35 Jahre deutsche Wiedervereinigung: Wie ist der Stand der wirtschaftlichen Einheit, Teil 2: Stimmung (Statista + Kommentar)

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Gestern hatten wir bereits eine Anmerkung zu der Grafik gemacht, die wir heute zeigen: Wie geht es Deutschland wirtschaftlich, am 35. Jahrestag der Wiedervereinigung?

Die Grafik ist zwar nicht auf diesen Tag abgestimmt, aber doch sehr aktuell, weil sie auf einer gerade erst durchgeführten Umfrage basiert. Wir nutzen diese Artikelserie „35 Jahre Einheit“ auch,  um als Bürger dieses Landes die eine oder andere allgemeine Beobachtung / Betrachtung einfließen zu lassen, diese Gedanken sind in den Kommentaren nachzulesen.

Infografik: Wie geht es Deutschland wirtschaftlich? | Statista


Begleittext von Statista

Die deutsche Wirtschaft ist laut Statistischem Bundesamt im ersten Quartal kaum gewachsen und im zweiten Quartal leicht geschrumpft. Das die konjunkturelle Lage in vielen Branchen eher mäßig ist, zeigt sich unter anderem an Plänen zum Abbau von Stellen, zum Beispiel in der Autobranche. Aber wie sehen die Deutschen eigentlich selbst die wirtschaftliche Situation ihres Landes? Laut Statista Consumer Insights haben 40 Prozent einen positiven Eindruck und 24 Prozent einen negativen. Etwas mehr als ein Drittel der Befragten sagen weder noch beziehungsweise trauen sich keine Einschätzung zu. Besonders optimistisch geben sich die Einwohner:innen der Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen, wie der Blick auf die Statista-Karte zeigt. Dagegen schätzen die Menschen im Osten der Republik die Lage weniger positiv ein.

Kommentar

Zum Arbeitsplatzabbau haben wir erst vor wenigen Tagen diesen Artikel veröffentlicht: Arbeitsplatzabbau in Deutschland (Statista + Zusatzinfos + Kommentar: die Lage entspricht der Mentalität im Land).

Nicht überraschend, dass im Osten die Stimmung schlechter ist als im Westen, dies entspricht der Lage, auch wenn wir in unserem gestrigen Beitrag die Problem des gesamten Landes deutlich adressiert haben (er ist unten angehängt, hier auch der Link noch einmal). Ein wenig schmunzeln mussten wir, hatten wir gestern geschrieben. Klar, es wirkt leicht erheiternd, wenn in Bremen mit seinen massiven sozialen und wirtschaftlichen Problemen die Stimmung besser ist als in Bayern, das nach wie vor das wirtschaftliche Powerhouse Deutschlands darstellt – zusammen mit Baden-Württemberg natürlich, und die Berliner Mentalität ist sowieso speziell, sie setzt sich mehr als irgendwo sonst in Deutschland aus Wünsch-dir-was und Haste-nicht-gesehen (die Realität zum Beispiel) zusammen. Der Vorteil: Der soziale Friede bleibt bei diesem Mindset einigermaßen erhalten. Der Nachteil: Die Menschen vertreten ihre Interessen nicht, obwohl hier ständig für oder gegen irgendetwas demonstriert wird. Und natürlich all die Aspekte, die wir gestern schon angesprochen haben (nachlesen lohnt!).

Die schlechte Stimmung im Osten ist leider auch politisch wirksam, das ist nicht neu. Die Gründe und Hintergründe dafür, dass der Osten nicht nur noch nicht zum Westen aufgeschlossen hat, nach 35 Jahren, sondern aktuell sogar droht, wieder Boden zu verlieren, sind vielfältig und nicht Gegenstand dieses kurzen Updates. Es zeigt insgesamt ein Bild, auf dem es so wirkt, als ob viele noch nicht wüssten, was die Uhr geschlagen hat, denn zwischen positiv (wie dargestellt) und negativ liegt „weder noch / gemischt“, und so sehen in den meisten Bundesländern die Menschen die Lage. Es kommt immer darauf an, woran man sie misst: An anderen Ländern, an den eigenen Bedürfnissen oder, wie wir das tendenziell tun, an Zeiten, in denen die Dinge tatsächlich besser waren, nicht nur gefühlt, sondern statistisch belegbar.

Dazu müssen wir allerdings weit zurückgehen und dazu muss man wohl auch im Westen geboren sein, weil man dann davon ausgehen darf, dass die phänomenalen Wirtschafts- und Sozialdaten Westdeutschlands in den 1970ern keine Fälschungen, sondern einigermaßen valide sind – anders als in der DDR, die in den 1980ern nicht nur permanent ein höheres offizielles Wirtschaftswachstum aufwies als der Westen, sondern u. a. Länder wie Frankreich beim BIP pro Kopf angeblich überholt hatte. Um ehrlich zu sein, wir haben es mangels eigener Einblicke auch geglaubt und gedacht: Jetzt haben sie uns (bald), der Sozialismus ist (langfristig) doch überlegen! Als wir 1990 zum ersten Mal „drüben“ waren, dachten wir, wir sind im falschen Film und zweifelten sofort an den Worten gewisser führender Politiker bezüglich (bald) blühender Landschaften. Es wurde dann viel gewandelt, deinvestiert, neu investiert und baulich repariert und rekonstruiert, aber wie wir nicht nur an der Stimmung, sondern auch an den Realdaten sehen, einiges davon ist Fassade geblieben. Nun sind wir bei der Ansicht angekommen, dieses DDR-System war kein Sozialismus, auch, um die Hoffnung auf eine bessere Welt mit mehr Solidarität und Humanität nicht begraben zu müssen.

Wenn die Wirtschaftsflaute weiter anhält, wird natürlich auch die Stimmung weiter sinken, weil die gegenwärtige Regierung nicht in der Lage ist, ein Gefühl des  Gerade-jetzt, des Trotzdem-und-deshalb-anpacken-müssens zu erzeugen. 

Das kann den gefährlichen Effekt einer selbst erfüllenden Prophezeiung bekommen, vor allem, wenn die Menschen der schwachen Außenwirtschaft nicht durch den Konsum im Inneren des Landes entgegenwirken, weil sie einfach Angst haben, größere Investitionen zu tätigen oder es gar nicht mehr können. Im Nachkriegsdeutschland haben sich schwache Wirtschaftsphasen nie „festgefressen“, sind nie, wie in anderen Ländern, zum Dauerzustand geworden, mit dem die Menschen dort sich mehr oder weniger abfinden. Jetzt sieht es aber so aus, als ob genau das passieren könnte: Jeder weiß, dass sich etwas ändern muss, keiner will derjenige sein, der die Veränderungen zu spüren bekommt, niemand protestiert dagegen, dass die Veränderungen auf ohnehin schwachen Schultern abgeladen werden, niemand hat Lust, sich wirklich noch über das eigene Ding hinaus zu engagieren und neue Wege zu gehen und diese Wege von der Politik zu erzwingen.

Die Stimmung ist vielleicht auch immer noch zu gut, siehe Grafik. Außerdem sind die meisten, wenn nach der persönlichen Lage gefragt wird, ja immer so verdächtig zufrieden, obwohl sie über die allgemeinen Zustände permanent lästern.

TH

Die Wiedervereinigung Deutschlands jährt sich zum 35. Mal. Grund für uns, einige Fakten zusammenzutragen – in einem mehrteiligen Artikel, den wir heute, am Tag vor dem Nationalfeiertag, beginnen und über diesen hinaus fortsetzen werden. Zunächst werden wir den Akzent auf den Stand der wirtschaftlichen Einheit legen, denn es ist nun einmal so, dass die Menschen hieran am meisten messen, ob die Einheit wirklich vollzogen ist. Heute dazu ein paar Grund-Vergleichsdaten:

Infografik: Wie geht es der Wirtschaft in Ostdeutschland? | Statista

Begleittext von Statista

Die ostdeutschen Bundesländer können auch 34 Jahre nach der Wiedervereinigung wirtschaftlich in absehbarer Zeit nur zu den schwächeren Westländern aufschließen. In vielen Bereichen ist der Abstand noch groß, wie die Statista-Berechnung auf Basis ausgewählter wirtschaftlicher Kennzahlen zeigt. Ausnahme sind die gewerblichen Existenzgründungen, allerdings nur weil bei den neuen Ländern Berlin inkludiert ist und die gewerbliche Gründungsintensität hier besonders hoch ist.

Problematisch ist weiterhin, dass es im Osten insgesamt zu wenig Personal im Bereich Forschung und Entwicklung („FuE“) gibt. Viele Unternehmen hätten nur wenig Mitarbeiter, die mit der Entwicklung von neuen Produkten und Verfahren befasst seien. Weiterhin liegt die Arbeitslosenquote noch immer über der im Westen, gleichwohl ist sie in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken. Dass die Wirtschaft in Ostdeutschland in vielen Bereichen noch nicht vollständig zu der im Westen aufschließen konnte, hat unter anderem auch mit der Altersverteilung zu tun.

Die Wirtschaftskraft liegt auf Einwohner gerechnet im Osten noch rund 25 Prozent unter der des Westens. Die Arbeitnehmerentgelte liegen im Osten im Schnitt noch 10 Prozent unter denen Westdeutschlands. Außerdem – in der Grafik aus Datenaktualitätsgründen nicht gezeigt – fällt schwer ins Gewicht, dass die Pro-Kopf-Investitionen in Ausrüstungen wie Maschinen oder Produktionsanlagen im ostdeutschen Durchschnitt zuletzt gerade einmal gut 64 Prozent des Westniveaus betrugen. Dadurch kann die Industrie in den kommenden Jahren wenig dazu beitragen, dass sich der Osten wirtschaftlich stark weiterentwickelt.

Kommentar

Wir können uns noch gut daran erinnern: Als wir vor 20 Jahren eine berufliche Station in Österreich verbracht hatten, freute man sich dort gerade, dass man Deutschland (endlich) wirtschaftlich überholt hatte. Wir verwiesen darauf, dass der Westen nach wie vor ein gutes Stück vor den Nachbarn lag und lediglich die Wiedervereinigung für ein geringeres Pro-Kopf-BIP in ganz Deutschland verantwortlich war. Wir fanden diesen Einwand berechtigt, er war auch faktensicher, außerdem hat sich seitdem einiges getan. Zwischenzeitlich sah es aus, als ob einzelne Regionen in Sachsen oder Brandenburg es schaffen könnten, zu den Westländern aufzuschließen. Leider ist dieses mühevolle Unterfangen mehr oder weniger gescheitert.

Mittlerweile läuft es in ganz Deutschland schlecht und die strukturschwachen Regionen in den Ost-Bundesländern laufen Gefahr, nun endgültig auszubluten. Es gibt zu wenige Anreize, dort zu investieren, und wenn es doch einmal in großem Stil passiert, wie beim Tesla-Werk im brandenburgischen Grünheide, das bis nach Berlin und nach Polen ausstrahlt, mit derzeit 12.000 Arbeitsplätzen, dann gibt es große politische und ökologische Diskussionen darüber, die seit der neuen Trump-Ära eine zusätzliche Dimension bekommen haben.

Derweil baut die Industrie massiv Arbeitsplätze ab, wir haben gestern darüber berichtet. Insofern knüpfen wir heute mit dem Start der Berichterstattung zur deutschen Einheit an. Und das natürlich vor allem im Westen, weil es dort mehr von diesen Arbeitsplätzen gibt. Das bedeutet auch, es könnte, wenn es so weiterläuft, zu einer Angleichung der besonders unangenehmen Art kommen. Der Osten verbessert sich nicht mehr, aber der Westen verschlechtert sich erheblich.

Wir werden in den nächsten Tagen auch eine Grafik zeigen, die ein gewisses Amüsement bei uns ausgelöst hat. Da geht es um die gefühlte wirtschaftliche Lage, die in den Stadtstaaten noch vergleichsweise gut zu sein scheint. Einen Hinweis darauf gibt es auch in der obigen Darstellung schon. Berlin ist eine Stadt der Gründer, und das wirkt sich natürlich auf das Lebensgefühl aus.

Warum aber steigt dann die Kaufkraft in Berlin einfach nicht? Darüber sollten sich einige, die solche Zahlen beschreiben, mal Gedanken machen. Wir meinen: Die Menschen im Osten müssen nicht neidisch nach Berlin schauen, denn was hier gegründet wird, ist oft nicht nachhaltig, und wir bezeichnen es in weiten Teilen schlicht als Bullshit-Business, der aber mit einem riesigen Brimborium subventioniert wird. Das geht alles, in Berlin, es geht aber nicht in dünn besiedelten Regionen, in denen jeder neue einigermaßen wertschöpfende Arbeitsplatz wirklich erkämpft werden muss und wo die ein Scheitern existenziell ist, während in Berlin einfach die nächste Firma aufgemacht wird, die wieder nichts wirklich Innovatives zustande bringt.

Das ist natürlich eine zugespitzte Darstellung, aber weil Berlin oben besonders erwähnt wird, gehen wir auch darauf ein: fast nirgends nimmt derzeit die Zahl der Arbeitslosen so schnell zu wie in der Hauptstadt, obwohl hier kaum Großindustrie vorhanden ist, die den Bach heruntergehen könnte. Die ganze Aufholjagd der 2010er könnte umsonst gewesen sein, wenn dieser Trend in der Hauptstadt nicht bald gestoppt wird. Aber der Politik und der Rechtspresse fällt nichts Besseres ein, als auf Bürgergeld-Empfängern herumhacken, die unter diesen Umständen keinen Job finden. Schon gar keinen Job, der wirklich eine Perspektive bietet. Letzteres ist in Berlin immer schon schwierig gewesen, wenn man vom Öffentlichen Dienst absieht.

Der Öffentliche Dienst mit seinen sicheren und einigermaßen gut bezahlten Arbeitsplätzen zieht der freien Wirtschaft derweil immer mehr davon, was die Qualität des Arbeitens angeht, sodass jemand, der einigermaßen in Ruhe und Sicherheit leben will, sich natürlich dorthin orientiert. Er wird aber nicht die Innovation tragen, die nötig ist um dieses Land zukunftsfähig zu erhalten, egal ob in Ost oder West. Wenn der Westen einknickt, werden Bundesländer wie Berlin das noch erheblich zu spüren bekommen, weil es wie kein anderes Bundesland vom Länderfinanzausgleich profitiert.

Der 35. Jahrestag der Einheit steht unter ganz schlechten wirtschaftlichen Zeichen, und dafür gibt es unzählige Gründe. Ein zentraler Punkt ist aber die Abwesenheit strategischer Wirtschaftspolitik in Deutschland. Jahrzehntelang wurde alles verbaselt, dann wurde fehlerhaft ruckartig nach vorne gearbeitet, aber dazu im falschen Moment mit in Teilen falschen Ansätzen, die neue Bundesregierung will das Rad am liebsten wieder ins 19. Jahrhundert zurückdrehen und die Wirtschaft durch Zerstörung der Arbeitnehmerrechte fit machen. Das wird nicht funktionieren, schon gar nicht im Osten, wo ohnehin die Gehälter geringer sind und wo man mehr BIP und mehr F & E nicht in dem Maßstab ohne eine echte Wirtschaftsstrategie herbeizaubern kann, dass das Land gegen China und andere wird bestehen können. Schon gar nicht, in dem man die Bedingungen für die Arbeitenden und für alle anderen immer weiter verschlechtert. Das wird nicht zu einem Motivations- und Innovationsschub führen.

Nicht ungefährlich ist auch die Tatsache, dass das BIP pro Kopf mehr auseinanderklafft als die Gehälter zwischen Ost und West. Es wird häufig beklagt, dass die Gehälter im Westen immer noch höher sind, aber die Produktivität ist es eben auch, und das Gap ist größer als bei den Einkommen. Das bedeutet auch, dass Arbeit im Osten tendenziell sogar teurer ist als im Westen, wenn man sie nämlich an ihrem Ertrag misst. Auch diese Betrachtung hat natürlich ihre Tücken, denn in Flächenstaatn ist das BIP pro Kopf beispielsweise traditionell niedriger als in Stadtstaaten.

35 Jahre Einheit zeigen eine ernüchternde Bilanz, wirtschaftlich, politisch und auch menschlich. Dies hängt natürlich miteinander zusammen. Dabei war schon wenige Jahre nach der Wende sichtbar, dass im Westen der Motor ins Stocken kommt und dass im Osten eine gefährliche Niedergangsstimmung sich breitgemacht hatte. Hatte die Politik darauf angemessen reagieren? In keiner Weise. Zu keinem Zeitpunkt. Man hätte ja anders wählen können, aber wen? Die AfD gab es noch nicht, und wir können nur davor warnen, sie als die Löserin unserer Probleme anzusehen. Sie kanalisiert diesen ganzen Frust, der sich zunehmend auch im Westen aufbaut, aber diese Kanalisierung ist so destruktiv, dass daraus keine gute Zukunft erwachsen kann. Deswegen ist es leider ein bisschen wohlfeil, zu sagen, wir hätten ja alle anders wählen können. Wen denn? Wer hat sich wirklich angeboten, wer wirkte so, dass man ihm hätte vertrauen können? Also hat man das kleinste Übel gewählt, und so sieht Deutschland heute auch aus. Wie ein Land, das nicht mehr vorankommt, weil es von einer Vermeidung größerer Übel in die nächste stolpert, anstatt sich kraftvoll aus dieser mentalen Dunkelzone zu befreien. Und dann wird das größere Übel kommen, das zeichnet sich ab, weil diese Vermeidungsstrategien keine Zukunft haben.

Keine Regierung, die wir erlebt haben, und wir haben ja nun schon einige bei der Arbeit beobachten können, hat es jemals für nötig gehalten, sich in anderen Ländern umzuschauen und Best Practice mit nach Hause zu nehmen. Zum Teil haben es auch mächtige Lobbys verhindert, aber wie reaktionär diese sind, zeigt sich jetzt immer mehr, denn außer dem Abbau der sozialen Sicherheit haben sie keine Ideen, wie es weitergehen könnte. Sie und die Politiker, die ihnen ergeben sind, sind zentral mitschuldig an der Agonie, in die Deutschland immer mehr verfällt, 35 Jahre nach der Wiedervereinigung. Sie herrschen und beherrschen, aber ihr Trachten ist nur darauf gerichtet, auch den letzten Euro aus den Menschen herauszuquetschen, nicht auf eine bessere Zukunft für uns alle. Die Politiker, die diesen Partikularinteressen dienen und nicht der Bevölkerung, sind Totengräber der Wirtschaft als ein Ganzes und der Demokratie zugleich. Das ist die bittere Wahrheit, 35 Jahre nach einer Wiedervereinigung, in die die Menschen so viel Hoffnung gesetzt haben.

Sicher waren nicht alle Erwartungen im Osten, auch nicht im Westen, realistisch, die man 1989, 1990 hatte, aber man hätte es um so vieles besser machen können, als es gelaufen ist. Und dann schreiben Politiker:innen Memoiren, in denen quasi steht, ich habe immer alles richtig gemacht. Das ist schlimm. Das ist der Beweis dafür, dass das Scheitern der deutschen Vereinigung schon in Politikern angelegt war, die zur Wendezeit noch gar nichts zu sagen hatten. Damit keine falschen Vorstellungen aufkommen: Helmut Kohl hat das Seinige zur jetzigen Situation beigetragen und Helmut Schmidt hätte diese Herausforderungen auch nicht wesentlich besser bewältigt, denn hier handelt es sich nicht um ein Hochwasser für ein paar Tage, sondern um mühevolle strategische Wirtschaftspolitik für Jahrzehnte, und die konnte im Grunde kein deutscher Bundeskanzler, weil die politische Tradition in Deutschland, die gemäß Grundgesetz durchaus hätte aufgebaut werden können, nie eine Chance gegen die kurzfristige Mitnahme von günstigen Effekten einer Sondersituation hatte. Die Politiker bis in die 1970er profitierten massiv davon, dass der Wiederaufbau von alleine Kräfte freisetzte. Jetzt aber ist Deutschland in dem Status angekommen, in dem sich viele klassische Industrieländer befinden, nämlich, sich selbst neu erfinden zu müssen, weil es in bestimmten Bereichen der Ökonomie keine Chance gegen die billigen Werkbänke dieser Welt hat.

Selbst, wenn man die Arbeitsbedingungen genauso mies wie dort gestalten würde, hätte es keine Chance, weil es zu klein ist, keinen so aufnahmefähigen eigenen Markt hat wie der südostasiatische Raum. Einige europäische Länder fahren eine erfolgreiche Nischenpolitik. Aber schaut sich die deutsche Regierung davon etwas ab? Mitnichten. Sie wendet sich gegen die eigene Bevölkerung und versucht diese zu spalten, wo wie nur kann. Anstatt, dass wir alle gemeinsam nach einem Ausweg suchen, werden wir schamlos und bösartig gegeneinander aufgehetzt.

35 Jahre deutsche Einheit sind wahrhaftig kein Grund zum Freuen, sondern lösen große Trauer über viele verpasste Chancen aus. Von Chancen, die schon kurz nach der Wiedervereinigung vergeben wurden bis zu Chancen, die jetzt gerade vertan werden, weil wir keine Regierung haben, die wirklich die Einheit will, sondern das genaue Gegenteil anstrebt: teile und herrsche. Spalte und mache die Menschen damit wehrlos, weil sie sie nicht gemäß ihrer gemeinsamen Interessen zusammenschließen können.

Wir werden morgen wieder viele Reden hören, in denen die Situation massiv beschönigt wird, und es wird viel zu wenige Mahner geben, die darauf hinweisen, dass die Demokratie nicht nur in den USA, sondern auch hierzulande massiv in Gefahr ist. Das hat nicht nur wirtschaftliche Gründe, aber auch, und deswegen werden wir in den ersten Teilen dieser Reihe zunächst die wirtschaftlichen Grunddaten vorstellen, die viele Probleme auf einfacher Faktenbasis offenlegen, hinter denen weitere, strukturelle Fehlstellungen sichtbar werden.

Eine Art Grußwort verbietet sich unter diesen Umständen geradezu. Es gibt einfach zu wenig, was wir aktuell noch begrüßen würden. Das war vor ein paar Jahren noch anders, damals haben wir auch noch Chancen gesehen, das kann man in unseren Beiträgen nachlesen. Aber wir haben noch nie etwas von Zukleistern und Beschönigen gehalten. Und das führt dazu, dass wir den morgigen 35. Jahrestag der Wiedervereinigung eher als Trauertag ansehen. Es ist noch nicht alles verloren, aber es gibt ein riesiges Problem: Wir sehen weit und breit keine Aufbruchstimmung, schon gar nicht mit dieser Regierung. Eine solche wäre aber dringend notwendig, um einen „Ruck“ entstehen zu lassen, den es übrigens damals auch nicht wirklich gab, als er in einer denkwürdigen Präsidentenrede gefordert wurde. Was folgte war fantasieloses Herumtreten auf den Schwächeren, wie heute, nur noch nicht in dem Maße wie heute. Das Ergebnis sieht man heute. Es ist beschämend, was alles in diesen 35 Jahren versäumt und absichtlich nicht in die Wege geleitet wurde. 

Die nächstfolgenden Beiträge werden wir knapper halten oder mit mehr zusätzlichen Infos versehen, aber heute war für uns der Tag, an dem wir schon einmal auf 35 Jahre deutsche Einheit zurückblicken wollten. Die Feststellung, dass es nicht nur keine deutsche Einheit, sondern überhaupt keine Einigkeit gibt, kann man nicht nur an den letzten 35 Jahren festmachen, die Ursachen dafür reichen weiter zurück und man sieht ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern, aber man hat, wenn man diese betrachtet, eher das Gefühl, dass sie wieder einmal die Kurve bekommen werden, mit welchem Fahrstil auch immer. Aber Deutschland wirkt, als ob es überhaupt keine Lenkung hätte, die ein Crash der Demokratie verhindern oder wollte. Deswegen geben 35 Jahre Einheit vor allem Anlass zur Sorge, nicht zur Freude.

TH


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