlage dieses Films steht eindeutig im Vordergrund, und dazu gehört auch die Reduktion des Personals aufs Notwendige – das zwei Betrüger umschließt, einen vietnamesischen Imbisspächter und einen Getränkelieferanten, mit dem Laura schon etwas hatte, bevor sie Thomas traf (1).

Das leitet uns zu den Figuren und wie wir sie empfinden. Wie im „Vorbildfilm“ – sicher kannte Petzold ihn, wie auch die beiden anderen Umsetzungen des Stoffes, „Ossessione“ von 1942 und das US-Remake mit Jessica Lange und Jack Nicholson aus 1980, als er „Jerichow“ entwickelte – haben wir ein typisches Noir-Tableau vor uns. Die Charaktere sind uns nicht ganz fremd, aber sie sind keine Identifikationsfiguren, die in vielen Genres und auch in manchem Film noir das Publikum binden. Uns fasziniert der Film noir aber auch deshalb, weil es gerade diese simplen Gutcharaktere nicht gibt, meist auch keine Helden, die als Figuren, mit einem literarischen Terminus, ihre „Maximalkapazität“ einbringen, die genau zu jener Form von Psycho-Logik führt, die wir als realistisch empfinden, obwohl sie literarisch ist.

Der Film noir, auch wenn er in Farbe gedreht ist und aus dem Jahr 2008 stammt, zeigt uns Menschen, die wir manchmal wachrütteln möchten, weil sie in einem Alptraum gefangen sind, die wir aus einem tief in uns sitzenden Trieb der Selbsterhaltung sogar ablehnen mögen – die aber realistisch sind, in ihrer Begrenztheit. Wenn man, wie wir, dienstlich viel in Brandenburg unterwegs war, manchmal auch in Sachsen-Anhalt, wo Jerichow liegt, wenn man dabei Zugang zu vielen alten Häusern wie dem von Thomas hatte und auch zu neueren, in denen die Lebensentwürfe der Bewohner kaum anders sind, dann spürt man, auch wenn man sich dagegen sträuben mag, dass die Menschen und auch die Konstellation in „Jerichow“ dem Leben abgeschaut ist.

Jenem Leben, das in den schwachen Strukturen, die manche Gegenden des deutschen Ostens aufweisen, beinahe archaisch auf westerntypische Art daherkommt. Man mag sich verraten und durchschaut fühlen und konfrontiert mit etwas, das man lieber gar nicht verstehen möchte, wenn es täglich sichtbar wird, aber der Film zeigt diese gefährliche Realitätsnähe, die nicht unseren Alltag spiegelt, aber Lebensumstände und -entwürfe, sofern man von einem Design sprechen kann, die wir stets fürchten: Die der finanziellen und emotionalen Abhängigkeit. Um den Film würdigen zu können, müssen wir diese Mechanismen im Blick haben und was sie mit uns machen. Einen Film kann man nicht deshalb ablehnen, weil er der eigenen Person vielleicht näher tritt, als diese es normalerweise zulassen würde. Gerade das ist die Stärke von „Jerichow“, deswegen empfinden wir die ausgprochenen Sätze dort, wo wir es lieber noch etwas karger gehabt hätten, als beinahe frevelhaft. Sie schneiden in eine Vorstellung hinein, die wir uns mittlerweile von den Figuren und ihren Motivationen gemacht haben. Weil wir hier mehr geroutet werden als sonst in diesem Film, bleibt die Kritik speziell an dieser Szene und an der Art, wie der Beginn des Films organisiert ist, auch in moderater Form bestehen.

Dafür sind wir ja immer begeistert, wenn ein Film starke Bilder aufweist. Nicht nur technisch brillant, das ist heute Standard und verdeckt manchmal auch eine gewisse Inhaltsleere, suggeriert mehr Tiefe, als das Produkt dann aufweist – auch dafür könnten wir zahlreiche Beispiele aus der TatortAntologie aufführen – sondern im Dienst der Handlung stehend. In Jerichow denkt man zunächst, es müsste immer grau sein, denn die Figuren sind innerlich angegraut, deformiert durch ihre Ängste und Abhängigkeiten, doch es scheint meist die Sonne und bis zum fernen Horizont ist die Luft klar. Am Meer weht der Wind und häufig sind Tiergeräusche präsent, die Kameraperspektiven künden manchmal von Weite und gar vom Himmel, unter dem die Möwen frei dahinzuschweben scheinen und der sich über alle Menschen spannt, auch über jene, die beladen sind.

In „Barbara“, dem 2012er Berlinale-Beitrag von Petzold, haben wir diese starke Einbeziehung der Natur erstmalig wahrgenommen, die seinen Filmen eine Spannung und Dynamik jenseits nicht vorhandener Hochgeschwindigkeitsdramaturgie verleiht. Es ist europäisches Kino, alles ist also Zeichen, ist Form, ist Linie und Baukörper, ist gebückte oder aufrechte Haltung, ist einfaches, symbolisches Tun und es sind Blicke, besonders natürlich die von Nina Hoss, deren Darstellungsweise sich für Petzolds Inszenierungsstil hervorragend eignet. Wie wir ebenfalls in „Barbara“ gesehen haben, kann sie ganz allein einen auf intensive Art ruhigen Film tragen und uns den Zugang ermöglichen. Wie sie durch den Wind, der ihre Aufgewühltheit versinnbildlicht, zu jener Stelle radelt, an der das Geld für die Flucht aus der DDR versteckt ist, hat sich eingegraben in unser Filmgedächtnis. Eine gleichermaßen prägnante Szene haben wir in „Jerichow“ nicht gefunden, hier setzt sich der Eindruck mehr aus vielen etwa gleichstarken Bildern zusammen. Da sind die Linien der einsamen Straßen, die Schicksale zusammenführen und Schicksal sind, da ist der Strand mit seiner vorgeblichen Romantik, das rauschende Meer, das ebenso wie der Wind in „Barbara“ Seelenzustände transportiert. Besonders schön zu sehen in dem Topshot von Klippe herunter auf Barbara, wie sie am Meer sitzt (2).

Finale

„Jerichow“ ist eine zeit- und landesgemäße Adaption von „The Postman Always Rings Twice“ mit einem offenen Ende. Zum Ende müssen wir uns noch einmal gesondert äußern:

Wir hatten zwischenzeitlich eine andere Vorstellung davon, wie das Ende aussehen könnte (wir dachten auch, Ali fliegt gar nicht ab, sondern fährt mit dem Taxi zurück, um seine Frau und Thomas zu kontrollieren). Als die Sache mit dem Auto auf der Klippe schon arrangiert ist, dachten wir, Ali wird eben nicht Selbstmord begehen, auch wenn er nur noch kurz zu leben hat, sondern es wird sich etwas ereignen, das die Ironie vollkommen macht: Etwa ein Unfall, der den beiden Liebenden zugerechnet wird, wie in der 1946er Verfilmung. Da Ali ohnehin vorhatte, allen Besitz seiner Frau zu überschreiben und den Ehevertrag zu ändern bzw. den Schuldschein zu vernichten, hätten die beiden ja nur noch zwei, drei Monate warten müssen. Eine gar nicht begangene kriminelle Handlung macht dann alle Träume zunichte. Die innere Einstellung, die Verlierermentalität, die moralische Seite des Tuns, was auch immer dazu führt, es führt dazu, dass am Ende alles umsonst war und dass Liebe, die auf Verbrechen fußt, selbst auf lediglich geplanten oder versuchten, vielleicht doch eine Illusion ist.

War es dieser Teil der Botschaft, die Petzold nicht wollte, war es die Notwendigkeit, mehr Handlung zeigen zu müssen, z. B. eine Ermittlung, einen Prozess, oder schlicht die Tatsache, dass der Film seinem Vorbild zu ähnlich geworden wäre? Was immer es war, der Schluss ist etwas abrupt und lakonisch geraten und verwehrt gewissermaßen das finale Nicken. Auch wenn dies nur dadurch verursacht worden wäre, dass die beiden Hauptfiguren schon aufgrund ihrer bösen Absichten nicht einfach davonkommen sollten. In den USA des Jahres 1946 gab es für das eindeutige Ende aber einen wichtigen Grund: Die Zensur erlaubte es damals nicht, dass Verbrechen sich auszahlt, was in den Films noirs dazu geführt hat, dass diese erst richtig schwarz wurden und die Schicksale der Figuren so sehr vorherbestimmt wirken, auch wenn dies nicht explizit durch die Narration an den Zuschauer herangetragen wird.

Da aber in „Jerichow“ Alis Vermögen nun ohnehin ganz an seine Frau gehen wird, mangels Kindern, ist im Grunde alles so möglich, wie Thomas und Laura es wollten. Es kann sich demnach erweisen – nicht, ob Liebe zwischen Außenseitern wirklich Geld benötigt, sondern, ob Geld der Liebe zwischen Außenseitern zuträglich ist.

76/100

2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

Regie Christian Petzold
Drehbuch Christian Petzold
Produktion
Musik Stefan Will
Kamera Hans Fromm
Schnitt Bettina Böhler
Besetzung
  1. IN der entscheidenden Szene, als Ali Thomas und Laura am Strand zum miteinander Tanzen geradezu nötigt, wird auf das Buch verwiesen, indem Ali und Thomas eine Diskussion über Tanzstile haben und Ali nach dem türkischen Tanz noch etwas Griechisches vorführt.

  2. Bezüglich der Orte hat man sich eines Tricks bedient, um den Strand einbeziehen zu können. Jerichow liegt 200 Kilometer von der Ostsee entfernt, es wirkt aber, als könne man mal schnell einen Picknickausflug dorthin machen oder mit dem Lieferwagen einen kleine Abstecher. Außerdem hat man das Meeresrauschen wohl künstlich verstärkt, denn die Ostsee rauscht normalerweise nicht so kräftig, dass man es von einer hohen Klippe aus so deutlich wahrnimmt wie hier.


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