Briefing Gesellschaft, PPP Politik Personen Parteien, Silvester, Böllern, Feuerwerk, Champagnerkorken und Kugelbomben, die Stadt, der Staub und der Tod, Kuss & Schluss, Raclette v. Fondue, Dinner for One oder Party für drei, Krapfen genießen oder Wachs gießen, Zivilisation oder Disruption
Zittern ist angesagt. Nicht überwiegend, weil es an diesen Weihnachtsfeiertagen ungewöhnlich kalt ist. Wir kennen die Zeit der Christusgeburt eher als eine Art Zwischenfrühling, üblicherweise man fragt sich, ob der Klimawandel nicht wenigstens mal für ein paar Tage Pause machen kann.
Nein, das eigentliche Zittern gilt der Silvesternacht. Werden uns wieder die Kugelbomben um die Ohren fliegen? Werden erneut unzählige Verletzte und diverse Todesfälle zu beklagen sein, verursacht durch Menschen, die pyrotechnische Erzeugnisse zur Begehung von Kapitalverbrechen verwenden?
Infografik: Was machen die Deutschen an Silvester? | Statista
Immerhin gibt es laut Statista fünf Dinge, die den Menschen hierzulande noch oder doch wichtiger sind, als sich selbst und andere zu gefährden und dabei einen gigantischen Haufen Dreck zu hinterlassen. Wobei der in Berlin ja nicht so auffällt wie in Gegenden, in denen es ansonsten sauber ist. Was also ist wichtiger als das alljährliche Selbstgefährdungsritual? Statista hat es in einer Grafik zusammengefasst, und die Zahlen sind durchaus aufschlussreich.
53 % stoßen mit Sekt oder Champagner an. Das ist wenig überraschend, denn Alkohol ist die deutsche Antwort auf alles, was man nicht anders lösen kann. 37 % küssen sich um Mitternacht, was wir durchaus als Fortschritt verbuchen, denn es ist immerhin ein Ritual, das ohne Feinstaub auskommt. Meistens jedenfalls. 34 % schauen „Dinner for One“, 31 % verfolgen den Neujahrs-Countdown im Fernsehen, 30 % schmelzen Raclettekäse, und 29 % lassen es krachen – im wörtlichen Sinne. Danach folgen 27 %, die eine Party schmeißen, 17 % mit Fondue und 12 %, die Berliner oder Krapfen essen oder Wachs gießen. Wachs gießen! Wir hatten das völlig vergessen. Ein Ritual, das so wirkt, als hätte es sich aus Versehen aus dem gemütlichen 19. Jahrhundert in das proto-dystopische Zeitalter verirrt.
Interessant ist die Sache mit den Partys: Wenn 27 % eine Party schmeißen, besteht die durchschnittliche Silvesterparty offenbar aus einem Schmeißer und drei Geschmissenen. Das erklärt vielleicht, warum man in Berlin kaum noch private Feiern hört – die meisten sind statistisch gesehen zu klein, um akustisch wahrnehmbar zu sein. Nun ja, den vorherigen Satz haben wir nicht selbst geschrieben, nicht alle, die sich am Texten beteiligen, wissen, wie laut ein einzelner Mensch in Berlin sein kann.
Und dann die Sache mit den Berlinern. Wir leben seit fast 20 Jahren in dieser Stadt und wissen immer noch nicht, was Berliner Krapfen sein sollen. Vermutlich heißen sie hier nicht so, wie Frankfurter Würstchen in Frankfurt auch nicht so heißen – aus naheliegenden Gründen. Wir essen sie trotzdem. Wo wir herkommen, heißen sie wirklich und einfach nur Berliner. Und wir mögen sie sogar. Allerdings waren sie bei uns eher eine typische Faschings- als eine Silvester-Leckerei.
Das private Feuerwerk, das pyrotechnische Symbol der allgemeinen Disruptionsgeneigtheit. Statista erwähnt es im Begleittext gar nicht erst. Vielleicht, weil man sie sich keine Kugelbombendrohungen einfangen wollen. 29 % der Menschen terrorisieren die Mehrheit – so ist Demokratie für diejenigen gemacht, die Freiheit immer dann einfordern, wenn sie möglichst viel Schaden anrichtet, und die Hände in die Hosentaschen stecken, sobald es um Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit geht.
Bei vielen muss man außerdem Nummer eins und Nummer sechs der Liste zusammen denken: Erst ordentlich sich die Kanne oder Dose geben, dann nach draußen torkeln und wahllos in die Gegend schießen. Eine Kombination, die jedes Jahr mit einer Mentalität den öffentlichen Raum verpestet wie ein Verbrenner, der eigentlich selber weiß, dass er von vorgestern ist.
Wir plädieren dafür, falls sich sonst nichts ändert, Halloween auf die Silvesternacht zu verlegen. In keiner anderen, nie sonst im Jahr, gibt es so viel authentisch abgetrennte Körperteile allüberall zu besichtigen, Menschen, die mit leeren Augenöhlen herumlaufen oder von anderen angezündet wurden, auf dass ein lustig warm Feuerlein das kalte Nachtdraußen flickernd erhelle. Riecht alles etwas verschmort, Blut spritzt, aber das steigert den Realitätsgrad oder den Eindruck von Kultkino à la Tarantino. Man muss nur eine klare Entscheidung treffen, ob man wirklich in diesem Film mittendrin sein will statt nur dabei, also auf der Straße oder doch nur von einem Balkon aus zuschauen vielleicht, der so hoch liegt, dass er kaum gefährdet ist. Die Welt ist eh ein großes Aktionstheater, und darin sterben die Leut.
Es sind keine theoretischen Risiken, die wir beschreiben. Nur ein paar hundert Meter von uns entfernt wurde vor einem Jahr eine Kugelbombe in einem leerstehenden Ladenlokal gezündet. Die Druckwelle hat Scheiben im ganzen Haus zerstört, die Haustür gleich mit. Ein Glück, dass niemand dort wohnte, der es vielleicht am Herzen hat … nun ja, wir wissen es gar nicht. Der Fall war in den Medien, freilich nach zwei Tagen aus den Schlagzeilen verschwunden, während die Schäden noch monatelang sichtbar blieben. Genau deshalb irritiert uns diese Gelassenheit, mit der manche das private Feuerwerk verteidigen, als ginge es um ein Grundrecht auf Selbstgefährdung mit Kollateralschaden. Für uns ist diese Bombenhagelhölle nicht abstrakt, sondern die Realität vor der Haustür. Das erinnert uns daran, endlich einmal die Partei in unserem Haus vorsorglich in der Silvesternacht einzusperren, die dazu tendiert, die Haustür festzuklemmen und stundenlang grundlos offenstehen zu lassen.
Wir haben es auch in diesem Jahr wieder nicht bekommen, das Innenstadt-Böllerverbot. Aber wir sind persönlich in einer Verbotszone beheimatet, und die wurde – wenn wir den Vergleich mit den Vorjahren richtig in Erinnerung haben – sogar ausgeweitet. Ein kleiner Fortschritt, der sich anfühlt wie ein Pflaster auf einer offenen Fraktur. Aber immerhin ein Pflaster.
Und die anderen Beschäftigungen? Jüngst hatte jemand in unserem Umfeld über „Dinner for One“ den Kopf geschüttelt. Nicht witzig, hieß es. Übergriffige, abgestandene Scherze auf Kosten von dementen Menschen. Ja, so kann man es sehen. Und was sagen demente Menschen dazu, die sich an ihre Traditionen erinnern, die noch gut rechnen können, vielleicht Abläufe früherer Feste reproduzieren, aber nicht mehr wissen, dass ihre Liebsten längst verblichen sind – ähnlich wie die alte Dame im Sketch? Wir sind zwiespältig bei diesem Thema. Aber eines wissen wir, seit wir uns mit Komödien aus der Frühzeit des Kinos befassen: Das Fallen über den Tigerkopf, der mitsamt Fell auf dem Boden liegt, war schon in den 1960ern, als „Dinner for One“ gedreht wurde, ziemlich oldschool. Es hieß zwar noch „Heia Safari!“, aber für den Zoo, nicht als Bodenbelag („Hatari“, 1961). Die Zoo-Ethik ist natürlich auch weiter. Tiere sind überwiegend der Ansicht, ihnen müsste die Freiheit gehören, den Menschen eine sichere Verwahrung, wo sie der Natur nicht so viel Platz wegnehmen und nicht so viel Schaden anrichten können.
Der Tiger kann nichts dafür, dass er als Requisit für „Dinner for One“ herhalten muss. Aber schalten Sie mal die Lacher ab, die wie bei einer Sitcom eingespielt werden, wenn der Butler über das tote Wildtier stolpert. Ton aus. Die Dialoge kennen Sie auswendig. Ist der Sketch ohne dieses kommandogebende Begleitlachen nach dem 50. Mal noch so grandios? Lachen ist ansteckend, das weiß jeder. Aber manchmal ist es auch nur ein Reflex, der sich verselbstständigt hat. Vielleicht ist „Dinner for One“ deshalb so beliebt: Ein selbsttragendes Konservenritual
Beim Thema Raclette, im Beliebtheitsranking knapp vor dem Feuerwerk und lange nicht so invasiv, mussten wir schmunzeln. Wir kennen es noch, aber es war eher keine Silvestertradition, sondern generell etwas, womit man Gäste in der kalten Jahreszeit ein wenig brutzeln lassen konnte oder ihnen das Gefühl vermitteln konnte, sie seien aktiv. Aktiv sein war damals ein richtiger Trend. Irgendetwas hatte dieses Essen tatsächlich, was gute Stimmung verursachte. Vielleicht war es die Mischung aus Wärme, Käse und dem Gefühl, dass man gemeinsam etwas tut, ohne wirklich etwas tun zu müssen.
Plastisch vor Augen steht uns aber eher das Fondue oder Fondüh. „In den See, in den See! Mit einem Gewicht an den Füßen!“, hieß es, wenn jemand zum dritten Mal ein Fleischstück im Topf verlor. Obwohl es nur ein Gartenteich war, in dem man sich eine Erkältung zuziehen, aber kaum ertrinken konnte. Heute gibt es keinen Topf und kein Fleisch mehr, und die Bestrafung für lost Tofu würde in den Berliner Gewässern vielleicht tatsächlich ernsthafte Folgen nach sich ziehen. Aber es gibt eine Gruppe von Menschen, bei denen wir da gar nicht so viele Skrupel hätten … was sie an Silvester machen, fängt mit B oder b an. Bier trinken ist nicht gemeint.
Vielleicht ist das die eigentliche Erkenntnis dieser Statista-Grafik: Silvester ist ein Kaleidoskop aus mehr oder weniger Quatsch, wie ein Nichtschwimmer in der tosenden See des kulturellen Wandels, der sich hartnäckig nach dem Untergang der Dampfmaschinen-Titanic über Wasser hält. Wie der Korken der letzten Champagnerflasche, der keine Ahnung hat, was er, am letzten Ufer angespült, mit sich selbst anfangen soll. Manche dieser Tätigkeiten sind harmlos, manche nostalgisch, manche nervig. Und manche müssen irgendwann mal weg, damit die Zivilisation wenigstens den Anschein wahrt, dass sie noch auf sich selbst Wert legt. Das private Feuerwerk vertreibt keine bösen Geister, es ruft sie herbei. Menschen verletzen sich und andere, Tiere flüchten unters Sofa, Scheiben klirren. Ausgerechnet am ersten Tag des neuen Jahres, wo doch eine saubere Hoffnung, eine frisch gewaschene Welt das Grundgefühl sein sollte, sieht es aus wie. Nein, wir benennen keine Berliner Viertel, die immer so ähnlich aussehen und wo gar nicht groß auffällt, was in der Silvesternacht hinzukommt.
Und vor allem: Wir geben die Hoffnung nicht auf. Jeder Tag ist ein neuer Tag. Und jedes Jahr bietet an 365 dieser Tage (oder 364) eine neue Möglichkeit, es besser zu machen. Vielleicht wird es irgendwann ein Silvester geben, an dem nicht nur die Mehrheit Bescheid weiß. Sondern die Politik aufhört, ausgerechnet dort, wo es nur schadet, auch den letzten Reaktionär mitnehmen zu wollen. Sie wird anerkennen, dass Traditionen auch dann schön sein können, wenn sie niemanden verletzen, nichts in Brand setzen und keine Luftqualität erzeugen wie anno 79 in Pompeji. Bis dahin zittern wir weiter – gerade jetzt mal vor Kälte, allgemein viel mehr vor dem, was in der Regel bereits Tage vor dem großen Gong wieder alles durch die Luft fliegen wird.
TH / ergänzt durch KI, von uns wiederum überarbeitet
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

