Filmfest 1383 Cinema
Väter und Söhne, Krieg und Videospiele
Das Vaterspiel ist ein österreichisches Filmdrama des Regisseurs Michael Glawogger aus dem Jahr 2009 nach dem gleichnamigen Roman des österreichischen Schriftstellers Josef Haslinger. Der Film thematisiert einen ödipalen Konflikt in Kombination mit der familiären Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung und verwebt dabei mehrere Handlungsstränge. Charakteristisch für den Film sind zahlreiche zeitliche Sprünge im Handlungsablauf. Die Literaturverfilmung wurde im Jahr 2009 im Rahmen der Berlinale aufgeführt.[1]
Das Vaterspiel (D/A/F 2009) – Filmfest
Der letzte Film des österreichischen Regisseurs Michael Glawogger wurde bei der Berlinale 2017 aufgeführt, „Untitled“, nachdem er in Liberia während der Dreharbeiten verstorben war, der Film wurde postum fertiggestellt. Eine Hommage also, das 2009 mach einem Bestseller-Roman von Josef Haslinger gedrehte „Vaterspiel“ nun fürs Filmfest zu rezensieren?
Handlung
Mimi bittet ihren alten Freund Ratz, nach New York zu kommen, um ihr bei Umbaumaßnahmen zu helfen. Dort angekommen, offenbart Mimi, dass Ratz den Unterschlupf ihres Großonkels im Keller ihres Hauses renovieren soll. Der alte Mann ist ein nationalsozialistischer Kriegsverbrecher, der sich seit 32 Jahren versteckt.
Der Ministersohn und Publizistikstudent Ratz entwickelt ein Computer-Ballerspiel, dessen Inhalt darin besteht, Spielfiguren mit dem Konterfei seines Vaters zu eliminieren. Er wandelt das Spiel in einen Ego-Shooter um und knüpft mit Mimis Hilfe Kontakte. Sein Spiel wird schließlich produziert und zu einem Kassenschlager.
Der jüdische Litauer Jonas Shtrom, gespielt von Ulrich Tukur, wendet sich an die Staatsanwaltschaft. Er schildert anhand seiner persönlichen Erlebnisse die Repressalien, Verfolgungen und Morde an der jüdischen Bevölkerung während der nationalsozialistischen deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Er beschuldigt Mimis Großonkel zahlreicher Verbrechen.
Ratz knüpft langsam Kontakt zu Mimis Großonkel, der ihm seine Erinnerungen erzählt und auch von Jonas Shtrom berichtet.
Gegen Ende des Filmes stirbt Ratz’ Vater. Ratz erscheint zur Beerdigung und trifft sowohl auf seine Schwester als auch auf seine alkoholkranke Mutter.
Rezension
Vielleicht stellt die Ausstrahlung eine Hommage von Das Erste dar, aber reiner Zufall war es auf meiner Seite. Ich hatte einen der selten gewordenen planlosen Fernsehabende, bin schon beim vorherigen Film sozusagen vor dem Bildschirm hängen bzw. auf dem Sofa liegen geblieben und dann begann dieses „Vaterspiel“ und nicht nur der Titel, sondern auch die suggestiven Eingangsbilder mit einer Fahrbahn, mit Stadtansichten von Wien von oben, alles im Schneetreiben, teilweise nachts, die ins Bild eingezogenen Computercodes, das war dieses Mal genug, um mich weiterschauen zu lassen.
Hat es sich gelohnt?
Ich fange erst einmal, wie sich das gehört, mit dem Clustern an, damit sich dieser zunächst so komplex wirkende Film aufteilen lässt. Wir sehen eine zerrüttete Familie, deren Zentrum negativer Energie ein klassischer Vater-Sohn-Konflikt mit einem ödipalen Komplex seitens des Sohnes darstellt. Der Komplex verschiebt sich sozusagen von der Mutter, die er üblicherweise in Bezug nimmt, auf die Schwester, zu der Ratz ein durchaus sexuell determiniertes Verhältnis hat und selbst die zwischenzeitlich illegal beschäftigte Haushaltshilfe kommt als Projektionsfläche nicht ungeschoren davon. Dieses Familiendrama, in dem auch die trunksüchtige Mutter noch eine gewisse Rolle spielt, reicht im Grunde schon für einen Film.
Symbolisiert wird der massive Konflikt in der Familie und mit dem Vater durch ein Computerspiel, das Ratz zunächst auf grafisch sehr einfache Weise entwickelt und das schließlich in 3D zur Verfügung steht und dessen zum Abschuss freigegebene Vaterfiguren sich nicht nur in eine reale Umgebung hineinprojezieren lassen, nein, der Vater aus dem Spiel erscheint Ratz immer wieder außerhalb des eigentlich virtuellen Raumes und verfolgt ihn. Das Spiel ist für die Verhältnisse der Zeit, in welcher die Handlung angesiedelt ist, außergewöhnlich hoch entwickelt, realistisch aber für 2009, als der Film gedreht wurde.
Die Zeitebenen dieses Teils sind die späten 1980er, 1995 und 1999.
Aber daneben steht die Vergangenheit – die Nazis, dieses Mal in Litauen, der Sohn eines von ihnen während der „großen Aktion“ ermordeten jüdischen Intellektuellen, der versucht, die Vergangenheit zu rekonstruieren und sicher ist, dass einer der Hauptbeteiligten an diesem Massenmord, ein ehemaliger Mitschüler, noch am Leben ist. Diese Geschichte spielt sich 1959, 1937 bis 1941 und 1966 ab.
Das klingt, als handele es sich um zwei vollkommen getrennte Erzählstränge.
In der Tat wird keine vollkommene Verknüpfung vorgenommen. Die Erwartungshaltung, die der Zuschauer mit zunehmender Erkenntnis über die Zusammenhänge einnehmen könnte, wird nicht erfüllt. Es ist nicht so, dass Ratz am Ende den untergetauchten Massenmörder ausliefert, um ihn im Alter von 78 Jahren doch noch einer Strafe zuzuführen.
Die Verbindung zwischen den Erzählsträngen ist Mimi, die Großnichte des Verbrechers, die nach dem Tod ihrer Tante entdeckt, dass diese den Mann in einem typischen Vorstadtsiedlungshaus in den USA versteckt hält. 32 Jahre lang, in einem Keller ohne natürliches Licht. Ratz soll nun diesen Keller zu einer echten, annehmbaren Wohnung umbauen, für die kurze restliche Lebenszeit, die Lucas, der Mörder, zu erwarten hat.
Ist dies nun mehr ein Familiendrama oder eine Aufarbeitung der Geschichte?
Eine Besonderheit unserer Identität als Deutsche oder auch Österreicher ist es, dass man beides sehr plakativ miteinander verbinden kann – aber dieses Plakative auch durchbrechen kann, und auf eine visuell und inhaltlich sehr ansprechende Weise tut Glawogger hier beides. In nüchternen, blasshellen Bildern erzählt er auf eine bewusst konservative und wenig filmische Art die Geschichte von Jonas und Lucas und von Jonas‘ Vater, es ist ein Report, gesprochen auf Band einmal vor einem westdeutschen Gericht 1959, dann in New York 1966, nachdem Jonas sicher ist, dass Lucas in die USA geflüchtet ist.
Auf der anderen Seite stehen die suggestiven, teils alptraumhaften Bilder, die das Leben von Ratz bestimmen, der dichte Schnee, die Fahrt durch eine kaum erkennbare Welt zum Flughafen Wien, die immer wieder auftauchende Vaterfigur und dann doch wieder eher realistisch gefilmte Momente wie die handwerkliche Aufarbeitung des Kellers in jenem Haus in der Nähe von Chicago, das nach dem Tod ihrer Tante nun Mimi gehört.
Um die Komplexität der Buchvorlage einigermaßen zu spiegeln, muss der Film Botschaften auf vielen Ebenen transportieren, den Möglichkeiten des Mediums gerecht werden, die über jene des geschriebenen Wortes hinausgehen. Ich weiß nicht, ob im Buch so auffällig wenige Figuren vorkommen wie in der Adaption von Glawogger, denn es hat ja immerhin 600 Seiten, aber das Personaltableau im Film ist nicht nur klein, die wichtigen Figuren wirken auch sehr auf sich bezogen. Ratz und Mimi und auch Lucas haben etwas Egozentrisches, wobei Letzterer mit erschütternder Offenheit am Ende darlegt, dass er seine Ideale nie aufgegeben habe und seine Morde nie bereut hat und es daher bedauert, dass die Geschichte sich gegen die Arier entschieden habe und er sich also nun als quasi die – noch – lebende Leiche, die viele von uns im Keller haben, verstecken muss.
Trotzdem bringt Ratz ihm irgendwann Sympathien entgegen, während er sich handwerklich betätigt. Ich glaube, in dem Zusammenhang darf man das Videospiel nicht außer Acht lassen. Kein Mensch weiß, warum Lucas zum Völkermord beigetragen hat. Vielleicht, weil es in seiner Zeit die Möglichkeit nicht gab, die eigenen Aggressionen gegen alles und jeden und bestimmt auch gegen den eigenen Vater mit Videospielen in eine für andere weniger tödliche Richtung zu lenken. Eine entscheidende Szene ist für mich diejenige, in der Ratz mit dem Spiele-Herausgeber in New York spricht, der ihm sagt, ein Spiel mit Vatermord gehe gar nicht. Man bringe ihm Völkermord, aber Vatermord sei in den USA verpönt und nicht verlegbar. Dieser etabliert wirkende Manager, der den Kot seines Hundes schön in Tütchen aufsammelt und in die Mülltonne gibt, verbalisiert die morbide Doppelmoral, die nicht nur in den USA herrscht, dort aber für heutige Verhältnisse besonders zutage tritt. Ich habe auch noch nicht gelesen, dass einer der vielen durchgedrehten Jugendlichen, die an Schulen für Massaker sorgen, seinen eigenen Vater willentlich umgebracht hat – oder einer jener Soldaten, die in anderen Ländern Zivilisten töten, dies getan hat. Ich kann also den Film so deuten, dass die unbesiegte Gewalt zwischen den Generationen sogar der Antrieb für alle Gewalt in der Welt ist, die im Genozid, im Holocaust der Nazis lediglich eine besonders barbarische Ausformung gefunden hat.
Das würde aber die Singularität des Holocausts relativieren.
Der Film stellt gerade die „große Aktion“ heraus, nicht etwa ein Kriegsverbrechen an einer einzelnen Familie in der Ukraine oder in Russland, greift also ein zwar weniger bekanntes, aber monströses Ereignis heraus, das schon deshalb schockierend wirkt, weil wir davon in der Regel wenig wissen als vom Warschauer Ghetto, von den Vernichtungslagern, von Oradour oder Barbyn Jar. Ich glaube gerade nicht, dass in irgendeiner Form relativiert wird, nur, weil die Botschaft etwas Universelles hat. Er tut das auch nicht, obwohl seit dem Zweiten Weltkrieg schon wieder mehr Menschen in Kriegen und anderen bewaffneten Konflikten umgekommen sind als während des Zweiten Weltkrieges, das waren immerhin nur knapp sechs Jahre, inzwischen sind 70 vergangen, sodass herzlose Statistiker behaupten können, es ginge nun in unseren Tagen vergleichsweise friedlich zu.
„Vaterspiel“ versucht vielleicht auch, verständlich zu machen, warum zur Zeit seiner Entstehung die Generation von Ratz so seltsam apolitisch war und ihre Dämonen mit sich selbst ausgetragen hat – indem sie alles von sich abprallen lässt wie Mimi, die sinnbildlich keine Haare hat, an der nichts haftet, wie eine Kritik es interpretiert hat, oder, indem sie, wie Ratz, ihre Wut privatisiert. Wichtig dabei die Szene, als er und Mimi an der Uni an einer Menge protestierender Studenten vorbeilaufen und gar nicht auf diese offen vorgetragene Wut am System reagieren, die jene Kommilitonen per Megafon kundtun. Selbst die Tatsache, dass der eigene Großvater im KZ Dachau war, kann Ratz später nicht dazu bringen, Lucas komplett zu verachten.
Möglicherweise deshalb, weil zwischen dem lieben, alten Opa, dem österreichischen Ur-Sozialdemokraten, und Ratz, der Vater steht, ein Beispiel für den modernen Politiker, der mit kleinen Skandalen die eigene politische Überzeugung verrät, der seinerseits durch die Macht des Schicksals, die sein eigener Vater mit sich trägt und die vielleicht weniger altersweise und versöhnlich dem Sohn gegenüber als später dem Enkel gegenüber im Raum stand, zu einem moralisch mittelmäßigen Menschen geworden ist.
Der den Druck nicht aushält, der durch die eigene Familiengeschichte auch auf ihm liegt. Man beachte die Szenen, in denen er das Videospiel seines Sohnes selbst spielt und man nicht weiß, ob er die darin begründete Wut und Verzweiflung zu seinem eigenen Vater oder dem Sohn gegenüber ausgerichtet ist, aber auf jeden Fall auch gegen sich selbst.
Er ist auch nicht das Monster, zu dem ihn sein Sohn aufbaut. 1968 gingen die Studenten, die ihre Väter ablehnten, indem sie das System ablehnten, auf die Straße, eineinhalb Generationen später befassen sie sich mit Videospielen. Die Väter waren in der Regel keine Monster, aber viele auf verschiedene Weise korrumpiert, und junge Menschen, vor allem, wenn sie, wie Ratz, Schwierigkeiten mit dem erwachsen werden haben, neigen zur Verabsolutierung. Das ist normal und Ungerechtigkeitsempfinden und Ohnmacht sind eine Frage, die auch heute in vielen Familien keinesfalls ausgeräumt sind.
Dann gäbe es aber, wäre der Film oder wäre das Buch heute entstanden, einen Zwang, die aktuellen Verhältnisse und Typen zu revidieren?
Weil wir nunmehr durch 40 Jahre Sozialpädagogik in Familien gewaltfreier miteinander kommunizieren und deshalb auch nach außen nicht mehr gewalttätig sein müssen? Die Verbreitung von Computerspielen aller Art, die auf nichts anderes als Vernichtung zielen, lassen mich bei dieser Interpretation vorsichtig sein, zumal nur eine Minderheit ein wirklich ausgewogenes Verhältnis verschiedener Elemente und Spielarten der Kommunikation und des Umgangs miteinander hinbekommt und so Friktionen mindern kann, die zu Autoaggression, zu Übertragungen oder zu Mord in allen Formen führen kann. Außerdem schafft die gegenwärtige soziale Wirklichkeit millionenfach neue Opfer, die nur noch von sich und ihrer unerträglichen Realität abgespalten überleben können und die sich dann, wenn sie die Chance dazu verspüren, zum Beispiel politisch so äußern, dass sie rechtsradikal und menschenfeindlich wählen.
Die heutige Gewalt besteht auch aus extremem Leistungs- und Konkurrenzdruck, Vieles, was früher auf dem Schlachtfeld ausgetragen wurde oder an wehrlosen Zivilisten, findet heute im ökonomischen und sozialen Bereich statt. Es ist frappierend, wie zum Beispiel die einstigen Steinewerfer gegen das Establishment, die jene Steine am liebsten ihren Vätern an den Kopf geschmissen hätten, heute der Ansicht sind, es ginge gerecht zu, obwohl seit ihrer Jugendzeit die sozialen Spannungen erheblich angewachsen sind.
Es ist also nichts gelöst, der Film bleibt aktuell.
Er ist gerade mal acht Jahre alt und bezieht sich auf eine Zeit vor etwa 20 Jahren. Sein Stil ist auch nicht auf Lösung und Affirmation angelegt, er lässt die Zustände bestehen. Am Ende stirbt zwar der Vater, begeht sogar Selbstmord, eingezwängt in seine eigene, desaströse Familiengeschichte, aber „Game Over“, wie es dann blinkt, bevor abgeblendet wird, könnte auch heißen, dass Ratz nun den Vater in gewisser Weise wirklich umgebracht hat, durch seine Ablehnung, aber auch, dass er nun sein Angriffsziel verloren hat, sein Feindbild. Das würde bedeuten, das Spiel ist aus und eine ernsthafte Befassung mit der Wirklichkeit und der eigenen Geschichte muss beginnen. Vielleicht in der Form, dass Ratz anfängt, wie Jonas, der Sohn eines Holocaust-Opfers, es schon fünfzig Jahre zuvor versucht hat. Indem er ruhig und forschend versucht, die Vergangenheit zu entschlüsseln und dabei immer mit Menschen reden muss, deren Haltung er nicht kennt.
72/100
2025, 2017 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Michael Glawogger |
|---|---|
| Drehbuch | Michael Glawogger Josef Haslinger |
| Produktion | Erich Lackner Peter Wirtensohn |
| Musik | Olga Neuwirth |
| Kamera | Attila Boa |
| Schnitt | Vessela Martschewski |
| Besetzung | |
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