His New Profession / The Good for Nothing (USA 1914) #Filmfest 1379 #Chaplin #CharlesChaplin #CharlieChaplin #DGR

Filmfest 1379 Cinema – Werkschau Charles Chaplin (26) – Die große Rezension

His New Profession is a 1914 American comedy silent film made at the Keystone Studios and starring Charlie Chaplin. The film involves Chaplin taking care of a man in a wheelchair. It is also known as „The Good for Nothing“.[1]/[1]

Es gibt grundsätzlich keine unwichtigen Filme im Werk von Charles Chaplin, denn sie alle führen zu den Meisterwerken, die er in den 1920er bis 1950er Jahren schuf. Gerade bei seinem 26. Film, der am 31. August 2014 Premiere feierte, ist es wichtig, daran zu erinnern. Chaplin war damals schon berühmt, das hatte er in etwa acht Monaten geschafft, seit er mit dem Filme machen begonnen hatte, aber er wäre nie zu der Ikone geworden, die wir kennen, hätte er sich nicht mehr als alle anderen Komiker bis heute weiterentwickelt. Das war ihm gelungen, obwohl er schon im zweiten Film mit ihm, der veröffentlicht wurde das Kostüm zeigt, das seine Leinwandauftritte bis in die 1930er prägen sollte: den kleinen Tramp.

Handlung (1)

Der Tramp wird von einem Mann angeheuert, um seinen kranken Onkel eine Zeit lang durch einen Park am Meer zu fahren. Obwohl er seinen neuen Job mit Begeisterung antritt, denkt der Landstreicher bald, dass er für seine Bemühungen zusätzliches Geld verdienen sollte, das er in einem nahe gelegenen Saloon ausgeben kann. Dementsprechend nimmt er ein Bettlerschild und eine Dose (von einem anderen Rollstuhlfahrer) und setzt sie auf den Rollstuhl des Mannes, um den er sich kümmert. Sobald jemand Geld in die Dose steckt, nimmt der Tramp das Geld und gibt es im Saloon aus. Der Film endet in einem Chaos, in das der Landstreicher, ein hübsches Mädchen, der Bettler, zwei Parkpolizisten, der alte Mann und der Neffe des alten Mannes verwickelt sind.

Rezension

Der kleine Tramp war aber 1914 noch nicht der süße kleine Tramp, den wir vor allem in Europa kennen, weil Chaplins frühe Filme hier nicht sehr bekannt sind. Selbst Arte hat sich in einer zweiteiligen Werkschau, die der Erforschung seiner ersten Jahre gewidmet waren, auf die zweite und die dritte seiner Stationen beschränkt, auf Essanay (1915) und Mutual (hauptsächlich 1916 und 1917). Das „Keystone-Projekt“, das alle oder die meisten seiner Filme aus dem Jahr 1914 zeigt, existiert unseres Wissens nicht. Aber es ist, siehe oben, sehr wichtig, wenn man Chaplin verstehen will, auch diese Filme zu sichten. Diese Ansicht erschließt sich aus der folgenden Analyse.

Analyse: Besonderheiten des Films

„His New Profession“ ist ein bemerkenswert vielschichtiger Einakter aus Chaplins Keystone-Periode, der sich durch seine improvisierten Elemente und die Verwendung von Außenaufnahmen in Venice und Ocean Park, Kalifornien, auszeichnet. Der Film zeigt den Tramp als Pfleger eines rollstuhlfahrenden alten Mannes (gespielt von Jess Dandy), der „aufgrund von Gicht in seinem Stuhl sitzt“ (*für mich sah es aus, als hätte er ein gebrochenes Bein). Besonders auffallend ist die komplexe Handlungsstruktur für einen Kurzfilm dieser Zeit: Charlie wird von einem jungen Mann (Charley Chase) angeheuert, sich um seinen Onkel zu kümmern, während er Zeit mit seiner Freundin verbringt.famousclowns+3

Die bemerkenswerteste Szene zeigt Charlie, wie er ein Bettlerschild und eine Spendenbox von einem schlafenden, offenbar einarmigen Mann stiehlt und beides dem schlafenden Onkel auf den Schoß legt, um sich Geld für Alkohol zu beschaffen. Diese Szene wird heute als eine von Chaplins „niedrigsten Handlungen auf der Leinwand“ betrachtet.chaplinfilmbyfilm.wordpress+3

Stellung des Films im Werk des Regisseurs

Von mir in die Analyse eingefügte Anmerkungen und Passagen sind mit * gekennzeichnet.

„His New Profession“ wurde am 31. August 1914 veröffentlicht und stellt einen wichtigen Baustein in Chaplins früher Karriere dar. Der Film ist ein typisches Beispiel für seine Keystone-Periode, in der Chaplin noch die härteren, grausameren Aspekte des Tramp-Charakters erforschte. Mack Sennett bemerkte später, dass „es lange dauerte, bevor er Grausamkeit, Gemeinheit, Verrat, Diebstahl und Lüsternheit als Haupteigenschaften des Landstreichers aufgab“.wikipedia+2

Der Film zeigt Chaplins wachsende Kontrolle über das Material und seine Entwicklung als Regisseur – er führte bereits bei diesem frühen Werk selbst Regie und schrieb das Drehbuch. Dies war Teil seines schnellen Aufstiegs bei Keystone, „wo er innerhalb eines Jahres von einem unbekannten Vaudeville-Künstler zu Amerikas berühmtestem Komödienstern wurde“.popmatters+2 *Ob er wirklich im August 1914 schon der Berühmteste war, lässt sich vermutlich nicht so leicht erkunden, bei Keystone arbeiteten zum Beispiel die bereits etablierte Mabel Normand und deren häufiger Filmpartner Roscoe „Fatty“ Arbuckle sehr erfolgreich, mit beiden, in mindestens einem Film auch mit beiden zusammen, hat Chaplin in seinem ersten Jahr gedreht.

„Firsts“ und Innovationen

Technisch gesehen war „His New Profession“ bemerkenswert für seine Verwendung ungewöhnlicher Kameraperspektiven. Besonders auffallend ist die Eröffnungsaufnahme in einer mittleren Nahaufnahme, die selbst nach heutigen Standards noch überraschend und gewagt erscheint und für 1914 und das konservative Genre der Slapstick-Komödie revolutionär war.letterboxd

*Hier hatte ich in der Tat mehrere gesichtete Kopien verglichen, um festzustellen, ob man nicht eine Ausschnittsvergrößerung gewählt hatte, die sich dann wohl auch durch den ganzen Film durchgezogen hätte. Das war aber nicht der Fall. In der Wikipedia wird der Film mit einer Spieldauer von 16 Minuten angegeben. Die längste Version, die ich gefunden hatte, dauerte 13:30, mein Tipp ist, falls es nicht zu kompletteren Varianten kommt, sich diese anzuschauen, denn in der ebenfalls vorhandenen zwei Minuten kürzeren Ausgabe ist  zum Beispiel nicht das „leicht bekleidete Mädchen“ zu sehen, das wir als allererstes Bild sehen – ein Covergirl der berüchtigten „Police Gazette“. Diese Lektüre des Tramps deutet nach meiner Meinung bereits an, dass hier die niedrige Gesinnung herausgestellt werden soll, die dem Tramp, den wir später schätzen und lieben gelernt haben, ziemlich fremd war. Chaplin hatte sich zunächst in der Tat als einer der mental härtesten Komiker profiliert, was natürlich in einem aufsehenerregen Kontrast zu der Underdog-Figur steht, die er spielt, und zu seiner zierlichen Statur. Dieser Kontrast trug Chaplin noch vor der Erfindung des Tramp-Pathos vermutlich Aufmerksamkeit über sein Können als Slapstick-Artist hinaus ein.

Der Film zeigt auch Chaplins frühes Interesse an der „National Police Gazette“, einer berüchtigten illustrierten Skandal-Zeitschrift, die in späteren Filmen wie „The Kid“ (1921) und „Limelight“ (1952) wieder auftauchen würde. Dies deutet auf Chaplins Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Details und seine Fähigkeit hin, wiederkehrende Motive in seinem Werk zu etablieren.charliechaplin+1 *Siehe dazu meine obigen Anmerkungen zur Bedeutung der Lektüre.

Ton und Atmosphäre des Films

Der Film ist geprägt von einem außergewöhnlich harten, ja grausamen Ton, selbst für Keystone-Standards. Charlie wird als skrupelloser Opportunist dargestellt, der nicht davor zurückschreckt, Behinderte auszubeuten oder zu misshandeln. Die Komödie entsteht hauptsächlich durch körperliche Gewalt und die systematische Demütigung des rollstuhlfahrenden Onkels.imdb+2

Gleichzeitig zeigt der Film eine gewisse „gleichmäßige Grausamkeit“: Charlie erleidet selbst mehrere Stürze, insbesondere als er in zerbrochene Eier tritt und sich die Hose beschmutzt, was er anschließend auf dem Gras abwischen muss. Diese ausgleichende Gerechtigkeit mildert etwas die Härte der Behandlung des behinderten Charakters ab.apocalypselaterfilm+1 *Die Eier-Szene ist leider in der von mir letztlich gesichteten Kopie oder Datei nicht enthalten, und damit auch nicht die Brechung oder auch die Moral, die diese Figur äußerlich so beschmutzt zeigt, wie sie innerlich verdorben ist. Ich komme noch einmal auf Gicht oder Beinbruch zurück: Es spielt durchaus eine Rolle, ob der Onkel eine Behinderung hat oder „nur“ von einem Unfall genesen und deshalb im Rollstuhl sitzen soll. Physiotherapie und Reha gab es damals sicher noch nicht im heutigen Sinne, und wer an die frische Luft wollte, der erholte sich von einem Beinbruch wohl am besten durch spazieren fahren im Rollstuhl. Die Relevanz ist, dass der Tramp insofern nur ausnutzen würde, dass ein Mann, der sozial weit über ihm steht, durch den Unfall hilflos und dem Underdog ausgeliefert ist, während ein Mensch mit Behinderung, der lebenslang an den Rollstuhl gefesselt ist, per se damals wie leider auch heute noch ein Diskriminierungsopfer erster Kategorie darstellt und daher die Herausstellung dieser Tatsache im Film, auch in einer Slapstick-Komödie, vollkommen unangemessen ist. Unangemessen ist hier sowieso vieles, das wird sich auch auf unsere Bewertung des Films auswirken

Zeitgenössische und heutige Rezeption

Die zeitgenössischen Kritiken waren durchweg positiv. „Motion Picture News“ kommentierte: „Charlie Chaplin erscheint in diesem Film und, wie üblich, wann immer er auftritt, ist es von Anfang bis Ende ein Lacher“. Eine Rezension von 1914 beschrieb den Film als „absolut das Lustigste, was die Keystone Company jemals herausgebracht hat“.thefilmediary.wordpress+1

Die moderne Einschätzung ist deutlich kritischer. Heutige Kritiker sehen den Film als historisch wertvoll, aber problematisch in seiner Darstellung von Behinderung. Ein moderner Rezensent bemerkte: „Was den modernen Zuschauer auffällt, ist, wie grausam manche von ihnen sind… ‚The Good for Nothing‘ ist nicht ganz so schlimm in dieser Hinsicht wie etwas wie ‚In the Park‘ (*der 1915 bei Essanay entstand), aber dennoch kam es mir vor, als würde versucht, Lacher auf Kosten der Alten und Behinderten zu bekommen“.imdb+1

*Das kam mir in der Tat auch so vor, und es wäre vielleicht nicht ganz so bedrückend, wenn man sagen könnte, es war einmal, die Zivilisation ist seitdem vorangeschritten. Interessant, zu sehen, wie primitiv die Zuschauer damals auch gewesen sein müssen (ebenso wie die Kritiker), aber nicht mehr relevant. Es ist aber leider relevant. Der Kulturkampf, der in den USA tobt und sich in abgeschwächter Form auch bei uns bereits zeigt, könnte dazu führen, dass Schwächere wieder zu Freiwild werden. Bei Menschen, die sich der Arbeit mit Behinderten verschrieben haben, geht bereits die Sorge um, ob deren Möglichkeiten nicht bald sehr stark eingeschränkt sein werden, alles unter dem Fake-News-Motto, der Sozialstaat sei zu teuer. Moderne Verfassungen wie das Grundgesetz sind viel elastischer nach rechts, als man noch vor wenigen Jahren geglaubt hätte, wenn sie quasi entkernt und von der Exekutive und der Legislative nicht vor dieser Zerstörung ihrer Substanz geschützt werden.

Technische Besonderheiten

Neben der bereits erwähnten innovativen Kameraführung zeigt der Film Chaplins wachsende Sensibilität für Choreographie und räumliche Komposition. Die Pier-Szenen sind besonders gut komponiert und nutzen die natürliche Umgebung von Venice Beach effektiv.chaplinfilmbyfilm.wordpress

Der Film demonstriert auch Chaplins Verständnis für die Wichtigkeit von Requisiten: der Rollstuhl wird nicht nur als Hilfsmittel, sondern als zentrales komödiantisches Element eingesetzt. Die Verwendung der „National Police Gazette“ als wiederkehrendes visuelles Element zeigt Chaplins Aufmerksamkeit für Details, die seine späteren Werke charakterisieren würden.charliechaplin+3

*Einige Szenen wirken in der Tat so, als seien sie von außerhalb des Piers (aber von wo aus?) gefilmt worden. Da die Kamera auf gleicher Höhe steht, müsste man eine sehr hohe Leiter verwendet haben oder ein Nachbar-Pier, das dann allerdings recht dicht an dem gezeigten stehen würde. Die grafische Wirkung dieser Aufnahmen von der Seite, in denen zum Beispiel der Rollstuhl mit dem Onkel darin zwei Mal bis an den Rand fährt, aber zum Glück nicht noch ins Wasser gekippt wird, Das wirkt aus einer solchen Perspektive sehr spannend. Natürlich fällt ein Polizist vom Pier, das musste in damaligen Slapstick-Komödien, die am nassen Element angesiedelt waren, einfach sein. Dabei muss man sich immer vorstellen, dass viele Menschen seinerzeit nicht schwimmen konnten. Auch bei dem Thema erleben wir eine wirklich unfassbare Rückwärtsentwicklung in genau diese Richtung. Was wir schon zuvor sehen: Warum es für die Beweglichkeit von Rollstühlen so wichtig war, dass sie so konstruiert werden konnten, dass nicht mehr ein kleineres, hinteres Stützrad zu ihrer Stabilität erforderlich ist. Damit bleibt man auch an der kleinsten Barriere hängen, zumal, wenn man sich aus dem Stuhl heraus selbst fortbewegt.

Umgang mit Menschen mit Handicap (nicht zwangsläufig mit Behinderung)

Die Darstellung von Behinderung in „His New Profession“ ist aus heutiger Sicht höchst problematisch und spiegelt die Einstellungen der frühen Kinematographie wider. Der Film behandelt den rollstuhlfahrenden Onkel hauptsächlich als Requisit für körperliche Komödie, nicht als vollwertigen Menschen.inclusionlondon+3

Diese Darstellung fügt sich in das ein, was Filmwissenschaftler als die erste Periode der Behindertenrepräsentation im Kino identifiziert haben (vor dem Zweiten Weltkrieg), in der Behinderungen als „freakish“ dargestellt wurden. Ein Drittel aller Filme vor 1919 enthielt behinderte Charaktere, hauptsächlich wegen der visuellen Anziehungskraft des „Andersseins“ in Stummfilmen.inclusionlondon

*Ich kann mich nicht an einen weiteren Film mit einem Menschen mit Behinderung aus der Zeit erinnern, daher hat mich diese Aussage wirklich überrascht. Ich bin auf jeden Fall gegenüber sinnvollen Formen von Inklusion positiv eingestellt, was noch einmal etwas anderes ist als Distanz von verbaler Diskriminierung, aber diese Zahl halte ich für zu hoch gegriffen. Es sei denn, man hätte aus kulturtechnischen Gründen einen Großteil der Filme, die „Behindertenrepräsentation, 1 Periode des Films“ zeigten, aus dem Verkehr gezogen. Das glauben wir aber nicht, denn einige frühe Filmkünstler sind uns noch mit einem Großteil ihres Werks zugänglich, Charles Chaplin sogar vollständig, und bei ihm ist die Quote von „Repräsentation“ viel niedriger, ebenso wie bei Arbuckle / Keaton, die wir bereits gesichtet haben, und ich gehe davon aus, dass in Dramen, in ernsten Filmen, die Quote ohnehin niedriger ist als in Slapstick-Komödien, in denen leider billige Lacher mit dieser Repräsentation erzeugt werden sollten und wohl auch erzeugt wurden

Interessant ist jedoch, dass der Film auch den falschen Bettler entlarvt – der einarmige Mann entpuppt sich als Betrüger, der seine vermeintliche Behinderung nur vorgetäuscht hat. Dies deutet auf ein komplexeres Verständnis von Behinderung und Betrug hin, als es die oberflächliche Handlung zunächst vermuten lässt.famousclowns+1

*Ob dieses Verständnis wirklich so komplex ist, wage ich zu bezweifeln. Das kommt tatsächlich in alten Filme nicht so selten vor: Ein Bettler entpuppt sich als Schwindler. Auch dem kann ich nichts Positives abgewinnen, weil es suggeriert, dass Menschen, die andere um Geld angehen, in Wirklichkeit  Gauner sind und sogar Betrüger, wenn sie ein Handicap vorspiegeln. Auch die Abgerissenheit, die viele Menschen als Bettler zeigen, wäre dann bei vielen etwas wie eine Verkleidung zu Täuschungszwecken. Das nächste Thema, bei dem wir erschreckende Tendenzen sehen, nämlich, wie häufige man jeden Tag angebettelt wird, wenn man in einer Berliner U-Bahn unterwegs ist. Das stumpft ab und diese Abstumpfung ist politisches Kalkül, denn die Menschen sind wirklich arm und devastiert, das zeigt sich an ihrem Gepräge jenseits der Bekleidung. Ganz klar gibt es für diese „Enttarnung“ des vorgeblich Einarmigen in „His New Profession“  einen gesonderten Punktabzug von uns. Man könnte die gesamte amerikanische Ideologie jetzt daran aufhängen, die vorspiegelt, dass jeder es nach oben schaffen kann, wenn er nur will und die bei uns in den Zeiten des Neoliberalismus den Weg frei gemacht hat für die Verachtung aller, die aus irgendwelchen Gründen im Daseinskampf nicht perfekt funktionieren.

Entwicklung von Chaplins Tramp-Figur

„His New Profession“ zeigt den Tramp in einer noch sehr frühen, harten Entwicklungsphase. Der Charakter ist weit entfernt von der sympathischen, pathetischen Figur, die Chaplin später entwickeln würde. Stattdessen ist er opportunistisch, grausam und ausschließlich an seinem eigenen Vorteil interessiert.chaplinfilmbyfilm.wordpress+3

*Kritiker, die zum Beispiel Buster Keaton über Chaplin stellen, müssten den frühen Tramp eigentlich mögen, denn er war noch nicht „sentimental“. Keaton war aber auch nicht „gemein“, auch nicht in seinen frühen Filmen mit Arbuckle und Al St. John, diese Charakterzüge zeigten eher die beiden anderen Komiker, sondern „neutral“. Es passiert ihm einfach, und er geht damit proaktiv um, er ist nicht rachsüchtig, wie manchmal Chaplins früher Trampfigur, er inszeniert keine Boshaftigkeit.

Diese Version des Tramps erinnert noch stark an die Varieté-Traditionen, aus denen Chaplin kam, insbesondere seine Arbeit mit Fred Karno. Der Charakter zeigt bereits einige der ikonischen körperlichen Bewegungen – die Art, wie er um Ecken biegt, sein Zucken mit den Schultern, das Bedecken des Mundes beim Lachen.charliechaplin+1

*Oder das kurze Grüßen mit dem Abnehmen der Melone, das anfangs zu sehen ist und das man hier als entschuldigend, einführend oder auch frech oder alles in einem interpretieren kann. Die Gesten und die Mimik sind bei Chaplin hier in der Tat bereits vielschichtiger als die Handlung.

Chaplin selbst beschrieb den Charakter zu dieser Zeit als „vielschichtig, ein Landstreicher, ein Gentleman, ein Poet, ein Träumer, ein einsamer Kerl, immer voller Hoffnung auf Romantik und Abenteuer… jedoch ist er nicht darüber erhaben, Zigarettenstummel aufzusammeln oder einem Baby seine Süßigkeiten zu rauben“.charliechaplin

*Chaplin selbst hat bekanntlich in seiner Autobiografie ziemlich vom Leder gezogen, man darf nicht alles so glauben, auch wenn viel Autosuggestion dabei gewesen sein mag; der Tramp in diesem frühen Stadium zeigt auch mehr von Chaplins durchaus aggressiven Anteilen seines Narzissmus als die spätere, veredelte Version, die nur geliebt werden will und diese Prägung in die vielleicht beste Publikumsmanipulation bis heute umsetzt. Den Begriff „Manipulation“ ist in diesem Fall neutral zu bewerten, denn erstens manipuliert jeder Film, besonders der Hollywoodfilm, jede Kommunikation tut es, und es muss nicht immer zum Schlechten sein. Es geht um den Willen zur Beeinflussung und um Beeinflussbarkeit, wir alle sind von beidem nicht frei.

Die Transformation zu einer sympathischeren Figur würde erst in späteren Filmen wie „The Tramp“ (April 1915) erfolgen, der als besonderer Wendepunkt in seiner Entwicklung betrachtet wird. „His New Profession“ dokumentiert somit eine wichtige Übergangsphase, in der Chaplin noch die Grenzen seines Charakters austestete und die balance zwischen Grausamkeit und Sympathie suchte, die seine späteren Meisterwerke prägen würde.wikipedia

Finale

„His New Profession“ zu sichten, war wieder sehr erhellend, und ich halte fest, dass die Suche nach dem Tramp der Herzen auch nach 26 Filmen nicht zum Erfolg geführt hat. Ich gehe tatsächlich mittlerweile davon aus, dass Ansätze dazu erst 1915 bei Essanay stattfanden. Was Mack Sennett sagte, stimmt vermutlich, aber die Art, wie bei Keystone Komödie gemacht wurde und dass Chaplin, so gut er als Regisseur schon war, im System bleiben musste, hat auch damit zu tun, dass man bei Keystone vermutlich nicht die Absicht hatte, es wohl auch nicht zugelassen hätte, Menschen zu Tränen zu rühren. Das war mit dem damaligen Verständnis einer zünftigen Komödie noch nicht vereinbar, und es ist Chaplins wohl größtes Verdienst, diese Grenze zwischen Gag und Gefühl gesprengt zu haben. Spätere Tragikomödien fußen im Grunde auf diesem Ansatz, den Chaplin als erster Komiker entwickelt hatte.

Technisch hat der Film auch Mängel. Zumindest in der von uns gesehenen Version stimmt eindeutig die Continuity spätestens bei den Szenen auf dem Pier nicht mehr, zum Beispiel sehen wir den Polizisten kurz nach seinem – eben doch eher! – Sprung ins Wasser kurz darauf wieder mit trockener Kleidung auf dem Pier, auch sonst geht es ziemlich durcheinander. Das Publikum wird es geliebt haben und sah es damals noch nicht als Schwäche an, dass Absurdität auch durch mangelhafte Schnitttechnik und Szenengestaltung verursacht oder gesteigert wurde. Später sollte sich Chaplin mit den eher mäßigen Aspekten der visuellen Gestaltung seiner Werke den Ruf einhandeln, nicht nur konservativ zu filmen, sondern auch nicht sehr filmisch – anders als wiederum Keaton, dessen Filme so gerne als Kontrastmittel gespritzt werden, wenn etwas generell zu Chaplin-lastig wirkt. Deswegen schauen wir uns die Filme beider Komiker auch in einem relativ engen zeitlichen Rahmen, teilweise alternierend, an, und arbeiten an den Werkschauen für die beiden gleichzeitig.

Wenn es um Filme von 1914 geht, ist der Vergleich allerdings unzulässig, denn Keaton begann erst drei Jahre später mit dem Kino machen.

Nun zur Bewertung. Bei Keaton gab es das schon, nun haben wir es auch bei Chaplin: Dass wir einen Film aus kulturellen Gründen abwerten müssen. Er wäre ohne diese Abwertung bei etwa 55/100 herausgekommen, als einer von wenigen demnach niedriger, als gegenwärtig die Durchschnittsbewertung der IMDb-Nutzer:innen ausfällt (5,9/10). Wir schauen lieber nicht in die Rezensionen, vermutlich steht wieder darin, dass man nicht so viel Aufhebens um die Diskriminierung benachteiligter Menschen oder von wem auch immer machen soll. In dem Keaton-Film „Out West“, der eine wirklich unmögliche Szene mit einem Afroamerikaner enthält, der den Bullet Dance machen muss, war die deswegen erfolgte Abwertung besonders schade, weil der Film technisch ein Meilenstein in Keatons Werk ist, und die Darstellung wird heute auch weit überwiegend als ein No-Go angesehen. „His New Profession“ wäre aber auch bei sanfterer oder korrekterer Machart kein Meisterwerk. Allerdings müssen wir noch einmal darauf zurückkommen, dass beide Rollstuhlfahrer ja keine Menschen mit Behinderung sind, nach unserer Auffassung. Bei dem einen könnte das „strafmildernd“ wirken, auch wenn Chaplin mit seinen Stockschlägen riskiert, dass das verletzte Bein des Onkels weitere Schäden davonträgt, bei dem anderen sogar erschwerend, weil ein Bettler mit Behinderung als Scharlatan gezeigt wird. Insgesamt ziehen wir 20 Punkte ab.

35/100 und damit die mit Abstand niedrigste Bewertung eines Chaplin-Films bisher.

2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke / Analyse mit Einsatz von KI erstellt

Regie Charlie Chaplin
Produzent Mack Sennett
Hauptrollen Charlie Chaplin
Charley Chase
Cecile Arnold
Harry McCoy
Roscoe Arbuckle
Minta Durfee
Charles Murray
Jess Dandy
  1. https://famousclowns.org/charlie-chaplin/short-films/his-new-profession/
  2. https://chaplinfilmbyfilm.wordpress.com/2014/08/31/his-new-profession-31-august-1914/
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  4. https://www.charliechaplin.com/en/films/keystones
  5. https://www.apocalypselaterfilm.com/2014/08/his-new-profession-1914.html
  6. https://travsd.wordpress.com/2015/08/31/charlie-chaplin-in-his-new-profession-2/
  7. https://www.charliechaplin.com/en/articles/212-Chaplin-at-Keystone-The-Tramp-is-Born?category=filming
  8. https://www.popmatters.com/134579-tramping-step-by-step-2496101408.html
  9. https://letterboxd.com/film/his-new-profession/
  10. https://www.charliechaplin.com/en/films/70-his-new-profession
  11. https://www.imdb.com/de/title/tt0004101/reviews/?featured=rw5244010
  12. https://www.imdb.com/title/tt0004101/reviews/
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  14. https://www.inclusionlondon.org.uk/wp-content/uploads/2015/05/The-portrayal-of-disabled-people-in-moving-image-media-has-been-persistently-distorted.pdf
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  16. https://chaplinfilmbyfilm.wordpress.com/2014/11/09/his-trysting-places-9-november-1914/
  17. https://en.wikipedia.org/wiki/Charlie_Chaplin
  18. https://en.wikipedia.org/wiki/Charlie_Chaplin_filmography
  19. https://www.youtube.com/watch?v=k8_zACkvwvI
  20. https://www.chaplin-at-keystone.com/en
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  24. https://digital-disability.com/home/Darke/publications/disability-movies/early-silent-film
  25. https://deeprootsmag.org/2014/01/19/charlie-chaplin-on-filmmaking/
  26. https://vaultofhistory.com/charlie-chaplin/
  27. http://su.diva-portal.org/smash/get/diva2:189727/FULLTEXT01
  28. https://monacovoice.com/en/article/celebrating-charlie-chaplin-a-genius-of-cinema-and-his-enduring-legacy
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  31. https://www.activeminds.com/topics/Charlie_Chaplin.html
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  36. https://www.youtube.com/watch?v=S-sO1_B5DrI
  37. https://chaplinfilmbyfilm.wordpress.com/2014/04/04/the-star-boarder-4-april-1914/
  38. https://flex.flinders.edu.au/file/c05b1ccc-1c69-4130-86f9-740d198c27e9/1/RozengartenThesis2020_LibraryCopy.pdf
  39. https://letterboxd.com/film/cruel-cruel-love/

[1] Sein neuer Beruf – Wikipedia, die deutsche Wikipedia hat keinen Eintrag zu diesem Film, wegen der Originaltitel haben wir auch das englischsprachige Originaltext hier übernommen. „Zu gut für nichts“, die automatische deutsche Übersetzung, trifft es nicht genau, es müsste dem Sinn entsprechend heißen: „Zu nichts zu gebrauchen“. „Sein neuer Beruf“ ist zwar exakt, aber es gibt für diesen Film keinen deutschen Verleihtitel.


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