Filmfest 1380 Cinema – Werkschau Buster Keaton (23)
Die Ziege (Originaltitel: The Goat; Alternativtitel: Buster Keaton wird steckbrieflich gesucht) ist eine US-amerikanische Kurzfilm–Slapstick–Komödie aus dem Jahr 1921 mit Buster Keaton in der Hauptrolle des Sündenbocks (engl. Scapegoat), der auch gemeinsam mit Malcolm St. Clair für Drehbuch und Regie verantwortlich war.
Wir hatten den ganzen Film über darauf gehofft, dass eine Ziege auftaucht – aber nichts dergleichen. Selbst, wenn man den Originaltitel „The Goat“ so liest, dass damit „The Scapegoat“ („Der Sündenbock“) gemeint ist, bleibt alles recht abstrakt, denn Buster Keaton ist hier kein Sündenbock, sondern ein klassischer Zufalls-Antiheld, der am Ende das Mädchen kriegt. Auch hier finden wir den umschreibenden und eindeutigen Titel „Buster wird steckbrieflich gesucht“, den der Film in Deutschland erhielt, als er hier 1925 aufgeführt wurde, zumindest für die hiesige Verwendung griffiger.
Handlung (1)
Mittellos schlendert Buster Keaton die Straße entlang. Zufällig schaut er durch ein vergittertes Fenster in ein Polizeigebäude hinein, wo er den Gefangenen „Totschuss-Dan“ sehen kann, von dem gerade ein Kriminalkarteifoto gemacht werden soll. Als der Kameramann kurz wegschaut, duckt sich Totschuss-Dan beiseite, betätigt den Auslöser der Kamera und schießt ein Foto von dem hinter ihm stehenden Buster, ohne dass dies von jemandem bemerkt wird. Kurz darauf flieht Totschuss-Dan aus der Gefangenschaft. Auf den später herausgegebenen Fahndungsplakaten wird Buster an seiner statt abgebildet. Nichtsahnend schlendert Buster weiter durch die Stadt. Er beobachtet einen Mann, der ein Hufeisen findet, es aufhebt, es sich, um Glück zu bekommen, über die Schulter wirft und kurz darauf eine gefüllte Brieftasche findet. Buster sucht das Hufeisen und tut es dem Mann nach, trifft aber einen Polizisten am Kopf. Auf der Flucht vor dem Verfolger und seinen Kollegen steht er einer Frau bei, die einen Streit mit einem Mann hat, wirft den Mann nieder und entkommt schließlich mit dem Zug aus der Stadt.
In einer anderen Stadt angekommen, sieht Buster sein Bild überall in den Zeitungen und auf den Fahndungsplakaten für Totschuss-Dan und glaubt, er habe den niedergeworfenen Mann getötet. Er trifft auf den ihn misstrauisch beäugenden Polizeichef, der etwas später Ziel eines Mordanschlags wird. Der Täter scheitert, drückt Buster die rauchende Pistole in die Hand und sucht das Weite, woraufhin Buster abermals verfolgt wird. Entronnen, begegnet er der Frau, der er beigestanden hatte und wird von ihr zum Abendessen eingeladen. Bei ihr zu Hause trifft er dann auf ihren Vater, der der Polizeichef ist. Der Vater jagt Buster durch den gesamten Wohnkomplex, doch Buster kann wieder entkommen und macht sich zusammen mit der Tochter des Polizeichefs davon.
Rezension
Der Film ist unabhängig von seinem Titel hübsch gemacht und zusammen mit „Flitterwochen im Fertighaus“ derjenige in der aktuellen Serie unserer Keaton-Sichtungen, der uns am besten gefallen hat.
Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung 2025: Mittlerweile haben wir u. a. „Wasser hat keine Balken“ (77/100) höher bewertet, der seinerzeit nicht in der Arte-Werkschau enthalten war, welche die Grundlage der Rezensionen aus dem Jahr 2019 bildet. Möglicherweise kommen weitere Filme hinzu, die eine höhere Bewertung als die für „The Goat“ erhalten werden.
Er ist nicht ganz so furios wie „One Week“ („Flitterwochen im Fertighaus“), aber er hat die bisher beste Storyline. Die Szenenübergänge sind zwar teilweise abrupt, aber es fehlt kein verbindendes Element und vor allem funktioniert die Geschichte als Ganzes. Es ist auch dieses Mal kein Fehler, dass sie uns sehr vertraut vorkommt. Sie wirkt nämlich ziemlich chaplinesk. Ein armer Mann steht um Brot an, irrt sich bezüglich der in der Schlange vor ihm Stehenden – und kommt zu spät, als er den Irrtum bemerkt. Der Schalter ist zu. Rums. Ob Chaplin auch diese Sache passiert wäre, dass er Kleiderpuppen für Menschen hält und sich daher nicht vom Ende der Schlange wegbewegt, ist eine andere Frage, denn der legte in Filmen wie „A dog’s Life“, an den „The Goat“ stellenweise erinnert, bereits viel Wert darauf, das soziale Opfer zu sein und nicht im Wesentlichen durch eigene Tollpatschigkeit in eine schwierige Lage zu kommen. Die schwierige Lage ist eine einzige Verfolgungsjagd, in der Buster vor einer sich stets vergrößernden Zahl von Polizisten wegrennt, die in der zweiten Hälfte des Films durch ein Duell zwischen Keaton und einem Sheriff abgelöst wird, der wiederum von Keatons Lieblingspartner Joe Roberts gespielt wird, der zwei Köpfe größer und doppelt so schwer ist wie Keaton. Solche Unterschiede faszinieren die Menschen, ungleiche Paare aller Art. Das ist komisch, weil der Mensch zum Mittelding tendiert und das Mittelding als normal empfindet, und je größer die Abweichung, als desto ulkiger nimmt er eine Person oder einen Gegenstand wahr.
Einen wunderbar surrealistischen Effekt bringt Keaton dadurch in den Film, dass er zwar eine auch nicht unbedingt neuartige Lift-Verfolgung zeigt, aber den Stockwerke-Anzeiger wie einen Betriebshebel verwendet: Der Lift tut, das, was man auf diesem Anzeiger einstellt, inklusive das Dach durchbrechen und den Polizisten in hohem Bogen an die Luft setzen. Die Geschwindigkeit der Gags ist hoch, das Timing passt trotz der immer noch relativ harten Schnitte. Der Film wirkt im Ganzen runder als der ein Jahr später entstandende „Der Hufschmied“, den wir zuletzt rezensiert haben. Dass man Keaton „Stoneface“ nannte, finden wir allerdings mehr und mehr unpassend. Die in Deutschland übliche Umschreibung „Der Mann, der niemals lacht“ trifft es viel besser. Keaton zeigt in den Filmen dieser Phase nämlich durchaus eine bewegte Mimik, häufig reißt er die Augen weit auf, lässt die Pupillen schweifen, zeigt einen erstaunten, entsetzen Ausdruck – Sein Mund weitet sich lediglich niemals zu einem Grinsen oder gar einem Lachen, bei dem man die Zähne sieht. Ganz anders als bei Chaplin, der mit seinem verlegenen Grinsen, bei dem er die Hand so an den Mund führt, dass sie zur Faust werden und die Zähne verdecken, den verlegenen Charme zu einer Kunstform kultiviert hat.
Mittlerweile haben wir auch die Filme aus Keatons Anfangszeit, der „Arbuckle-Keaton-Kooperation“, gesichtet. In einigen dieser Filme hat Keaton sogar ein ausgesprochen bewegtes mimisches Leben und wirkt generell noch nicht versteinert. Sein Markenzeichen war damals noch nicht das ungerührte Gesicht, sondern seine akrobatischen Fähigkeiten und die Begabung, diese für präzise ausgeführte physische Aktion einzusetzen, standen im Vordergrund.
Abzüglich des Lachenst ist damit aber auch Keatons Stoizismus nicht so ausgeprägt, wie man es ihnm gerne andichtet – in der Form, dass er mit unbewegter Mine durch alle Fährnisse des Lebens geht und damit eine Art von existenzialistischer Ikone werden könnte. Zumindest bei den Filmen bis 1921, 1922, die wir jetzt gesehen haben, ist das nicht so. Damit entfällt allerdings auch der zeitgenössische Vorwurf, er sei im Ausdruck zu statisch, der dann bei seiner Wiederentdeckung zu einer distanzierten oder fatalistischen Haltung den Dingen des Lebens gegenüber umgedeutet wurde. Unseres Erachtens liegt die Wahrheit in der Mitte: Keaton hatte zwischen all den bereits berühmten Kollegen eine unverwechselbare Ausdrucksform gefunden.
In „The Goat“ ist seine Komik schon weit entwickelt, was die Ausführung der Gags bzw. des Dauergags angeht, der aus einer Verfolgung durch die Staatsmacht besteht. Einen solchen Standard oder mehrere davon mussten wohl alle Komiker jener Zeit drehen, damit sie als vollständig wahrgenommen wurden, aber Keaton nimmt diese Aufgabe hier hinreichend ernst und von dem Wechsel in „die andere Stadt“ abgesehen gibt es nichts, was man als Bruch bezeichnen kann.
Ausgerechnet die Szene, in welcher er als Verbrecher fotografiert wird , ist etwas knapp ausgeführt und nicht ganz logisch im Ergebnis, aber was sich darauf aufbaut, kann sich sehen lassen. Da der Film erst 1921 entstand, darf man davon ausgehen, dass der soziale Kommentar zu Beginn durchaus einen Reminiszenz an Charles Chaplin ist und Bewunderung für dessen Talent, Menschen mit dem Underdorg-Image zu rühren darstellt – und vielleicht auch eine Ironisierung, die sich im Kleiderpuppen-Gag ausdrückt. Es ist alles nur Fassade, auch der arme Mann.
Die Art, wie Buster dieses Mal in den Schlamassel gerät, lässt ein gewisses Mitgefühl aufkommen, man wünscht ihm, dass er der Polizei entkommt. Doch es bleibt genug Distanz, um vor allem die technische Ausführung und die Geschwindigkeit der Gags zu bewundern und sich nicht zu sehr ins Schicksal des kleinen Mannes mit dem „Pork Pie“ zu vertiefen. Dabei muss man bedenken, dass Keaton nach wie vor 2-Reeler von 22, 23 Minuten drehte, die Charaktere plastisch machen konnten, aber keine Melodramen erzählen wollen. Die Betonung liegt durchaus auf dem Wollen, denn Chaplin konnte es in Sekunden schaffen, beim Publikum Rührung herbeizuzaubern.
Finale
Vielleicht war Keaton auch klar, dass er diese Art von Wirkung nicht hatte und er verzichtete darauf, eine Emotionalisierung bewirken zu wollen, die vielleicht nach hinten losgegangen wäre, nämlich lächerlich und nicht komisch gewirkt hätte. Vielleicht hatte er diese Seite auch sehr wohl drauf, traute sich aber nicht, sie einzusetzen, weil er eine solche Fehlwirkung befürchtete. Die Stelle des Romantikers unter den großen Clowns war nun einmal 1921 längst durch Charles Chaplin besetzt, der in seinen Filmen auch sehr geschickt damit spielte, dass er wohl konnte, was die anderen konnten – aber auch etwas, was ihm niemand nachmachen konnte. Seine Shorts sind daher von sehr unterschiedlicher Tonlage, manchmal vollzog er bis 1916-17 sogar einen Rollenwechsel, indem er einen beschickerten Reichen darstellte, welcher der Tücke des Objekts erliegen musste. Diese Varianz war einzigartig und konnte weder von Keaton noch von anderen Komikern nachgebildet werden.
Was man durchaus sieht, ist, dass Keaton der physischste von allen war. Wie er in „The Goat“ immer wieder hinfällt, das ist schon sehr artistisch und man weiß ja, dass seine Stunt selbst gemacht waren, und zwar ohne wesentliche Tricks. Einen solchen Stunt, der auf einer Master-Idee basiert, wie etwa die umfallende Wand in „Flitterwochen im Fertighaus“, wo er genau im Türausschnitt steht, als sie zu Boden geht und dadurch davor bewahrt wird, erschlagen zu werden, gibt es in „The Goat“ nicht, dafür glänzt der Film eben mit flüssiger, etwas konventionellerer Komik.
74/100
2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2025)
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Buster Keaton, Malcolm St. Clair |
|---|---|
| Drehbuch | Buster Keaton, Malcolm St. Clair |
| Produktion | Joseph M. Schenck |
| Kamera | Elgin Lessley |
| Besetzung | |
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