Die zwölf Geschworenen (Twelve Angry Men, USA 1957) #Filmfest 1398 #Top250 #DGR #EOF

Filmfest 1398 – Concept IMDb Top 250 of All Time (206) – Die große Rezensiion – Essay on Film

Die zwölf Geschworenen (englisch 12 Angry Men ‚12 wütende Männer‘) ist das Spielfilmdebüt des US-amerikanischen Regisseurs Sidney Lumet aus dem Jahr 1957. Der Gerichtsfilm im Stil eines Kammerspiels ist eine Kinoadaption des gleichnamigen Fernsehspiels von Reginald Rose, das am 20. September 1954 ebenfalls unter der Regie Lumets im Rahmen der Fernsehserie Studio One ausgestrahlt wurde.

Die zwölf Geschworenen“ (im Original: „Twelve Angry Men“) steht gegenwärtig auf Platz 6 der besten Filme alle Zeiten gemäß IMDb-Top-250-Liste (2025: Rang 5). Wie oft muss man ihn anschauen, um über ihn schreiben zu können?

Das hängt vom Rezensenten ab. Ich musste mir jetzt erstmalig das amerikanische Original anschauen, um dafür reif zu sein, nachdem ich mindestens fünfmal die deutsche Fassung gesichtet habe. Das Problem war immer, wie gehe ich mit den Geschworenen um? Die prägnanten Originalstimmen haben mir den Weg gewiesen: Ich werde über jeden der zwölf Geschworenen  schreiben. Nun hat die Wikipedia das auch schon getan, wie sie ja überhaupt immer mehr ins Geschäft der Kritiker eingreift, deswegen werde ich so frei sein, mich dieser Charakterisierungen zu bedienen und etwas eigenes beizufügen. Aber es gibt mehr, das den Film insgesamt betrifft.

Handlung (1)

Nach sechs Verhandlungstagen eines Mordprozesses, in dem ein achtzehnjähriger Puerto-Ricaner aus den Slums des Mordes an seinem Vater beschuldigt wird, ziehen sich die zwölf Geschworenen in das Geschworenenzimmer des Gerichts zurück. Hier sollen sie über das Urteil beraten, das einstimmig gefällt werden muss. Dem Angeklagten droht im Falle des Schuldspruchs die Hinrichtung durch den elektrischen Stuhl. Aufgrund zweier eindeutiger Zeugenaussagen scheint der Schuldspruch eine klare Angelegenheit zu sein, die keine lange Beratung erfordert. Doch in der ersten Abstimmung stimmt der Geschworene Nr. 8 als einziger der zwölf Geschworenen für nicht schuldig, während die elf anderen mehr oder weniger überzeugt für eine Verurteilung des jungen Mannes stimmen.

Der Geschworene Nr. 8 kann nicht sagen, ob der Angeklagte unschuldig ist − er kann aber auch keine eindeutige Schuld beim mutmaßlichen Mörder erkennen und will nicht durch ein vorschnelles Urteil ein Menschenleben leichtfertig opfern. Einige Geschworene hingegen sind aus unterschiedlichen Motiven an einer raschen Beendigung der Beratung interessiert und drängen deshalb auf einen schnellen Schuldspruch, nicht zuletzt da der Tag laut Wettervorhersage der heißeste des ganzen Jahres sein soll und die schwüle Atmosphäre für zusätzliche Spannung sorgt. Gegen den Protest der anderen rekonstruiert im weiteren Verlauf der Beratung der Geschworene Nr. 8 – zunehmend unterstützt von denjenigen, die sich nach und nach auf seine Seite schlagen – den angeblichen Tathergang und deckt Ungereimtheiten in der Beweisführung der Staatsanwaltschaft auf, die vom offenbar wenig engagierten Pflichtverteidiger des Angeklagten nicht hinterfragt worden sind.

Es gelingt dem Geschworenen Nr. 8 in hitzigen Auseinandersetzungen, die Argumente und die Vorurteile der Mitgeschworenen zu entkräften und sie wegen begründeter Zweifel vom Schuldspruch abzubringen. Als auch die zweite belastende Zeugenaussage sowie weitere Indizien infrage gestellt werden müssen, steht das Votum elf zu eins für „unschuldig“. Der aufbrausende Geschworene Nr. 3 ist der Letzte, der den Schuldspruch des Angeklagten aufrechterhält. Es wird offenbar, dass er befangen ist, da er sich mit seinem Sohn zerstritten und keinen Kontakt mehr zu ihm hat und nun seinen Hass auf den Angeklagten projiziert. Letztlich schließt er sich der Meinung der elf anderen Geschworenen an und votiert auch für einen Freispruch des Angeklagten.

 Rezension / Essay

Hat der Film seinen gegenwärtigen Platz 5 auf der IMDb-Liste verdient? Von allen klassischen Filmen steht er dabei am höchsten.

Uneingeschränkt: ja. Ich bin aber auch nicht erstaunt darüber, dass er bei den Oscars für Filme aus 1957 leer ausging und in den drei Kategorien, in denen er nominiert war (bester Film, bestes Drehbuch, beste männliche Hauptrolle: Henry Fonda) gegen „Die Brücke am Kwai“ verlor, den ich für den Wahlberliner bereits rezensiert habe. Aus damaliger Sicht sind die Nominierungen für „Die zwölf Geschworenen“ schone eine Menge.

Dieses einfach gehaltene, in Schwarz-Weiß gefilmte Gerichtsdrama mit seiner vollen Konzentration auf Dialog und Psyche der Geschworenen ist für damals ein ungewöhnlicher Film gewesen, gedreht von Sidney Lumet, und es war dessen erster Kinofilm nach vorheriger Fernseharbeit. David Lean, der „Die Brücke am Kwai“ gedreht hat, war zu dem Zeitpunkt schon eine bekannte Größe,  auch wenn er nun erstmals einen solchen Kriegsfilm inszenierte.

„Die zwölf Geschworenen“ hingegen belegt, dass man mit kleinen Mitteln große Effekte erzielen kann. Dieser enge, heiße, zunehmend verräucherte Raum, in den sich die Geschworenen zur Beratung zurückziehen, ist genau der Platz, an dem alle im Lauf einer zunehmend emotionalen und genervten Diskussion blank ziehen können. Hinzu kommt noch die symbolische Wetterlage. Erst ist es mächtig schwül, auf dem Höhepunkt der Handlung gießt es draußen wie aus Eimern und blitzt und donnert, am Ende ist die Luft gereinigt und die verschwitzten Hemden einiger Geschworener trocknen allmählich. Der einzige Raum, der während der eigentlichen Handlung ebenfalls sichtbar ist, ist der Waschraum, dahinter die Toiletten, die aber in einem noch unter dem Hays Code gedrehten Film nicht sichtbar sein dürfen und nichts zur Sache beitragen.

In der deutschen Fassung gibt es eine wichtige Sequenz nicht. Nämlich jene, in der das verzweifelte Gesicht des jungen Angeklagten zu sehen ist, ebenso wie die Einführung, den schweifenden Blick der Kamera durch die Halle des Gerichtsgebäudes und auf die Menschen, die sich dort gerade aufhalten. Ich finde die Idee, die Szene, die den Jungen zeigt, wegzulassen. Ich mag das Herumschnippeln an ausländischen Filmen, das deutsche Verleiher gerne vornahmen und immer noch vornehmen, ganz und gar nicht. Dadurch aber, dass man das Gesicht des Jungen nicht sieht und sich ihn nicht bildlich vorstellen kann, entfällt ein starker Eindruck, der bereits entsteht, bevor die Geschworenen zusammenkommen – und damit die Parteinahme zugunsten des verzweifelten Jungen aus armen Verhältnissen.

Dass das AFI, das American Film Institute hatte „Die zwölf Geschworenen“ 1997 nicht einmal in die erste Ausgabe seiner Liste der hundert besten amerikanischen Filme aufgenommen, bei der nächsten Version 2007 nur auf Platz 86 eingeordnet. Zwar ist „Birth of a Nation“, dieser Meilenstein-Film zugunsten von „Intolerance“ wegen seines gewaltigen Rassismus rausgeflogen, aber auf mich wirkt es, als sei „Die zwölf Geschworenen“ den AFI-Leuten vielleicht ein wenig zu liberal gewesen. Dabei ist wohl unbestritten, dass auch er ein Meilenstein-Film ist, der weitere Gerichtsdramen nach sich gezogen und den sozial engagierten Film der späten 1950er und frühen 1960er maßgeblich beeinflusst hat. In der AFI-Liste der zehn besten Gerichtsdramen steht er seit 2007auf Platz 2 hinter „Wer die Nachtigall stört“. 2016 hatte ich angemerkt, dass ich erstaunlicherweise diesen Film noch nicht kenne, 2025 kann ich ein klares Urteil abgeben: Insgesamt geben sich die beiden Filme für mich nicht viel, ich mag den Humanismus in dem Film, in dem Gregory Peck einen Anwalt spielt, der einen Afroamerikaner verteidigt, der unter Mordverdacht steht. Er hat atemberuabende Momente. Aber „Nachtigall“ ist auch ein Sozialdrama, als purer, absoluter Gerichtsfilm ist „Die zwölf Geschworenen“ stärker.

Die zwölf Geschworenen“ ist vielleicht nicht der beste Film aller Zeiten und es gab Zeiten, da war ich durchaus der Ansicht, das könnte er sein, aber er ist sehr besonders und sehr packend, auf einer rein menschlichen, aber auch auf argumentativer Ebene. Perfekt ist er nicht. Nach dem perfekten Film suche ich immer noch, aber er kommt dicht an die besten Werke heran, die ich bisher gesehen habe. Er wird keine 10/10 erhalten. Bei Filmen wie diesem empfiehlt es sich, die wenigen Schwächen gezielt herauszuarbeiten, um die Verweigerung der maximalen Punktzahl zu begründen. Die maximale Punktzahl hat im Jahr 2025 und nach knapp 1400 Rezensionen, die im neuen Wahlberliner seit 2018 als „Filmfest“ erschienen sind, noch immer kein Film erhalten. Inofern ist „Die zwölf Geschworenen“ immer noch sehr weit vorne.

Um meine Wertung noch einmal zu überprüfen, mache ich bei sehr bekannten Filmen oft Folgendes: Ich schaue in die IMDb-Nutzerwertungen, nicht in die professionellen Kritiken, weil man diese nicht nach Zustimmung oder Ablehnung sortieren kann, und greife mir die schlechtesten Bewertungen gezielt heraus um zu sehen, ob da etwas drin ist, das meinen eigenen Eindrücken entspricht oder sogar Aspekte enthält, die ich (in diesem Fall nach mindestens sechsmaligem Anschauen) nicht fand, aber für bedenkenswert erachte.

Waren solche Aspekte bei „Die zwölf Geschworenen“ zu finden?

Eines hat mich beeindruckt, weil es auf etwas rekurriert, was mir auf einer mehr beobachtenden Ebene auch aufgefallen ist. Ich finde, je öfter ich mit dem Film zugange bin, dass der Geschworene Nummer 8, der letztlich die Verurteilung des Angeklagten verhindert, von Beginn an einen gewissen Hang zu Manipulation zeigt und sich selbst für den anderen überlegen hält. Wenn man Henry Fondas Mimik genau verfolgt, und er war ja Mitproduzent des Films, stand mit Sicherheit ganz und gar hinter seiner Figur, merkt man so eine gewisse Attitüde, die uns davon kündet, dass er als einziger begriffen hat, worum es überhaupt geht, nämlich um ein Menschenleben.

Er wirkt auf mich auch nicht so sehr wie ein Architekt, den er darstellt, sondern wie ein psychologisch hochgradig geschulter Kommunikationsspezialist, der auf ebenjenem Gebiet der Kommunikationsführung den anderen wirklich haushoch überlegen ist und selbst nach heutigen Maßstäben bestehen kann, was seine Figur ungeheuer progressiv wirken lässt . Dabei spielen seine sachlichen Argumente noch gar keine Rolle, die, korrespondierend mit seiner Art, kleine emotionale Zeichen zu setzen, die besten sind, die man im Raum vorfinden kann. Im Verlauf erhält er Hilfe von anderen Geschworenen, denen dann die Unstimmigkeiten, die sie irgendwo im Hinterkopf hatten, ebenfalls in die Diskussion einbringen, aber am Anfang ist seine Haltung tatsächlich so , dass man als einfacher, nicht akademischer Mensch durchaus in Rage kommen könnte, weil sich hier offensichtlich jemand für etwas Besseres und für besser hält als alle Profis, die im Prozess an der Beweisführung mitgewirkt haben. Hinzu kommt seine Optik. Die großen, wachen Augen, das fein geschnittene Gesicht von Henry Fonda, der helle Leinen-Sommeranzug, man merkt sofort, dass hier die Lichtgestalt dieses Films sitzt.

Und wenn man davon ausgeht, dass ein solches Justizdrama so ausgeht, wie es dieser Gestalt zukommt, ist „Die zwölf Geschorenen“ hochgradig vorhersehbar und die Spannung resultiert nur noch daraus, wie er es nun hinbekommt, in 90 Minuten elf weitere Männer, die teilweise sehr fest anderer Ansicht sind, auf seine Seite zu bekommen, damit nicht der ungünstige Fall eintritt, dass die Geschworenen sich nicht einigen können und eine neue Jury bestimmt werden muss, die dann vermutlich keine Persönlichkeit wie Nr. 8 dabei hätte.

Die IMDb-Nutzeranalyse, die ich dazu gelesen habe und die unter denen, die sie gelesen haben, überwiegend als „nützlich“ eingestuft wurde, was bei negativen Meinungen zu einem hochstehenden Film eher selten vorkommt, versieht meine Beobachtung nun mit einem sozialphilosophisch begründeten Hintergrund.

Dabei nimmt der Nutzer Bezug auf den berühmten oder berüchtigten Geschworenen Nummer 3, der schon recht früh persönliche Motive dafür offenbart, dass er den Angeklagten unbedingt verurteilt sehen will, weil er einen Stellvertreter für den eigenen Sohn abgibt, mit dem der Geschworene Nr. 3 in einem ungelösten Konflikt lebt. Das heißt also, die Person im Raum, die bis zum Schluss gegen den Geschworenen Nr. 8 kämpft, tut es nicht, weil sie von den Argumenten des Gerichts so überzeugt wäre, sondern eben wegen dieses inneren Konflikts, der sich am Ende in einem Zusammenbruch gänzlich offenbart. Geschworener Nr. 10 spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, ein eingefleischter Prolet und Rassist, der anfänglich das Geschehen mit seiner rauen, dominanten Art maßgeblich bestimmt, bis zu der beeindruckenden Szene, in der fast alle anderen aufstehen, sich abwenden, ihm niemand mehr zuhören mag. So sehr wie diese beiden Extreme der anderen Seite als mit Vorurteilen und persönlichen Problemen, die durch den Fall getriggert werden, anzusehen sind, so, das Argument des IMDb-Nutzers, gilt das andererseits aber auch für den Geschworenen Nr. 8, genau in der anderen Richtung.

Dieser nämlich ist nicht nur, wie ich selbst feststellen konnte, der intellektuell am höchsten stehende der zwölf Geschworenen, in deren Gemeinschaft Akademiker ansonsten für die Verhältnisse von New York City auffällig unterrepräsentiert sind, er ist auch Henry Fonda, ist das Medium für Sidney Lumet, und da überlagert sich nun einiges, weil die bezogene Kritik davon ausgeht, dass bei Nr. 8 ebenfalls nicht die Ratio, sondern das liberale Gefühl für den Unterprivlegierten den Ausschlag dafür gegeben hat, dass er versucht, ihn vor den unbedachteren, weniger reflektierten übrigen elf Geschworenen zu schützen. Und seine Ausstrahlung wirkt ja auch am schnellsten auf den direkten Sitznachbarn, den älteren Herrn, der dessen Art sicher als sehr respektvoll und einnehmend empfindet und sich als erster auf dessen Seite stellt, obwohl zu dem Zeitpunkt noch keine Zeugenaussage im Zweifel steht, die für eine Schuld des Angeklagten spricht.

Nun schlägt der Rezensent den Bogen und sagt: So, wie Geschworener Nr. 3 eine persönliche Niederlage gegen seinen Sohn gegen einen ihm Unbekannten rächen will, so, wie der Rassist seine Vorurteile in ein Urteil verwandelt sehen will, so fühlt der Architekt eine Schuld dafür, dass er zu den Privilegierten gehört und fühlt dessen Darsteller noch mehr eine Schuld dafür, dass er zu den Reichen, den Hollywoodstars, zählt, und, wie es Linke an sich haben, damit im Zwiespalt ist. Die Unterscheidung zwischen Figur und Darsteller wird in dieser recht manipulativ verfassten Rezension bewusst in den Hintergrund gestellt, aber die korrespondiert trotzdem mit meiner Beobachtung, dass Nr. 8 jemand ist, der ebenfalls eine Prämisse hat, also nicht neutral und sachlich an den Fall herangeht.

Nur, und da trennt sich mein Weg von dem des IMDb-Rezensenten vorerst: Warum sollte er die nicht haben? Er bedient sich neben seiner Aura ja doch argumentativer Mittel, um seine Meinung wirksam werden zu lassen, und er tut das mehr und hat sich mit dem Fall weit mehr auseinandergesetzt als jeder andere im Raum, wie schon die illegale Beschaffung eines der Tatwaffe gleichen Messers beweist. So viel Mühe hätte sich kein anderer der Geschworenen gemacht, zumal weder das Tragen eines solchen Messers noch dessen Einsatz als eine Art Gegenbeweismittel zulässig sind. Selbstverständlich hat jeder, der in einem solchen Raum sitzt, eine Meinung, es gibt keine absolute Objektivität, wiewohl Geshworener Nr. 4 versucht, diesen Part des gänzlich aufs Argument zielenden Menschen zu spielen, der ganz unbeeinflusst von allen Schwingungen ist, die um ihn herum entstehen und deren Teil er unweigerlich ist, ob er möchte oder nicht. Seine vorgebliche Ruhe in Unbeeinflussbarkeit  ist ein Teil des Szenarios. 

Leider driftet die bezogene IMDb-Kritik dann so ab, dass doch erkennbar wird, was dahintersteckt. Wir können uns eben selten verbergen, wenn wir so dezidiert argumentieren: Er legt Leuten wie Lumet und Fonda nah, für die Armen zu spenden, anstatt einen Schuldigen vor dem Elektrischen Stuhl bewahren zu wollen. Mithin, wir haben Glück gehabt, dass im Film alle umgestimmt werden können und nicht einige besonders konservative IMDb-Nutzer unter den Geschworenen waren. Aber vielleicht hätten sie in der Atmosphäre, die im Beratungraum herrschte, doch anders optiert.

Dass es Menschen gibt, die sich hartnäckig weigern, einen nicht einwandfrei Schuldigen trotzdem töten zu lassen, lässt tief genug blicken, und ich habe einige weitere negative Kommentare gelesen, die mir klar machen, warum ein Typ wie Donald Trump durchaus der nächste Präsident der USA werden könnte.

Hier muss ein Einschub am Tag der Veröffentlichung des Essays im  Jahr 2025 sein. Die Rezension wurde im Sommer 2016 geschrieben, damals galt Trump als Außenseiter gegen die beinahe designierte Obama-Nachfolgerin Hillary Clinton. Ich habe am bisherigen Text inhaltlich nichts geändert. Im Jahr eins der zweiten Trump-Präsidentschaft dachte ich schon vor dem Lesen dieses Absatzes: Der Verfasser dieser Nutzer-Rezension und einige andere könnte gut ein MAGA-Anhänger sein. Aber wie gut das, was nach 2016 kommen sollte, in der obigen Aussage von mir antizipiert ist, macht mich beinahe betroffen. Es ist alles so gekommen wie an dieser Stelle zumindest als möglich benannt. Zurück zum Text aus dem Jahr 2016.

Es gibt ein weiteres Argument, das ich erst einmal beleuchten muss, welches sich mehr oder weniger aus der Unterstellung ergibt, dass hier ein paar Lefties unbedingt ein Beispiel für Demokratie filmen wollten und das nicht nur von der Prämisse zweifelhaft ist, sondern auch in der Ausführung. Es ist evident, dass bei der Beweisführung eine Menge Fehler gemacht wurden, denn was die Geschworenen da innerhalb kürzester Zeit an Mängeln in selbiger aufdecken, ist eklatant. Es ist fantastisch gemacht, rein konstruktiv, aber kann es sein, dass bei einem Prozess auf Leben und Tod so viel übersehen wird? Dass auch der Verteidiger da nicht einhakt? Ja, das ist ein Schwachpunkt des Films, weil so getan wird, als seien alle, die dafür sorgten, dass der junge Puertoricaner nun auf die Hilfe der Geschworenen angewiesen ist, ihren Job lasch ausgeführt haben, von falschen Ideen oder sonstwie fehlgeleitet gewesen. Der Anwalt will ärmliche Zeugen nicht kompromittieren und hat dieses Mandat wohl sowieso nur als Plichtverteidiger übernommen, kann sich dafür weder Ruhm noch viel Geld erhoffen. Der Richter wirkt schon in der zweiten Szene, in der wir auch das Gesicht des Jungen sehen, wie einer, der routinemäßig alles herunterleiert, was den Geschworenen vor deren Beratung zu sagen ist, also wie einer, der den Ausgang der Sache kennt und auch recht schnell zum nächste, hoffentlich für ihn interessanteren Fall übergehen möchte.

Ganz klar, die schlechte Beweisführung, die es dem Geschworenen Nr. 8 erst erlaubt, seine Zweifel immer mehr zur Gewissheit für alle Geschworenen zu machen, ist Voraussetzung für die Handlung und das Ringen um diese begründeten Zweifel. Der Film beruht auf einem Fernsehspiel und ist auch als Stück mehrfach aufgeführt oder adaptiert worden. Mich würde interessieren, ob die Adaptionen auch eine Verlegung in die Zeit ihrer Entstehung mit sich bringen, zum Beispiel die deutsche Bühnenfassung von 2009. Ist dem so, muss bei der Prämisse eine Klippe umschifft werden, die heute alle Krimihandlungen erheblich beeinflusst: Nämlich, dass (in Deutschland seit 1988) die DNA-Analyse schnell zum Vorschein brächte, ob der Sohn den Vater umgebracht hat, auch wenn jemand das Messer gesäubert hat, was dem Sohn ja nicht zugetraut wird, in der emotionalen Sonderlage, in welcher er sich befindet. Es wäre sicher auch DNA des Sohnes zu finden, aber auch eine fremde, und damit wäre kein eindeutiger Nachweis mehr möglich.

So aber stützt sich die Beweisführung auf Zeugen, und die werden von den Geschworenen regelrecht auseinandergenommen. Aber letztendlich muss ich, und das mag ich an dem Film ganz besonders, weil ich auch darin die Manipulation erkenne, eingestehen: Es ist möglich, dass alle diese Beweisführungsfehler vorkommen, vor allem, wenn es sich beim Angeklagten um einen Jungen handelt, dessen Leben viele der mit der Ermittlung und Auswertung Befassten nicht als das denkbar wertvollste ansehen. Und wenn der Zweifel möglich ist und seine Begründung so gut dargestellt wird wie in diesem Film, dann darf ich als Geschworener eben nicht mit „schuldig“ stimmen, wenn ich ein Gewissen habe. Und letztlich haben das alle Geschworenen, dieses Gewissen, wenn es auch sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Und das unterscheidet sie von vielen Menschen in der Realität. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich der nächste zu betrachtende Aspekt des Films, nämlich der des Geschworenen-Systems an sich.

Keine Justizidee ist so faszinierend und lädt zu solch dramatischen Filmen ein wie die der Laienjury, die in einem Mordprozess letztgültig über das Urteil zu befinden hat. Der Richter hingegen hat eher eine moderierende Funktion zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung und steuert den Prozessverlauf. Zwölf honorable Bürger also, da sollte es doch möglich sein, ein gerechtes Urteil zu fällen. Zwölf Apostel der Justizweisheit unter Einschaltung des gesunden Menschenverstandes und alles angesehene Mitglieder der Gesellschaft. Denn selbstverständlich darf niemand in einer Jury tätig sein, der selbst vorbestraft ist.

Man kommt unweigerlich ins Nachdenken. Man hat begründete Zweifel. Und zwar im System mit der „Grand Jury“.  In vielleicht einer von zehn Jurys sitzt ein Mensch wie Geschworener Nr. 8 und kann verhindern, dass jemand wegen eines Fehlurteils stirbt. Hinzu kommt in den USA, dass die Todesstrafe Urteile irreversibel macht, während hierzulande ein Fall noch einmal aufgerollt und für eine auf Fehlern basierende erlittene längere Haftzeit eine Entschädigung gezahlt werden kann. Auch das ist traumatisierend, vor allem, wenn es lange dauert, bis Gerechtigkeit hergestellt wird, aber nicht doch nicht ganz dasselbe, wie als 18jähriger schon hingerichtet zu werden. Ein Jugendstrafrecht, das die Strafe auf Freiheitsstrafe mildern könnte, scheint es auch nicht zu geben. In dem Zusammenhang fällt auf, dass es verwunderlich erscheint, dass von „Murder 1st Degree“ gesprochen wird, innerhalb des Systems der Tötungsdelikte dem deutschen § 211 StGB (Mord) am nächsten steht, denn nach allem, was auch die mangelhafte Beweisführung doch vermuten lässt, handelt es sich bei der Tat des Jungen, falls er sie begangen hat, um eine Affekthandlung gegenüber einem permanent übergriffigen Vater, der ihn aufs Gröbste misshandelt. Und für eine solche wird auch in den USA normalerweise nicht die Todesstrafe verhängt, es würde also eine Tat  innerhalb der Deliktgruppe Homicide vorliegen, die nach unserem Recht mehr auf den § 212 StGB (Totschlag) hinausginge.

Dass dieses Problem im Film nicht so stark hervortritt, liegt auch daran, dass ein Teil des Stücks weggelassen wurde, das noch während der Verhandlung spielt und in der ein psychologisches Gutachten für den Jungen einerseits, in dem er prinzipiell als einer solchen Tat fähig eingestuft wird sowie die rohe und gewalttätige Persönlichkeit des Vaters andererseits zur Sprache kommen, die nach hiesigem Verständnis sogar mildernde Umstände im Totschlagsfall mit sich bringen könnte.

Geschworener Nr. 8 erwähnt diese Persönlichkeit des Vaters, aber es läuft bei genauer Betrachtung doch viel in die Richtung, dass Mord als geplante und / oder besonders grausam ausgeführte und / oder auf besonderen, niedrigen Beweggründen beruhende Tat hier nicht gegeben sind. Ist dem nicht so, entfällt aber die maximale Dramatik, dass es um Leben und Tod geht.

Für mich ist das trotzdem ein toller Film, weil er zum Nachdenken über direkte Demokratie in lebenswichtigen Fragen und über Gruppendynamik anregt, über moralische und objektivierende Argumente, aber er ist, wie oben erwähnt, nicht perfekt.

Nun aber zu den einzelnen Geschworenen, und ich schicke vorweg, dass sie alle im Rahmen des Möglichen sehr gut charakterisiert sind. Aber auch hier eine kleine Einschränkung: Die Verhaltensweisen dieser Männer sind so darauf abgestellt, dass diese für gesellschaftliche Positionen und für bestimmte Menschentypen stehen, dass eine reale Jury nie aus Personen mit so sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen betehen würde. Da es aber ein Film ist und dieser Film einen besonders hohen Verdichtungsgrad aufweist und seine Herkunft vom Theater auch nicht verbergen mag, ist es logischerweise viel spannender, diese Typen zu erkennen, als wenn eine wesentlich mehr homogene Jury zusammensitzen würde, bei der es vermutlich auch keine emotionalen Ausbrüche geben würde, wie wir sie hier einige Male sehen. Und, gewiss, wir sind 60 Jahre weiter, die Kommunikationstechnik hat sich dadurch verändert, dass wir fast alle in der Arbeitswelt häufig in Gruppen kommunizieren, die dem Grundszenario der hier gesehenen Geschworenen-Konferenz entsprechen; wenn man so will, ist nur das Thema dieser Sitzung ein anderes; für den, der das überhaupt noch erkennt, ein wichtigeres als bei einem Routine-Meeting im Job.  

Für mich haben die Wiki-Infos, die in die folgende Einzeldarstellung eingearbeitet sind, noch ein paar zusätzliche Informationen erbracht, insbesondere, weil ich gerade die beiden mit dem Sport verbundenen Geschworenen in der Originalversion stellenweise nicht verstanden habe – und da ging es um deren Persönliches, das sie im Zwiegespräch mit Nr. 8 offenbart haben, nicht um den Fall.

Nr. 1 (Martin Balsam) ist Co-Trainer einer Footballmannschaft aus einer Highschool in Queens und Vorsitzender der Jury. Um Ordnung bemüht, dabei aber manchmal unsicher, versucht er die Diskussion zu leiten. Mit seiner eigenen Meinung zu dem Fall hält er sich jedoch zurück. Als er merkt, dass die Stimmung zugunsten des Angeklagten umkippt, schließt er sich zögernd der neuen Mehrheit an und ist fast peinlich berührt, dass er seine Meinung geändert hat.

Dass er nur Co-Trainer ist, habe ich z. B. nicht herausgehört, aber es ist wichtig, um zu verstehen, dass er in seiner selbst gewählten Moderatorenrolle, zu der er sich als „Nr. 1“ wohl verpflichtet fühlt, nicht so sicher ist wie eine Führungspersönlichkeit, die jeden Tag dirigiert. Er wirkt im Ganzen sympathisch und gewinnt auch eine persönliche Anbindung an Nr. 8, als er diesem während der Gewitterpause von dem Spiel erzählt, das leider in einem entscheidenden Wende-Moment wegen eines ähnlichen Wetters abgebrochen werden musste. Das ist übrigens auch einer der Momente, in denen Nr. 8 sich seinem Gesprächspartner ein wenig mehr zuwenden könnte – oder tut er das nicht, weil er denkt, er könne den Mann damit beeinflussen? Das wäre dann eher zum Schmunzeln, weil zum Vorschein käme, dass man in einer Situation wie dieser nicht auf allen Ebenen analystisch aufgestellt ist.

Nr. 2 (John Fiedler), der freundliche kleine Bankbeamte, ist anfangs sehr unsicher und zugleich aufgeregt, zumal er zum ersten Mal in einer Jury sitzt. Er versucht zu begründen, warum er den Angeklagten für schuldig hält, kann es aber nicht schlüssig erklären. Dennoch nimmt er, wenn auch meist passiv, regen Anteil. Im Laufe der Diskussion taut er mehr und mehr auf, liefert einen wichtigen Beitrag, als es um den Einsatz der Tatwaffe geht, und setzt sich gegen Angriffe zur Wehr.

Schade, dass Banker in der Realität nicht so bescheiden sind. Erklären können sie hingegen viel besser, und die Erklärungen sind oft Quatsch. Aber 1957 standen Banker noch nicht als die Blasen da, als die sie sich mittlerweile erwiesen haben, sondern galten als seriös. Nr. 2 ist aber wohl nicht im Kundenbereich, nicht als Berater tätig. Ich hätte ihn eher für einen Buchhalter genommen, der froh ist, wenn er mit seinen Zahlen arbeiten kann und sich nicht ständig mit anderen Menschen auseinandersetzen muss.

Nr. 3 (Lee J. Cobb), ein grobschlächtiger, aufbrausender Mann, hat sich mit harter Arbeit eine kleine Firma aufgebaut. Seinen Sohn wollte er ebenso mit Härte erziehen. Seit einem handgreiflichen Streit mit diesem haben sie keinen Kontakt mehr. Seine Wut und Enttäuschung über seinen Sohn projiziert er auf den Angeklagten und will ihn dafür verurteilt sehen. Deshalb sieht er in Juror Nr. 8, der von Anfang an Zweifel an der Schuld des Angeklagten hegt, einen Gegner. Als dieser die versteckten Motive von Nr. 3 offenlegt, kommt es zur vehementen Konfrontation, die ihn zum ersten Male in die Defensive drängt. Mehr und mehr bringt er die anderen gegen sich auf, auch weil er sich durch seine impulsive und schroffe Art oft inhaltlich widerspricht. Er ändert seine Meinung erst, als er am Ende allein dasteht und erkennt, dass er aus tiefer Verletzung über den Konflikt mit seinem Sohn beinahe ein Menschenleben geopfert hätte.

Ganz so eindeutig ist das mit der Gegnerschaft nicht. Denn der Mann hat auch einen Sinn für die natürliche Autorität, die Nr. 8 ausstrahlt, ist fasziniert von ihm, geht ihn erst recht spät persönlich an – und noch ziemlich früh im Film, während der ersten Sitzungspause, legt er die Karten quasi auf den Tisch, indem er Nr. 8 von seinem Sohn erzählt und ihm das Foto zeigt, das er am Ende zerreißt. Auch da reagiert Nr. 8 kaum, als wenn er peinlich berührt wäre von diesem schon angedeuteten Geständnis der persönlichen Involvierung von Nr. 3, aber natürlich weiß er in dem Moment schon um den Knackpunkt des Mannes auf der anderen Seite des Tisches. Lee J. Cobb spielt Nr. 3 wirklich toll, trotz des scharfen Bildes, das sich aus dem mehrmaligen Anschauens des Films ergibt. Vielleicht erbringt Cobb die beste Leistung von allen Darstellern.

Nr. 4 (E. G. Marshall) ist als Börsenmakler ein analytisch und objektiv denkender Charakter, der sich keine Emotionen erlaubt und sich stets unter Kontrolle hat. Trotz der schwülen Hitze im Raum schwitzt er zunächst nicht einmal. Disziplinlosigkeit ist ihm zuwider, und er verabscheut die Emotionsausbrüche anderer Geschworener, wie zum Beispiel die von Nr. 3 und Nr. 10, auch wenn er, wie sie, von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist. Er versucht mit sachlichen Argumenten zu überzeugen und genießt eine gewisse Autorität bei den anderen Juroren. Ein bisher übersehenes Detail löst schließlich auch in ihm begründete Zweifel aus, woraufhin er konsequent sein Votum ändert.

Man sieht ihm aber auch zunehmend den Druck an, unter dem er steht, weil er versucht, die Fassade des objektiven Menschen aufrecht zu erhalten, am besten daran, dass er immer mehr raucht und sich sogar eine Zigarette an der letzten ansteckt, bevor er sein Votum ändert. Wir sehen in der Tat jemanden, der sich viel auf seine Analysefähigkeit zugute hält, die ihm täglich im Job hilft, wenn er Börsenvorgänge und Aktien bewertet, der auch nie aus dem Rahmen fällt, aber als er merkt, dass er sich geirrt haben könnte, innerlich auf eine Weise in Not kommt und unruhig wird wie kaum ein anderer der Geschworenen.

Ihm gegenüber muss auch zweimal argumentiert werden, bis er sich überzeugen lässt. Allerdings bringt Nr. 8 im ersten Anlauf ausgerechnet diesem Mann gegenüber eines der schwächsten Argumente an, nämlich das mit dem Kino. Zwar kann sich auch der Makler nicht mehr vier Tage zurück ganz korrekt an einen Filmtitel erinnern und an alle Mitwirkenden, zumal es das B-Feature war, das Nr. 8 von ihm erfragt, aber es ist eben doch ein Unterschied, ob man ein Geschehen ein paar Stunden oder ein paar Tage her ist, zumal bei einem Menschen, dessen Leben von einem gefüllten Terminkalender geprägt ist. Aufgrund des sehr weichen Indizes dafür, dass der angeklagte Junge vielleicht doch im Kino gewesen sein könnte, als die Tat an seinem Vater stattfand, dass er aufgrund seiner Panik bei der Vernehmung den Filmtitel vergessen hat, wäre ich, wäre ich zuvor von der Schuld des Angeklagten überzeugt gewesen, wohl ebenso wenig umgeschwenkt wie Nr. 4.

Nr. 5 (Jack Klugman) ist, wie der Angeklagte, in den New Yorker Slums groß geworden. Er reagiert empfindlich auf Vorurteile, die im Laufe der Diskussion auftauchen. Besonders von Nr. 10, der ihm direkt gegenüber sitzt, fühlt er sich persönlich angegriffen. Nr. 5 gewinnt mehr und mehr Selbstvertrauen und bringt seine Erfahrungen aus den Slums in die Diskussion mit ein. Als es um die Tatwaffe – ein Springmesser – geht, ist er der Einzige, der weiß, wie damit umgegangen wird, und kann zeigen, warum es unwahrscheinlich ist, dass der Junge seinen Vater erstochen hat. Er ist der dritte Geschworene, der schließlich für „nicht schuldig“ votiert.

Gerade dieses Argument wirkt sehr überzeugend, aber offenbar wird es für Nr. 5 auch erst relevant, nachdem Nr. 8 das Fass nun einmal aufgemacht hat und die anderen dazu bringt, über den Fall intensiver nachzudenken als bisher. Aber gewiss einer der sympathischsten Geschworenen, der aus einer defensiven Grundhaltung heraus wartet, bis seine Zeit gekommen ist, um sich einzubringen. Er zählt zu denen, die besonders für das Modell der gelebten Demokratie für alle stehen, das der Film preist. Hier möchte ich 2025 eine weitere Ebene hinzufügen, dafür habe ich den Film oft genug gesehen, wenn auch in letzter Zeit  nicht mehr: Er kommt aus dem Milieu, aber er hält sich für einen anständigen Mann, der nicht jemanden bevorzugen oder freikriegen will, der eine Tötungshandlung begangen hat, auch wenn er für diesen im sozialen Sinne Verständnis hat, außerdem will er sich genau diesem Verdacht nicht aussetzen, zumal er selbst glaubt, nicht so versiert sprechen zu können wie die meisten anderen im Raum.

Nr. 6 (Ed Binns) ist ein einfacher Maler und Bauarbeiter ohne intellektuellen Hintergrund, dafür aber mit klaren moralischen Grundsätzen. Dies wird deutlich in seinem Respekt vor dem Alter des greisen Jurors Nr. 9. Er verschafft ihm Gehör, als der etwas sagen will, und als Nr. 3 den alten Mann attackiert, wird er von Nr. 6 zurechtgewiesen. Sonst hält er sich in der Diskussion eher zurück. Er glaubt zunächst auch an die Schuld des Angeklagten, lässt sich aber überzeugen, dass es begründete Zweifel gibt.

Ähnelt strukturell seinem Sitznachbarn Nr. 5, ist aber körperlicher und führt mit Nr. 8 ein Gespräch im Waschraum, das ebenso logisch wie unsinnig ist: Was, wenn der Angeklagte nun von dieser besonnenen Jury freigesprochen wird und er dann seinen Vater doch umgebracht hat? Dem einfachen Gerechtigkeitsempfinden von Nr. 6 würde das zuwiderlaufen, und obwohl er recht empfänglich für die Argumente von Nr. 8 und seiner zunehmenden Zahl von Mitstreitern ist, wartet er wohl wegen dieses Vorbehalts etwas länger mit dem Schwenk.

Nr. 7 (Jack Warden) schlägt sich als Handelsvertreter für Marmelade durchs Leben und fällt durch seine flotten Sprüche und kleinen Witze auf. Ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht, scheint ihn nicht zu interessieren. Wichtiger ist ihm, dass die Sache schnell über die Bühne geht, weil er das Baseballspiel der New York Yankees am Abend auf keinen Fall verpassen will. Deshalb stimmt er für schuldig. Als er merkt, dass die Stimmung umschwenkt, ändert er sein Votum auf „nicht schuldig“, um die Sache zu beschleunigen. Damit zieht er sich aber den Zorn der Geschworenen beider Lager zu.

Eindeutig der Unsympath in dieser Gruppe. Während Nr. 3 und auch Nr. 10 von ihren persönlichen Gefühlen getrieben werden, die man nicht teilen oder gutheißen muss, aber nachvollziehen kann, hat dieser Mann überhaupt keine wahrnehmbaren Tiefen oder Untiefen, sondern steht für den monothematischen 08/15-Typ, in seinem Fall ist es der Baseballsport, an dem er sich mangels anderer Interessen festhält. Wie Nr. 12 ein Opportunist, wenn auch einer mit weniger Charme. Das Problem bei einer echten Jury dürfte sein, dass genau dieser Typ viel häufiger anzutreffen sein wird als in der Versuchsanordnung, die der Film unter anderem darstellt. Und wenn dieser Typ viel häufiger ist und sich in einer solchen Gruppe mehrere solcher Typen zu einer Art Oberflächlichkeits-Mob verbünden, dann wird‘s für jemanden wie Nr. 8 erst richtig schwierig, weil er sich einer Front der Gleichgültigkeit gegenübersieht, die eine ganz andere Stimmung in der Gruppe erzeugt als die hier zu bestaunende. 

Nr. 8 (Henry Fonda), von Beruf Architekt, hält die Schuld des Angeklagten nicht für zweifelsfrei bewiesen. Deshalb stimmt er als Einziger von Anfang an für „nicht schuldig“, auch wenn er es für möglich hält, dass der Angeklagte die Tat begangen haben könnte. Aber nur so kann er die anderen dazu bringen, den gesamten Fall Punkt für Punkt durchzugehen. Immer mehr Ungereimtheiten fallen ihm und den anderen auf. Besonders die Aussage des 75-jährigen Hauptbelastungszeugen, der durch einen erlittenen Schlaganfall in seiner Beweglichkeit eingeschränkt ist, stellt er in Frage. Er kann durch geschickte und überzeugende Argumentation die anderen nach und nach dazu bringen, ihre Sicht auf den Fall zu ändern, und erreicht am Ende sein Ziel.

Nr. 8 ist bereits umfassend beschrieben, daher hier keine zusätzlichen Anmerkungen.

Nr. 9 (Joseph Sweeney) ist ein ruhiger älterer Herr mit gesundheitlichen Problemen, der zuerst auch für „schuldig“ stimmt, dann aber Nr. 8 nach dessen ersten Ausführungen als erster folgt und sein Votum ändert. Er will eine so wichtige Entscheidung wie einen Schuldspruch nicht unüberlegt treffen und seinen Sitznachbarn unterstützen. Für das aggressive Auftreten einiger Juroren hat er kein Verständnis. Er stützt sich vor allem auf seine lange Lebenserfahrung und gute Menschenkenntnis. So kann er vor allem die Glaubwürdigkeit der Zeugen ins Wanken bringen, indem er ihre Persönlichkeit, ihr Äußeres und ihre Motive analysiert. Als scharfem Beobachter fällt ihm das entscheidende Detail an der Hauptbelastungszeugin auf, das den endgültigen Durchbruch zu einem Freispruch bringt.

Er ist in der Tat der Beobachter in dieser Gruppe, der sich alle, die vor Gericht auftraten, mindestens so genau angeschaut hat wie Nr. 8 und dabei noch einmal zusätzliche Details entdecken konnte. Er liefert am Ende auch den entscheidenden Hinweis über die Eigenschaft der Augenzeugin als Brillenträgerin, der mich allerdings auch darauf gebracht hat: Wieso wurde dieses wichtige Detail nicht vor Gericht überprüft? Einer der sympathischsten und ungewöhnlichsten Geschworenen, der erst einmal aus einem sozialen Grund umschwenkt: Damit sein Nachbar nicht so allein dasteht. Seine Beobachtungen spielen da noch keine Rolle, vemutlich hält er sie zu dem Zeitpunkt noch nicht für so wichtig, sondern braucht die sich entwickelnde Diskussion und die Argumente seines Nachbarn, um ihre Relevanz zu erkennen. Ein schönes Beispiel dafür, wie jemand durch den günstigen Einfluss eines anderen zu einer eigenen tragenden Rolle findet.

Nr. 10 (Ed Begley), Betreiber mehrerer Tankstellen, ist ein cholerischer Rassist, der mit seinen Vorurteilen nicht hinter dem Berg hält. Für ihn ist der Angeklagte allein wegen seiner puertoricanischen Herkunft schuldig. Deshalb interessieren ihn Tatsachen nur, solange sie die Schuld des Angeklagten zu beweisen scheinen. Als daran mehr und mehr Zweifel aufkommen, gerät er mit seinen Ausfällen so in Rage, dass sich die anderen angewidert von ihm abwenden. Nr. 4 weist ihn schließlich eiskalt und scharf zurecht und verbietet ihm, noch einmal seinen Mund aufzumachen. Schockiert bricht er innerlich zusammen, setzt sich abseits der Gruppe in eine Ecke und leistet bei der nächsten Abstimmung keinen Widerstand mehr.

Diese Figur ist natürlich mehr als alle anderen ein pöbelnder Stereotyp, wie wir ihn vermutlich bei rechten Demos wiederfinden, wenn er dafür Zeit findet, neben seinen vielen Garagen, in denen es ohne seine starke Hand, z. B. während er einen sonnenklaren Fall von Mord immer wieder durchkauen muss, natürlich drunter und drüber geht.  Er ist ebenso forsch und laut wie unreflektiert. Von Beginn an dachte ich: Da ist er doch, der typische Ami, und auch er ist für mich ein Charakter, der in einer realen Jury vermutlich nicht ein einziges Mal, sondern zwei- oder dreimal vorkäme, womit Nr. 8 wesentlich mehr Mühe hätte, die Stimmung im Raum auf Argumentationslinie zu bringen.

Nr. 11 (George Voskovec), Einwanderer aus Europa, ist ein disziplinierter Uhrmacher, der stolz darauf ist, jetzt Amerikaner zu sein. Er macht sich Notizen und beobachtet das Geschehen genau. Ihm fallen dabei einige Widersprüche auf. Er weiß die Vorteile einer freien Gesellschaft und eines fairen Justizsystems zu schätzen. Er ermahnt die erhitzten Gemüter zur Ruhe. Der aufrechte, betont freundliche, manchmal aber auch unbeabsichtigt schulmeisterliche Mann bringt vor allem Nr. 7 und Nr. 10 gegen sich auf. Als Nr. 7 sein Votum auf „nicht schuldig“ ändert, nur weil er hofft, dass es so schneller geht, hat Nr. 11 kein Verständnis für diese Leichtfertigkeit.

Kommt er jetzt aus der Schweiz, wie es die deutsche Synchronisation schon aufgrund des in ihr eingesetzten Dialektes suggeriert? Vermutlich, alle Uhrmacher kommen dorther. Sicher ist auch er eine Art Klischee, aber im Gegensatz zu vielen Einwanderern, die während der großen Wellen des 19. Jahrhunderts in die USA kamen, würde er damit ja aus einer funktionierenden, in Teilen direkten Demokratie stammen. Auch wenn er manchmal etwas belehrend wirkt, sicher einer der sympathischsten Geschworenen, der sich sehr genau, eben auf die Uhrmacher-Art, mit dem Fall befasst hat – seine Notizen aber anfangs zurückhält. Entweder ein weiterer kleiner Schwachpunkt des Films, oder man interpretiert es so, dass e auch zu jenen gehört, die Inspiration durch die offen vorgetragenen Zweifel von Nr. 8 benötigen, um sich selbst aus der Deckung zu trauen.  Ganz schlüssig ist diese Auslegung aber nicht. Was er in einen Notizen an Auffälligem festgehalten hat, wäre schon Stoff für die erste Diskussionsrunde gewesen, und es mangelt ihm ja trotz seiner eher zurückhaltenden Art auch nicht an Selbstbewusstsein.

Nr. 12 (Robert Webber) ist von Beruf Werbetexter und ein oberflächlicher Opportunist. Konflikte liegen ihm nicht, die scharfen Auseinandersetzungen sind ihm zuwider. Während der Diskussionen malt er gelangweilt Skizzen. Er kennt aus seinem Berufsleben eher kreative Arbeitsprozesse und kann mit den Auseinandersetzungen hier nur wenig anfangen. Er ist ein Mann der Schlagworte und flapsigen Redensarten. Inhaltlich kann er nicht viel beitragen. Als er sich mit der Mehrheit weiß, ist er noch sehr selbstsicher. Als die Stimmung jedoch umkippt und er merkt, dass er sich jetzt entscheiden muss, wird er zunehmend unsicher und schwankend. Als einziger Juror ändert er dreimal sein Votum.

Diesen Typ habe ich als den modernsten und heute am häufigsten anzutreffenden empfunden. Auch wenn das Werbeleben nicht so sehr im Sprüche klopfen besteht, wie es hier dargestellt wird, zumindest bei den meisten in der Branche nicht, die im Team arbeiten, die „Kreativen“ sind in der Tat anders gestrickt als diejenigen, die sich in den „harten“ Branchen bewähren müssen. Dass in den Medienberufen keine Konflikte auftreten, glaube ich eher nicht, aber sie werden vermutlich anders gelöst als in der Welt der Geschworenen Nr. 3 oder Nr. 10. Die Beliebigkeit dieses smarten Typs ist aber schon frappierend und auch ihn würde ich in einer realen Jury vermutlich in zwei- oder dreifacher Ausfertigung finden.

Womit wir nun schein drei Persönlichkeitsstile identifiziert haben, die in der Realität weiter verbreitet sind als in der Jury von „Die zwölf Geschworenen“ und damit möglicherweise die Hälfte der Jury besetzen würden. Auch dies ist natürlich eine überschlägige, pauschale Aussage, und:  Eine Versuchsanordnung ist keine repräsentative Auswahl. Sicher würde man eine solche Jury heute ein wenig anders besetzen und wäre gezwungen, die Unterschiede zwischen den Geschworenen und ihrer Art zu reden, noch präziser herauszuarbeiten, weil sie nicht so augenfällig wären wie im Film. Film ist Film und auch wenn „Die zwölf Geschworenen“ sehr realistisch wirkt, ist diese Jury nicht ein Abbild der Realität im Sinne einer wahrscheinlichen Jurybeseetzung in New York City. 

Finale

Hier muss ein Einschub am Tag der Veröffentlichung des Essays im  Jahr 2025 sein. Die Rezension wurde im Sommer 2016 geschrieben, damals galt Trump als Außenseiter gegen die beinahe designierte Obama-Nachfolgerin Hillary Clinton. Ich habe am nur ein paar stilistische Kleinigkeiten geändert, ein paar eigene Bewertungen  leicht zurückgenommen, aber die Passage, die zu diesem Nachtrag geführt hat, ist davon nicht betroffen. Im Jahr eins der zweiten Trump-Präsidentschaft dachte ich schon vor dem Lesen dieses Absatzes, in dem es darum geht, welchen Typus wir unter anderem in der Jury repräsentiert, aber nicht gerade überrepräsentiert sehen und wie zielgenau auf Unbarmherzigkeit auch Nutzer der IMDb argumentieren: hier sehen wir das Bild von empathielosen MAGA-Anhänger vor uns. Aber wie gut das, was nach 2016 kommen sollte, in den betreffenden Aussagen antizipiert ist, macht mich beinahe fassungslos. Es ist alles so gekommen wie an dieser Stelle zumindest als möglich benannt. Zurück zum Text aus dem Jahr 2016. Ursprünglich war dieser Nachtrag an einen passenden Absatz angefügt, aber ich habe mich sozusagen in letzter Minute vor der Publikation entschieden, nicht das „Hier und Jetzt“ der Situation zu verlassen, in der ich die 13 Geschworenen als die Persönlichkeiten beobachte, die es verdienen, dass man an ihnen dran bleibt.

Einige Filme, die ich über einen Zeitraum von vielen Jahren hinweg mehrmals gesehen habe, sind heute verblasst, haben ihren Charme mindestens teilweise verloren, weil die naiv-jugendliche Herangehensweise von damals doch durch eine mehr analytische abgelöst wurde. Andere hingegen sind gerade dadurch immer höher gestiegen, wie etwa „Das Appartement“ von Billy Wilder, dem immer noch einzigen 10 Punkte-Film in der Rezensionen-Anthologie.

Weitere Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2025: In der Tat haben wir für „The Apartment“ gleich zwei Mal, im Jahr 1989 und im Jahr 2015, 10/10 vergeben. Da wir mittlerweile bei den Bewertungen mit dem 100er-System arbeiten, wäre es spannend, zu sehen, ob es 100/100 geben würde. Einen Vorteil hat „The Apartment“: Er ist satirisch und nimmt Menschen aufs Korn, und die verhalten sich auch opportunistisch, aber auch rührend und es gibt keinen Fall durchzudeklinieren, an dessen Bearbeitung seitens des Gerichts und in der Folge durch die Jury man Zweifel hegen kann. Vermutlich kommt es tatsächlich zu einer höheren Wertung als für „Die zwölf Geschworenen“, wenn wir die Rezension zu „Das Appartement“ veröffentlichen werden. Sie ist aber nicht so umfangreich, bewegt sich nicht auf dem Beinahe-Rekordniveau von mehr als 7.000 Wörtern. Das auf jeden Fall in den nächsten Jahren gerissen werden wird, wie ich angesichts aktueller Änderungen in unserer Art, Filme zu analysieren, schon weiß.

Meine Faszination für „Die zwölf Geschworenen“ ist ungebrochen, ich glaube nicht, dass seitdem ein besserer Gerichtsfilm gedreht wurde, aber ich finde auch das eine oder andere Detail, das nicht ganz so überzeugend ist. Ich hab jedoch gerade in der IMDb mein Votum mit „10“ abgegeben, weil ich dort keine halben Punkte setzen kann und daher immer die nächst höhere ganzzahlige Wertung nehme, das heißt, wir stehen bei 9,5/10 Punkten.

Ich bestätige  diese Bewertung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im  Jahr 2025 annähernd:

94/100.

2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2016)

Regie Sidney Lumet
Drehbuch Reginald Rose
Produktion
Musik Kenyon Hopkins
Kamera Boris Kaufman
Schnitt Carl Lerner
Besetzung

sowie ungenannt


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