Briefing Geopolitik, Gesellschaft, Menschenrechte, Double Standards, Doppelstandards, Völkerrecht, zwischenstaatliches Handeln, Demokratien, Diktaturen, Der Westen, UNO, Un-Menschenrechtskonvention, USA, China, Deutschland, EU, Russland, Israel
Liebe Leser:innen, Samstag ist bei uns der „Tag des Rechts“, wenn auch nicht an jedem Samstag – und das Verfassungsblog-Editorial ist aus der Sommerpause zurück. Grund genug für uns, die aktuelle Ausgabe zu übernehmen und zu besprechen.
Es geht dabei um die sogenannten Doppelstandards im zwischenstaatlichen Handeln, ein Terminus, der bei uns auch als geopolitischer Kampfbegriff verwendet wird. Hier bietet das neue Editorial interessante Einblicke und eine rechtliche Perspektive an.
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Doppelfolge der „Double Standards“ von Anne Peters auf Verfassungsblog
Der Sommer ließ zwar Parlamentssitzungen, Vorlesungen und das Editorial des Verfassungsblogs ruhen, nicht aber das Völkerrecht. Anfang September hat der Shanghai-Gipfel die fortlaufende Erosion der sogenannten liberalen Völkerrechtsordnung und die drohende Spaltung dieser Ordnung augenfällig gemacht. Die Führer der versammelten asiatischen Staaten (meist Autokratien) haben wieder einmal die „double standards“ des Westens (Nordens) beklagt (Tianjin Declaration v. 1. Sept. 2025).
Der Vorwurf der double standards ist nicht neu, hat aber in der Phase des Umbruchs der Weltordnung, in der wir uns befinden, eine ganz neue Dynamik und Brisanz gewonnen. Er betrifft insbesondere die angeblich selektive Durchsetzung des Völkerrechts durch Staaten des Westens gegenüber den schwächeren Staaten des globalen Südens. Dieser Vorwurf leuchtet intuitiv ein. Denn wohl jede (Rechts-)kultur der Welt kennt als Grundprinzip der Fairness und Gerechtigkeit, dass „Gleiches“ auch „gleich“ behandelt werden soll, und „Ungleiches“ „ungleich“, wenn keine sachlichen Gründe für eine Abweichung bestehen. Ob aber double standards bloß behauptet werden oder ob tatsächlich eine ungerechtfertigte Praxis vorliegt, kann meist nur eine genauere Prüfung der Tatsachen und Rechtslage zeigen.
Insbesondere muss die strukturelle Besonderheit des Völkerrechts als dezentrale Ordnung unter Gleichen und ohne Gewaltmonopol beachtet werden. Die Staaten sind in ihren „horizontalen“ Verhältnissen untereinander, sofern nichts Besonderes geregelt ist, gerade nicht zur Gleichbehandlung verpflichtet. Der Grundsatz der souveränen Gleichheit verbietet beispielsweise nicht, dass Deutschland seine (Entwicklungs-)gelder an und Handelsbeziehungen mit Syrien an Bedingungen knüpft (etwa Schulbildung für Mädchen), die es Saudi-Arabien oder der Türkei nicht auferlegt, da die letzteren Staaten sind, die Deutschland aus geostrategischen Interessen an sich binden will.
Auch sind nur in seltenen Konfliktfällen internationale Gerichte oder Gremien zuständig, um verbindlich die Tatsachen und die Rechtslage festzustellen. Ob Situationen eine gleiche Behandlung verdienen oder nicht, ist deshalb oft eine Ansichtssache, solange die autoritative Schließung ausbleibt. Des Weiteren bieten völkerrechtliche Institutionen den schwachen Akteuren nur einen geringen Schutz gegen Übergriffe, vor allem nicht gegen ein Ständiges Sicherheitsratsmitglied wie Russland oder die USA, die jegliches Eingreifen des Sicherheitsrats mit ihrem Veto verhindern können. Da sie nicht durch eine mächtige Institution geschützt werden, ist es aus vielen Gründen für die meisten Staaten klug, Worten (z.B. UN GA Res. ES-11/L.1 v. 1. März 2022) gerade keine Taten (etwa Sanktionen gegen Russland) folgen zu lassen.
Schließlich gibt es keine allgemeine Rüge- oder gar Sanktionspflicht. Anders sieht es nur aus, wenn ein konkretes Rechtsregime zu Reaktionen verpflichtet. So ist etwa der UN-Menschenrechtsrat kraft Mandat dazu verpflichtet, Menschenrechtsfragen innerhalb seiner Kapazitätsgrenzen gleichmäßig zu behandeln. Deshalb ist es problematisch, dass er seit seiner Gründung im Jahr 2006 Israel 108-mal „verurteilt“ hat, Russland aber nur achtmal. Auch verpflichtet z.B. Art. 5 des NATO-Vertrages alle Vertragsparteien im Falle eines bewaffneten Angriffs auf eine von ihnen, dieser die „notwendige“ Unterstützung zu leisten.
Da in Abwesenheit solcher und ähnlicher Reaktionspflichten kein Staat zu Sanktionen gegen Rechtsbrecher verpflichtet ist, reagieren die Staaten typischerweise interessengeleitet und damit selektiv. Insbesondere können es sich die starken Akteure erlauben, Regelverletzungen der schwächeren Akteure zu sanktionieren. Man mag dies als Politisierung oder gar Instrumentalisierung des Völkerrechts für die eigenen Interessen beklagen. Die Möglichkeit eines solchen „lawfare“ ist jedoch in die Struktur des Völkerrechts als dezentrale und stark machtabhängige Ordnung eingeschrieben.
Selbst wenn wir eine völkerrechtliche Pflicht zur „horizontalen“ Gleichbehandlung im zwischenstaatlichen Verhältnis annähmen – etwa analog zum Verbot der Diskriminierung durch die Staatsgewalt – würde diese keine schematisch identische Behandlung aller Staaten durch andere erfordern. Denn in zahlreichen Fällen bestehen tatsächliche und/oder rechtliche Unterschiede, die es rechtfertigen oder sogar gebieten, die Situationen unterschiedlich zu behandeln.
Juristen und und Juristinnen könnten diese rechtsrelevanten Unterschiede herausarbeiten, wobei viele Wertungsfragen hineinspielen. Und anders als im Anwendungsbereich des menschenrechtlichen Gleichheitssatzes und der Diskriminierungsverbote ist für ein zwischenstaatliches Verbot der double standards noch weitgehend unklar, welche Kriterien eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können: Schwere der Rechtsverletzung, Rechtsgebiet, Folgenabschätzung, Kapazitäts- und Machbarkeitsgrenzen, Vorzugsbehandlung von Entwicklungsländern, sonstige legitime Interessen?
Im Ergebnis ist das aktuelle Anschwellen der meist strategisch und oft missbräuchlich vorgebrachten Litanei der double standards durchaus ambivalent. Theoretisch könnten die juristischen Feinheiten den globalen Öffentlichkeiten erklärt werden. Nicht alle Erwägungen sind jedoch leicht nachvollziehbar. Es bleibt oft der Anschein von double standards haften. Dieser böse Schein stellt ein echtes Problem dar, wenn es um die öffentliche Glaubwürdigkeit geht. Deshalb verbieten Prozessregeln typischerweise den bloßen Anschein von Befangenheit oder Interessenkonflikten. Schon die verbreitete – wenn auch diffuse – Wahrnehmung, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird, erschüttert das Vertrauen in das Völkerrecht massiv. Auch befördert der stets drohende Vorwurf der double standards das Duckmäusertum. Um die Schelte gar nicht erst aufkommen zu lassen, halten sich Staaten lieber bedeckt: ein chilling effect für die Benennung von Völkerrechtsverstößen anderer, der die Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht bremst.
Andererseits kann der Hinweis auf double standards echte Probleme aufdecken. Es würde das Völkerrecht stärken, wenn sich die westlichen Akteure auf inhaltliche Debatten darüber einließen, welche Situationen vergleichbar und welche möglichen Unterscheidungskriterien legitim sind. Solche Debatten müssten dann auch zur Tiefenschicht des allgegenwärtigen Lamentos vordringen: Denn den Staaten, welche die westliche Doppelmoral beklagen, missfällt es nicht nur, selektiv kritisiert zu werden. Sie wollen am liebsten gar nicht kritisiert werden. Hinter dem Vorwurf der double standards des Westens verbirgt sich häufig nicht die Forderung, das Völkerrecht gleichmäßig durchzusetzen – sondern es gar nicht durchzusetzen. Das Völkerrecht wird als Instrument des Westens gesehen, um westliche Vorherrschaft abzusichern. Deshalb sollten die Staaten des Westens das in dem double standards-Vorwurf liegende Unbehagen an der geltenden Völkerrechtsordnung viel ernster nehmen als bisher und offen sein für inhaltliche Reform.
Vor allem sollte die Chance der Bumerangwirkung genutzt werden: Wer double standards beklagt, signalisiert damit, dass er die Kohärenz der Völkerechtsordnung und die Folgerichtigkeit der Rechtsanwendung für ein wichtiges Gut hält. Der Sprecher fordert damit implizit ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot, das im aktuellen Völkerrecht erst im Ansatz angelegt ist. Die Zunahme des Vorwurfs kann somit als Anzeichen gedeutet werden, dass die normativen Erwartungen an das Völkerrecht – in Bezug auf Gleichbehandlung und Fairness – zunehmen.
Der Hinweis auf (echte oder vermeintliche) double standards beinhaltet also auch eine unterschwellige Botschaft, die zu begrüßen ist: die Forderung, auf eine internationale rule of law hinzuarbeiten. Die schlüssige und folgerichtige Rechtsanwendung und -durchsetzung erweist sich so als eine universelle, nicht nur „westliche“ regulative Idee. An dieser Idee sollten die Staaten des Westens, denen double standards vorgeworfen werden, sich orientieren, und sie können die Kritiker ebenfalls daran messen.
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Kommentar
Wir sind auch relativ schnell dabei, Doppelstandards zu beklagen, und uns wir berücksichtigen nicht in jedem Anwendungsfall, dass wir uns damit manipulieren lassen. Denn selbstverständlich gibt es nicht nur Doppelstandards im Westen, sondern alle handeln so – interessengeleitet, nicht an gleichen Rechten für alle Staaten orientiert. Wer das angesichts der gegenwärtigen Weltkrisen leugnen will, muss schon sehr hartleibig und einseitig ideologisch unterwegs sein. Aber schauen wir uns die Grundlage an, auf die wir uns gestellt haben, und wie sie sich im Kampf verschiedener Standards miteinander, der wiederum eine Grundlage für weltweite Machtpolitik darstellt, einordnen lassen.
Wenn wir zum Beispiel das Ausmaß und die Wirkung von Maßnahmen der israelischen Regierung zur Beantwortung des Hamas-Terrors vom 7. Oktober 2023 kritisieren, finden wir nicht gleichzeitig den russischen Angriff auf die Ukraine okay, wie gewisse „Friedensbewegte“ das tun, die versuchen, den in einer solchen Ungleichbehandlung ganz sicher angelegten Doppelstandard mit Verweis auf irgendwelche Diskriminierungen in der Vergangenheit zu negieren, die es gegeben haben mag, aber nicht in der Form, dass sie einen Angriffskrieg rechtfertigen, der zunehmend ein ganzes Land verwüstet. Trotzdem handelt es sich hier um Argumentationen, nicht um eine ganz sichere, weltweit gleichermaßen akzeptierte Norm, an der wir uns ausrichten, sondern um unsere Standards, unsere Maßstäbe. Sie waren einmal der Goldstandard, als die UN-Menschenrechtskonvention erschaffen wurde, aber auch diese Konvention ist Ausdruck einer Haltung, einer weltanschaulichen, ideologischen Position.
Dieses Beispiel auch deswegen, weil es oben im Text eingebettet ist in die Beschreibung des Verhaltens des UN-Menschenrechtsrats. Wir versuchen, immer die Menschenrechte im Blick zu behalten, und das ist ein guter Maßstab für jede journalistische Einlassung zu aktuellen geostrategischen Themen: Das Verhalten der Staaten nach deren Verhältnis zu den Menschenrechten zu bewerten, inklusive des Staates in dem wir leben und dessen Politik wir mehr als die jedes anderen Staates (außer derzeit der USA, was im Grunde auch ein journalistischer Doppelstandard ist, wenn man sich die Zustände in harten Diktaturen im Vergleich anschaut) kritisieren, obwohl Deutschland in Sachen Menschenrechte immer noch zu den, sagen wir, besten 10 Prozent der Staaten der Welt zählt. Die USA zählen noch zu den besten 20-30 Prozent, nur ist die Entwicklung dort so atemberaubend und rasant negativ, dass sie einer genaueren Betrachtung bedarf als etwa die „Kennen-wir-schon“-Lage in China, wo sowieso klar ist, dass Menschenrechte keinen hohen Stellenwert haben.
Gewisse Linke bei uns folgen trotzdem dem Narrativ, dass die Art, wie China und andere die sogenannten Doppelstandards des Westens als politisches Machtinstrument verwenden und damit ihre autokratischen Ordnungen weltweit propagieren und durchsetzen wollen, berechtigt ist, denn es geht ja um die Interessen vorgeblich vom Westen Unterdrückter und um eine angeblich mulitpolare anstatt einer westlich dominierten Weltordnung. Das ist alles Quatsch. Es gibt kein Machtvakuum, wo ein Imperium sich zurückzieht oder dazu gezwungen wird, sich zurückzuziehen, tritt ein anderes an dessen Stelle und die oben als schwächere Akteure bezeichneten Staaten haben immer das Nachsehen, in Form von Abhängigkeiten, in der Regel. Ob man Regimes wechselt, ob man Kriege führt, ob man mit Soft Power Staaten wirtschaftlich abhängig macht, es geht am Ende um imperialistischem Gedankengut folgende Einflusszonen.
Und deswegen ist ein überschüssiges Gerede von Doppelstandards Quatsch, auch dann, wenn es von uns kommt. Diejenigen, die bei anderen Doppelstandards beklagen, haben oft selbst überhaupt keine Standards, von machtpolitischen Erwägungen abgesehen, die immer dem Standard folgen, die Macht des eigenen Landes zu mehren. Ein humanistischer, menschenrechtsorientierter Ansatz ist niemals dabei.
Der Westen ist durch die Entwicklung in den USA in der Defensive, deswegen werden Einlassungen wie die „Shanghaier Erklärung“ auch beinahe unwidersprochen hingenommen, während früher Politiker, die in Diktaturen zu Gast waren, regelmäßig eine Menschenrechtsansprache an die dortigen Machthaber im Gepäck hatten, die, wenn es gut lief, in Einzelfällen etwas bewirken konnte. Wir hören seit der Ampelregierung nicht mehr, dass Deutschland in solchen Einzelfällen erfolgreich vermittelt hat. Und jetzt, wo die EU auch noch durch Trump schikaniert wird, wird es noch schwieriger, und auch die wirtschaftlichen Verschiebungen von Europa und den USA nach Asien tragen dazu bei, dass eine Mischung aus sanftem Druck und moralischem Appell mit Öffentlichkeitswirkung nicht mehr funktioniert. Die Diktaturen wittern nicht nur Morgenluft, sie atmen sie kräftig ein, und deswegen ist es im Moment leicht, mit dem Doppelstandards-Begriff zu agieren und dabei zu erreichen, was man immer schon wollte, nämlich die Kritik an der Verletzung der Menschenrechte im eigenen Land als Doppelstandard darzustellen.
Die im Artikel geforderte Konsequenz ist im Grunde der Whataboutismus, ebenfalls ein Begriff, der hochgradig vermint ist. Und wie bei euch? Das endet dann damit, dass man sich propagandistisch gegenseitig Listen von Fehlverhalten vor die Nase hält, und die Menschen in den Ländern haben gar nichts davon.
Genau dies ist nach dem Geschmack der Diktatoren, den Westen auf dieses Niveau zu ziehen. Das Zwischenstaatliche, das Völkerrecht, kann sich hingegen nur positiv weiterentwickeln, wenn das Innerstaatliche stimmt, und da gleitet der Westen in der Tat aus einer guten Position in der Vergangenheit heraus in gefährliches Fahrwasser ab. Einer der größten politischen Vorwürfe, die man dem Westen machen kann, ist, dass er an Glaubwürdigkeit verliert, wenn es um den Kampf um ein besseres zwischenstaatliches Verhalten geht, das nur ein Ziel haben kann: den Menschen in den Staaten selbst Verbesserungen zu erbringen. Alles andere ist Geopolitik, ist Machtgehabe Mächtiger, kein Recht der Völker im Sinne einer Ansammlung von Menschen, von denen jeder die Grundrechte der UN-Menschenrechtskonvention genießen sollte. Die Politik aller Länder, die freiwillig der UN beigetreten sind, haben im Grunde damit auch akzeptiert, diese Rechte anzuerkennen, und daran sollte man sie messen, wenn es um die Beurteilung von Doppelstandards geht. Wir gehen an dieser Stelle nicht darauf ein, wie es ausschaut, wenn Länder zwar in ihren Grenzen einigermaßen menschenrechtskonform handeln, aber gegenüber anderen Ländern und damit den Menschen, die in ihnen wohnen, andere Standards walten lassen, indem sie Krieg in diese Länder tragen und die Menschenrechte verletztende Regimes fördern oder gar installieren, wie der Westen es beispielsweise 1953 im Iran getan hat.
Es gibt also grundsätzlich zwei Leitlinien, mit denen man Doppelstandards – nie ganz vermeiden wird, weil der Standard ja interpretationsfähig ist, wie wir im Editorial gelesen haben – aber ihre Augenfälligkeit etwas mindern kann: Indem man erst einmal alle Grundstandards im eigenen Land verwirklicht und dann nach draußen eine kohärente Haltung vertritt, die geopolitische Interessen wenigstens sicher damit unterlegt, dass man nicht durch die immer deutlichere Verletzung von Standards im Inneren angreifbar wird. Die USA zeigen gerade, wie tricky die Sache mit den Doppelstandards ist, und gewisse Hasser des Westens, denen Menschenrechte nicht viel bedeuten, springen darauf an: Der Niedergang der Freiheit im eigenen Land, verursacht durch Antidemokraten, wird mit offensiver Ansprache an andere begleitet, die versuchen, sich vor Antidemokraten zu schützen. Das ergibt ideologisch und machtpolitisch absolut Sinn, aber der Begriff der Doppelstandards erfährt innerhalb des Westens dadurch eine neue Ausprägung: Die europäische Ordnung konkurrierender Grundrechte wird von den USA als niedrigerer Standard gebrandmarkt gegenüber der eigenen Ordnung mit dem absoluten Vorrang der Meinungsfreiheit, der zu einem unfassbaren Gewaltklima führt, weil er jede Lüge, jede Beleidigung, jede Drohung legitimiert. Wohin das führt, sieht man jeden Tag, und natürlich liegt darin aus europäischer Sicht ein Doppelstandard, wenn sich US-Politiker in europäische Angelegenheiten offensiv einmischen, was sie bekanntlich immer häufiger tun. Daraus werden dann in ungünstigen Fällen Aktionen im zwischenstaatlichen Handeln, etwa wirtschaftlicher Druck wegen vorgeblicher Demokratie-Standard-Verletzungen, hinter denen in Wirklichkeit knallharte ökonomische Interessen stehen.
Diese Interessen führen natürlich immer wieder zu Doppelstandards, deswegen halten wir es für schwierig, in einer Welt, in der die Ressourcen immer stärker umkämpft sind, diejenigen, die andere der Doppelstandards bezichtigen, mit einem Whataboutismus zu markieren, so berechtigt er auch sein mag. Das Völkerrecht, wenn man es, wie wir, als Grundlage zur Durchsetzung der Menschenrechte versteht, weil es sonst keine ethische Basis hat, die zu mehr führt als einem durch Machtpositionen korrumpierten Interessenausgleich, bei dem überdies so getan wird, als gäbe es die riesigen Unterschiede in Sachen Menschenrechte innerhalb der Staatengemeinschaft nicht, ist in der Defensive, weil es in der Tat ein westliches Konstrukt ist, mit dem viele Machthaber in vielen Ländern der Erde noch nie etwas anfangen konnte. Das Regime der Menschenrechte ist eine Idee, die aus der Dominanz westlicher Ideen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hervorging, und damals den Vorteil hatte, dass man gerade gezeigt hatte und abwenden konnte, wie es wäre, wenn alle unter die Fuchtel von Diktaturen geraten würden. Dieser ethische Ansatz ist westlich geprägt, daran besteht kein Zweifel, und das stört viele, die jetzt von Doppelstandards reden.
Es ist aber für die Menschen, wenn er ernsthaft von der Politik befolgt wird, nach wie vor der beste Ansatz, den man sich vorstellen kann, weil er jedem Einzelnen einen größeren Handlungsspielraum und mehr individuelle Möglichkeiten gibt als jeder andere. Und diese Ansicht ist westlich geprägt und steht in Konkurrenz zu anderen Ideen, wie ein gutes Leben auszusehen hat. Und weil er mit anderen ideologischen Ansätzen konkurriert, sind Doppelstandards so leicht zu behaupten. Wenn er dann auch noch dadurch in Misskredit gerät, dass die westlichen Demokratien im ökonomischen und ideologischen Niedergang begriffen sind, kann man ganz schnell mit diesem Kampfbegriff deren Verhalten markieren. Es geht also um Macht, wenn Gleichbehandlung gefordert wird, die eben keine gleichen menschenrechtlichen Standards zur Grundlage hat. Wenn die Verteidiger der Menschenrechte die Macht verlieren und die Menschenrechte gleichzeitig im Rückzug begriffen sind, erleben wir eine neue Ordnung, die von jenen dominiert wird, die sich jede Kritik an den miserablen Verhältnissen in ihren Ländern verbieten dürfen. Dann gibt es keine Doppelstandards mehr, weil es gar keine Standards mehr gibt.
Darauf arbeiten Machthaber in vielen Ländern hin, deswegen und wegen der einhergehenden, korrespondierenden Schwäche des Westens halten wir die Nutzung des Bumerang-Effekts zur Verbesserung der völkerrechtlichen Standards im Moment für, sagen wir mal, einen sehr idealistischen Ansatz, zumal gleichzeitig zugegeben wird, dass es vor allem um geopolitische Interessen geht und immer schon ging. Richtigerweise wird darauf hingewiesen, dass es weder eine Rechtsprechung gibt, die einheitliche Standards bei zwischenstaatlichem Handeln definieren, jeden Fall auslegen und beurteilen kann, noch eine Welt-Exekutive, die das Ergebnis durchsetzen könnte. Wenn wichtige Länder sich von den Menschenrechten abkehren, können sich die „schwächeren Akteure“ daran nicht orientieren und müssen sich „nach der Decke strecken“, also den Diktaturen, die auf dem Vormarsch sind, nach dem Mund reden. Deswegen ist es billig, sich über die Haltung vieler Staaten zu empören, die sich zum Beispiel den Russland-Sanktionen nicht anschließen und sich dabei auch auf Doppelstandards des Westens berufen. Erstens gibt es diese, zweitens ist die Berufung darauf auch die klare Ansage, dass man weiß, man würde durch den Westen nicht vor den Folgen solcher Sanktionen geschützt, wenn man sich ihnen anschließen würde. Das heißt, hier fordert eine bisher dominierende Gruppe von Staaten etwas, das jenen, von denen es gefordert wird, großen Schaden zufügen kann, für den sie keine Kompensation erhalten. Welche Regierung will das ihrem Volk verkaufen, sei eine Diktatur oder sei sie, was noch viel schwieriger ist, in einer fragilen Demokratie, die versucht, den Begriff der Menschenrechte mit Leben zu füllen, gewählt worden? Es ist schon eine Ironie, dass zum Beispiel demokratische Staaten außerhalb des Westens wie Brasilien sich dem Westen nicht anschließen können, weil sie wissen, dass ihnen das erhebliche Nachteile bringen würde gegenüber einer Haltung, die ihnen Luft zur Existenz lässt, weil sie ihrerseits nicht von Diktaturen in die Ecke gedrängt werden. Der Westen verliert die Fähigkeit, Demokratien zu schützen und zu fördern, deswegen geraten seine Standards ins Hintertreffen und würden es selbst dann, wenn sie im Westen selbst besser perfekt beherzigt würden. Länder mit Regierungen, die andere oder nach westlichem Verständnis gar keine Mindeststandards setzen, werden immer stärker, und falls sie keine Scheinriesen sind, wird das dazu führen, dass die effiziente Art, wie Diktaturen regieren können, der Standard der Zukunft sein wird. Das wird auch die UN prägen und verändern, möglicherweise bis hin zur Abschaffung oder faktischen Außerkraftsetzun von Vorgaben wie der UN-Menschenrechtskonvention.
Wir werden mit dem Begriff Doppelstandard also etwas differenzierter umgehen, aber umso mehr hervorheben, dass es unsere Überzeugung ist, dass die Gewährung von Menschen- und Bürgerrechten der Standard ist, der am besten dafür sorgt, dass es Menschen gutgeht. Von dort aus betrachten wir das Handeln in den Staaten und das Handeln zwischen den Staaten. Zur Beurteilung müssen wir uns natürlich darauf verlassen, was Menschenrechtsorganisationen weltweit zusammentragen, das kann ohnehin niemand alles selbst erforschen. Wir sind also darauf angewiesen, dass bei den Bewertungen der Länder die Standards einigermaßen einheitlich und nicht unterschiedlich angewendet werden. Unser Gefühl ist aber bisher, dass dabei ziemlich seriös vorgegangen wird, auch wenn man den Respekt vor den Demokratien des Westens deutlich spürt und natürlich die Standards sich an den von ihnen in die Welt gebrachten Menschenrechten orientieren. Deutschland wird beispielsweise nach unserer Ansicht als zu gut eingeschätzt, das gilt auch für weitere westliche Länder. Dies zu kritisieren, ist aber nicht das Gleiche, wie die Menschenrechte als Maßstab an sich in Frage zu stellen. Das heißt, wir bleiben bei dem, was wir als den Gold-Standard für staatliches Handeln nach innen und nach außen ansehen. Und wir sind uns klar darüber, dass nicht nur Lenker anderer Staaten, sondern möglicherweise auch die Bevölkerung in anderen Staaten das anders sieht, weil sie anders geprägt ist, und dass auch bei uns Tendenzen bestehen, die dazu führen, dass diese Standards nicht mehr wertgeschätzt werden. Wir können uns also nur für diesen speziellen Standard einsetzen und sind insofern immer subjektiv und eben an dem orientiert, was im Westen einmal als beste Form Gestaltung des Daseins aller Menschen definiert wurde und was zwischenzeitlich auch die Strahlkraft hatte, sich weltweit durchzusetzen.
Diese Strahlkraft wurde aber vor allem durch ökonomische Überlegenheit erzeugt, das westliche Lebensmodell wurde vor allem aus wirtschaftlichen Gründen kopiert und als erstrebenswert angesehen. Was diese Standards noch wert sind, wenn die ökonomische Strahlkraft verlorengeht, werden wir sehen, die Auswirkung der aktuellen Tendenzen, die eine auf allen Ebenen defensive Situation für unsere Standards belegen, nicht vertiefend besprechen.
TH
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