Filmfest 1397 Cinema
Ohne Ohr keine Rebellion, ohne Psychose kein Genie
Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft (englisch Lust for Life) ist ein Spielfilm des Regisseurs Vincente Minnelli nach dem gleichnamigen Roman von Irving Stone, gedreht 1955 in den USA, den Niederlanden und in Belgien, über die tragische Existenz des niederländischen Malers Vincent van Gogh (1853–1890).
„Als viertes Werk in unserer Reihe mit Filmen des amerikanischen Schauspielers Kirk Douglas, der mittlerweile sein 100. Lebensjahr erreicht hat, zeigen wir nun „Lust for Life“, in dem der Mann mit den borstigen rotblonden Haaren Vincent van Gogh verkörpert und der als eine von Douglas‘ besten Arbeiten gilt.“ Das war unsere Einleitung aus dem Jahr 2017, als die Rezension für ein Zwischenblog zwischen dem „ersten“ und dem „zweiten“ Wahlberliner geschrieben wurde. Mittlerweile haben wir viel mehr Filme mit Kirk Douglas besprochen,
Handlung (1)
Vincent van Gogh wird als Laienprediger in ein einsames Bergwerkdorf geschickt. Ein Bergwerkunglück, das Tote und Verletzte fordert, sowie die Ignoranz seiner Vorgesetzten, die die Würde seines Postens darin verletzt sehen, dass er seine Habe mit den Armen teilt, bringen seinen Gottesglauben ins Wanken. Zugleich keimen in ihm Neigungen, zu zeichnen und dabei die normalen Menschen bei ihrer Arbeit auf dem Feld darzustellen. Nachdem seine Cousine, die seit einem Jahr Witwe ist, sein leidenschaftliches Liebeswerben verschmäht, lernt er in einer Kneipe Christine kennen; beide werden ein Paar.
Van Gogh entscheidet sich nun auch zum Malen. Nach wenigen Monaten besteht die Ehe zu Christine aus Streit, da er sich nur der Malerei widmet und kaum Geld für Essen da ist. Christine trennt sich von ihm; zur gleichen Zeit erleidet sein Vater einen Schlaganfall und stirbt.
In Paris zeigt sich van Gogh von den Werken der französischen Impressionisten beeindruckt. Gleichzeitig äußert er Erstaunen über Maler, die meinen, nach wissenschaftlichen Formeln malen zu müssen. Doch auch nach sechs Monaten Aufenthalt in Paris schafft es sein als Kunsthändler tätiger Bruder Theo nicht, die Bilder des Malerneulings Vincent van Gogh zu verkaufen, zumal dieser durch seine offene Art potentielle Kunden abschreckt.
Nachdem van Gogh Paul Gauguin kennengelernt hat, verlässt er die Wohnung seines Bruders und zieht in die südfranzösische Stadt Arles. Als er dort die Möglichkeit nutzt, in ein eigenes Haus zu ziehen, malt er mit immer größerer Leidenschaft und träumt davon, eine Künstlerkolonie zu gründen. Van Gogh ist überaus erfreut, als Gauguin zu ihm zieht; die beiden werden Freunde. Doch zwischen den beiden Männern entwickeln sich immer größer werdende Differenzen, die sich vor allem in ihren unterschiedlichen Einstellungen zur Malerei äußern. Als Gauguin auszieht, bekommt van Gogh Furcht vor der Einsamkeit; in einem Anfall von Wahnsinn schneidet er sich ein Ohr ab.
Auf eigenen Wunsch wird van Gogh in die Psychiatrie eingeliefert. Nach einer stetigen Phase der Besserung erleidet er einen überraschenden Rückfall, wird aber trotzdem aus der Psychiatrie entlassen und zieht zu seinem Bruder Theo und dessen Familie. Theo kann ihm die freudige Nachricht mitteilen, dass er eines von Vincents Bildern verkaufen konnte. Nach einem weiteren Kreativitätsschub meldet sich jedoch seine seelische Verzweiflung wieder; Vincent unternimmt einen Suizidversuch, an dessen Folgen er stirbt.
Rezension
Wenn man „Vincent van Gogh – ein Leben in Leidenschaft“ (in der Folge: „Van Gogh“ abgekürzt) gesehen hat und es zuvor nicht wusste: Genie und Wahnsinn können nicht ohne einander. Je wahnsinniger jemand wird, desto genialer seine Kunst. Schade, dass man ein wenig vergessen hat anzudeuten, dass beides wohl miteinander gehen kann, aber nicht muss.
Es gibt Wahnsinnige ohne jedes Talent und Genies, die weder Soziopathen noch Neurotiker sind. Selbst unter den exzentrischen Malern war Vincent van Gogh ohnehin ein Sonderfall, die meisten Künstler seiner Zeit und seiner Schule – im Großen betrachtet der Impressionismus bzw. der Post-Impressionismus – wurden recht alt. Wir haben ohnehin den Verdacht, dass das Malen Menschen besser altern lässt als zum Beispiel das Schreiben oder das Musik machen.
Dass MGM sich Mitte der 1950er ausnahmsweise an ein neues Thema gewagt hat, anstatt Stoffe, an denen man ohnehin die Rechte hatte und die in der Glanzzeit des Studios schon einmal verfilmt wurden, in Form einer Farbversion zu recyceln, ist beinahe ungewöhnlich, denn kein anderes Studio war zu der Zeit so konservativ. Und dann noch das Leben eines Malers verfilmen, der eine der extravagantesten Künstlerpersönlichkeiten war, die man sich denken konnte? Und dann noch einen Musical-Regisseur an diese Sache setzen?
Die Idee war eine gute. Vincente Minnelli war eben nicht nur der Mann, der „An American in Paris“ inszeniert hat und andere MGM-Musicals, besonders solche mit seiner damaligen Frau Judy Garland, sondern er war auch der Maler unter den Hollywood-Regisseuren. Sein Gefühl für Farben und Formen ist legendär und zeigt sich in der fantastischen Ausstattung der von ihm gedrehten Musicals sehr gut, auf deren Gestaltung er einen erheblichen Einfluss hatte. Man rechnet dieses Feingefühl fürs Optische u. a. seiner vermuteten Homosexualität bzw. Bisexualität zu. Ob es stimmt oder nicht, dass Homosexuelle ein überdurchschnittliches Feeling für Ästhetik haben, müssen wir an dieser Stelle nicht diskutieren. Für uns ist es kein Zufall, dass der letzte Film, den Minnelli vor „Van Gogh“ gedreht hatte, eine Verfilmung des Broadway-Stückes „Tea and Smpathy“ war, in dem es um die Schwierigkeiten eines möglicherweise homosexuellen Jungen auf dem College geht (1).
Gewiss hatte Minnelli auch einen intellektuellen Zugang zur Kunst, ebenso wie einen emotionalen, besonders zur Malerei. Es gibt Elemente seines Filmstils, die uns in den ernsten Werken manchmal etwas zu viel des Guten sind, weshalb wir die flamboyanten Musical-Komödien mehr schätzen (wie etwa „The Pirate“ aus 1948, der übrigens ein besonders gutes Beispiel für Minnelli großartiges Auge für Farb- und Formdetails ist, auch „Gigi“ (1958), für den er den Regie-Oscar erhielt, ist ein Beispiel für die exquisite künstlerische Ader von Minelli – in diesem Film sind, wie auch in „Ein Amerikaner in Paris“, dort vor allem im Ballett, einige Szenen direkt an Genrebilder großer Maler angelehnt).
Für Minnelli war es nach unserer Ansicht leichter als für beinahe jeden anderen Hollywood-Regisseur, sich in die Bilderwelt eines so ungewöhnlichen Menschen wie Van Gogh einzufühlen, und sollte die Zuschreibung Homosexualität beim Regisseur wahr sein, dann wäre bei Minnelli eine weitere Parallele zu Van Gogh in seine Identität eingewebt: Die des Außenseiters. Bei dem holländischen Maler tritt sie sehr offen zutage, aber sie kann sich auch daraus ergeben, dass sie nur gefühlt ist und nur darin besteht, dass man seine wahren Neigungen verbergen muss.
Minnellis Film wurde für einige Oscars nominiert, Anthony Quinn gewann als bester Nebendarsteller in seiner Rolle als Paul Gauguin, Kirk Douglas war für die beste Hauptrolle nominiert, verlor aber gegen Yul Brynner in „Der König und ich“. Da wir Letzteren Film noch nicht gesehen haben, können wir nicht vergleichen, aber die Darstellung von Kirk Douglas ist fantastisch. Fantastisch in dem Sinn, wie damals eben Kino gemacht wurde – ohne Ironisierungen, ohne Distanz im Drama.
Die 1950er waren der Höhepunkt des klassischen Melodrams, gesteuert von einer pathetischen Grundstimmung, dem zunehmenden Einfluss des fürs Theater entwickelten Method Acting auf den Film, zu dessen Vertretern neben Marlon Brando und James Dean auch Paul Newman und Kirk Douglas gehörten, und der Absicht der Regisseure und Studios, anspruchsvollere Filme zu machen als je zuvor.
So konnte es nicht ausbleiben, dass auch „Van Gogh“ zu den psychologisierenden Filmen zu rechnen ist, die damals das Feld der ernsten Filme beherrschten, zudem ist er – knapp – dem damals ebenfalls sehr populären Genre Epos zuzurechnen, was seine Länge und die umfasste Zeit im Leben des Künstlers Vincent van Gogh angeht. Man hatte keine Scheu mehr vor langen, aufwendigen, manchmal auch gewagten Filmen. Allerdings kamen die gewagteren, siehe oben, selten von MGM.
Wenn es sich nun aber um psychologisierendes Kino handelt, ist klar, dass alles, was den Künstler und Menschen van Gogh ausmacht, sich aus etwas herleiten muss, das wir sehen und erfassen können. Das heißt: Aus seiner Biografie. Der Tatsache, dass er als Prediger versagt, weil er darin dem Vater nacheifern will, der ihn ablehnt, dass er alles versucht, sich zu integrieren, dabei aber schon im Ansatz scheitert, dass er entsetzlich unter seiner Außenseiterstellung leidet, auch in den Künstlerkreisen, denen er sich annähert, dass er irgendwann versteht, dass in dieser Außenseiterstellung seine Kraft und seine Bestimmung liegt.
Da ist es aber schon fast zu spät: Ein psychisches Leiden hat Besitz von ihm ergriffen und verstärkt sich zusehends.
Ob die zunehmend außergewöhnliche Farbgebung in Van Goghs Bildern und seine Eigenart, die Pinselführung wellenförmig und sogar drehend anzulegen, tatsächlich mit seinem geistigen Zustand in Zusammenhang standen, was der Film suggeriert, ist vielleicht zu kurz gegriffen, schmälert aber nich deren Originalität. Außerdem wird er, via Gauguin, als Feind etwa des Pointilismus instrumentalisiert, was er nicht war. Der Gegensatz zwischen der strengen, wenn auch pseudowissenschaftlichen Schule um Seurat und van Goghs Gefühlsmalerei wird künstlich hergestellt und geht entweder auf die Romanbiografie zurück, die dem Film als Vorlage geht – oder ist sogar ein persönliches Statement von Regisseur Vincente Minnelli.
Gelobt wurde von der Kritik das relativ nahe Verweilen an den historischen Fakten, das „Van Gogh“ auszeichnet – und wer sich bewusst ist, wie frei Hollywood oft mit der Historie umgeht, ohne die Zuschauer wenigstens darauf hinzuweisen, der kann dieses Kompliment nicht hoch genug einschätzen. So sehen wir unter anderem, dass Van Gogh niemals im Leben wirklich allein war – mit sich selbst, ja, aber nicht materiell dem Verfall preisgegeben, denn Bruder Theo hat ihn stets unterstützt, und auch, was ebenso wichtig ist, weitgehend verstanden, an ihn geglaubt, ihm immer wieder Mittel zur Verfügung gestellt. Es wäre viel dramatischer gewesen, die Rolle des auffangenden Bruders künstlich kleinzuschreiben. Dieser Trost bleibt dem Zuschauer beim Miterleben mit Vincent immer, dass er einen Menschen hat, an den er sich in der Not wenden kann.
Ein wunderbarer Film in dem Sinn, wie zum Beispiel die gleichzeitig entstandenen Sirk-Melodramen, ist „Lust for Life“ nicht, auch wenn der Stil Ähnlichkeiten aufweist, inklusive der großartigen Farbgebung. Hier geht es um ein Leben, das es wirklich gab, zum anderen gibt es kein Happy-End. Der frühe Tod von Van Gogh, welcher der Kunstwelt vieles vorenthalten hat, ist nun wegzudiskutieren und wird in etwa so gezeigt, wie es damals – Production Code, siehe oben – zulässig war. Die Szene des Ohr-Abschneidens gehört auch bei Einhaltung des Codes zu den schockierendsten Filmmomenten der damaligen Zeit.
Sie ist sogar schockierender als alles, was damals die Leinwandrebellen zeigten, die gerade in Mode gekommen waren. „Lust for Live“ wird heute u. a. als Rebellionsfilm gesehen, der ähnlich tendiert wie „A Streetcar Named Desire“ mit Marlon Brando als proletarischem Aufreger oder wie „Rebel Without a Cause“ mit James Dean, der ein Jahr zuvor entstanden war und einen heftigen Hype auslöste. Kirk Douglas war aber kein Teenie-Schwarm, wie die Hauptdarsteller in den anderen Filmen, sondern hatte seine Karriere dem Spielen von zwielichtigen Typen im Film noir begonnen („Out of the Past“, 1947). Außerdem handelt es sich hier um einen historischen Stoff, der nicht in der Gegenwart spielt, sodass die Parallelen nicht sofort erkennbar sind – wenn es sie tatsächlich gibt.
In Jungen Jahren ist der Mann, der den Glauben nicht von der Kanzel predigen, sondern erfahren und erfahrbar machen will, sicher eine Art Rebell. Seine Haltung ist der Attitüde der offiziellen Kirche entgegengesetzt, und hätte sich nicht ein Mann auf dem Priesterseminar besonders für ihn eingesetzt, wäre er nicht bis zu jener Bergbauwelt gekommen, die so weit weg ist von seinem inneren Ich, das sich nach Sonne und Farben sehnt, wie der Film im weiteren Verlauf erläutern wird.
Hier wird nicht, wie in vielen amerikanischen Bio-Pics, gezeigt, wie in Typ von Beginn an weiß, was seine Bestimmung ist, sich an den äußeren Umständen aufreibt, was sich natürlich im Verlauf des Films ändert – sondern er ist wirklich ein Suchender. Um das klarzustellen, hat man das belgische Kapitel seines Lebens in den Film aufgenommen.
Von dem Moment aber, als er malt und malt und sich zunehmend absondert, ist er kein Rebell mehr, sondern ein Mann auf schmalem Grat, der sich nicht bewusst gegen die Gesellschaft stellt. Er ist einfach anders und muss daher anders leben, denken und arbeiten als die anderen. Dass es keine Rückkehr in die Gemeinschaft im Hollywood-Sinn gibt, ist lange Zeit nicht einmal klar – wenn man nicht die Biografie von van Gogh kennt, versteht sich. Jederzeit könnte sich alles zum Guten wendet und daraus bezieht der Film unter anderem seine Spannung: Wird die Lust am Leben und an der Arbeit siegen oder der Wahnsinn?
Finale
Wir sind keine Van Gogh-Spezialisten. Vielleicht mit einem Kunst-Bildband einlesen, der nicht zu speziell ist und uns einen Überblick verschafft, wie wir das mit einigen anderen Künstlern, Schulen, Stilrichtungen im Lauf der letzten Jahre auch getan haben. Es geht um Grundwissen, nicht darum, einen Maler bis in Winkel hinein auszuloten, die selbst unter Fachleuten in mancher Hinsicht nicht klar definiert sind.
Der Film jedenfalls repräsentiert den Stil seiner Zeit, hat viele sehr ehrenwerte Ansätze und einen Hauptdarsteller, der die Rolle ohne Weiteres tragen kann. Ob es, wie vielfach geschrieben wird, die beste Leistung seines Leben ist? Das wollen wir hier nicht entscheiden, obwohl wir mittlerweile viele Kirk Douglas-Filme kennen.
81/100
2025, 2017 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Vincente Minnelli |
|---|---|
| Drehbuch | |
| Produktion | John Houseman |
| Musik | Miklós Rózsa |
| Kamera | |
| Schnitt | Adrienne Fazan |
| Besetzung | |
|
|
(1) Wie beim Regisseur selbst wird auch hier diese Eigenschaft nicht ganz klar – und das war dem Hays Code geschuldet, der 1955 noch intakt war und strikte Festlegungen bezüglich Moral, Geschlechterthemen etc. beinhaltete. Gemessen am Code ist „Van Gogh“ übrigens ein recht offensiver Film.
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