Ukrainische Wirtschaft leidet viel stärker als russische (Statista + Kommentar: Kriegswirtschaft, Krieg, Profit und kleine Leute) | Briefing 506 | Geopolitik, Wirtschaft

Briefing 506 Geopolitik, Wirtschaft, Ukrainekrieg, Russland, Ukraine, Deutschland, USA, Rüstungsindustrie, Waffenproduktion

Der Ukrainekrieg ist im dritten Jahr. Das große Hilfspaket der USA für die Ukraine ist nun doch auf dem Weg, nachdem die Republikaner es monatelang verzögert haben. Mit den Folgen dieser Verzögerung befassen wir uns heute aber noch nicht, sondern mit ein paar allgemeinen Wirtschaftsdaten Russlands und der Ukraine, die auf den ersten Blick spektakulär wirken.

Infografik: Ukrainische Wirtschaft leidet viel stärker als russische | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Trotz Sanktionen und Embargos geht es der russischen Wirtschaft besser, als viele im Westen sich wünschen dürften. Die Wirtschaft in der Ukraine hingegen leidet massiv unter dem russischen Angriffskrieg. Die Statista-Grafik illustriert mit Daten des Internationalen Währungsfonds das unterschiedliche Ausmaß der wirtschaftlichen Verwerfungen seit Kriegsbeginn. Demzufolge ist das Bruttoinlandsprodukt Russlands im ersten Kriegsjahr 2022 nur um 2,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr geschrumpft, das der Ukraine dagegen um rund 29 Prozent.

Ein ähnliches Bild zeigt sich im ersten Kriegsjahr beim Rückgang des Exportvolumens von Waren und Dienstleistungen, welcher in der Ukraine mit rund 45 massiv war, in Russland dagegen mit rund sieben Prozent deutlich geringer ausfiel. Russland konnte einen stärkeren Einbruch seiner Wirtschaft unter anderem dadurch verhindern, dass es den Export seiner großen Öl- und Gasvorräte ins Ausland nahezu konstant halten konnte. Der Anstieg der Verbraucherpreise und der Arbeitslosigkeit fiel in der Ukraine ebenfalls deutlich stärker aus.

Die Schätzungen des IWF gehen für beide Länder in den Jahren 2023 und 2024 von einer allmählichen Besserung der Lage aus. Die Daten geben jedoch jeweils die Veränderung zum jeweiligen Vorjahr an, die Ukraine würde sich somit nur leicht von einer sehr schlechten Ausgangslage des Jahres 2022 verbessern. Die Schätzungen sind insbesondere für das Jahr 2024 mit großen Unsicherheiten behaftet, da der Verlauf des Krieges schwer vorhersehbar ist.

Dass die Sanktionen gegen Russland nicht viel bringen, ist mittlerweile klar, deswegen werden sie ja auch ständig verschärft. Was wiederum dazu führen wird, dass Putin sich noch mehr in die Arme des Herrn Xi fallen lässt und damit womöglich auch die Chance vertan ist, Russlands europäische Tradition auf logische Weise mit den Interessen der EU zu verknüpfen. 

Die russische Wirtschaft wächst stärker als die deutsche (die derzeit gar nicht wächst), das ist auch bekannt. Russland konnte den Großteil seiner Exporte an andere Abnehmer umleiten. Aber nicht zum selben Preis wie vorher, sondern zu einem geringeren. Daraus kann sich eigentlich bei einem Land, dessen Wirtschaft vor allem aus Rohstoffexporten besteht, kein Wachstum ergeben. Woher kommt es also?

Aus der Kriegswirtschaft, im Wesentlichen jedenfalls. Rüstung ist hochgradig wertschöpfend, zählt in der Summe der Teile neben der Flugzeugindustrie, die ja wiederum auch in Teilen zur Rüstungsindustrie zählt,  zu den Produkten, in denen, auf die Masse gesehen, die meisten Rohstoffe und technischen Bauteile investiert sind. Je komplexer das Waffensystem, desto mehr trägt es zur Volkswirtschaftsleistung, zum BIP, bei. Die Konsumwirtschaft wird in diesen Zeiten nicht gestärkt, trotzdem ist die Inflation hoch. Dass es den Menschen, die nicht direkt mit dem Krieg zu tun haben, als Rüstungsarbeiter:innen, als Soldaten, als Hinterbliebene, so sarkastisch das klingt, besser gehen soll, nur wegen des marginalen Wirtschaftswachstums ab 2023, glaubt wohl niemand.

Dabei ist das russische Wirtschaftswachstum angesichts der Umstände alles andere als herausragend. In Deutschland hat die Volkswirtschaft im Ersten und im Zweiten Weltkrieg erheblich stärker zugelegt als jetzt in Russland, als auf Kriegswirtschaft umgestellt wurde. Vor allem die Zahlen des zweiten Weltkriegs sind wirklich spektakulär und belegen, dass eine militarisierte Gesellschaft tendenziell eine hochgradig wertschöpfende Industrie ausweist. Das erklärt zum Teil auch den anhaltenden Erfolg Israels beim wirtschaftlichen Vorankommen, denn heutzutage spielt dort nicht nur der Heimatschutz eine wichtige Rolle in der Rüstung, sondern auch der Export. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist der Exporterfolg ein bestimmender Faktor bei der Strategie der großen Rüstungshersteller und -nationen.

Dass die USA dabei die Nase vorne haben, ist bekannt. China wäre schon weiter, wenn man sich nicht scheuen würde, Rüstungstechnologie ins Ausland zu verkaufen. Wer weiß, ob das nicht auch darin begründet ist, dass dann enttarnt würde, dass sie noch nicht Weltspitze ist. Russland war beim Waffenexport immer die Nummer zwei (bzw. die Sowjetunion, vor deren Ende). Das wird von den „Friedliches-Russland“-Aposteln gerne mal vergessen. Hätte Russland insgesamt eine größere Wirtschaft, wäre deren Exportfähigkeit ganz sicher auch im Waffenexport begründet.

Leider fehlt insbesondere bei Darstellungen wie jener der Arbeitslosigkeit in Russland und der Ukraine eine wichtige Zahl: Die des Jahres 2021, als noch kein Krieg war, verbunden mit einer Darstellung nicht nur in Prozenten, sondern auch nominalen Einheiten; Personen oder Euro bzw. Dollar. In Russland beispielsweise lief die Wirtschaft seit der Krim-Annektion tendenziell schlechter als zuvor, die Sanktionen haben das Wachstum sehr wohl verlangsamt, aber es gibt auch interne Gründe dafür, dass es nicht mehr recht voranging. Was bei der Betrachtung der Kriegsgründe gerne außer Acht gelassen wird: Viele Regime in Bedrängnis führen auch Krieg, um Versagen in der Wirtschaftspolitik zu verdecken.

Nach 20 Jahren Putin hatte Russland ganz eindeutig nicht den Anschluss an die entwickelten Volkswirtschaften hinbekommen, trotz teilweise herausragender Rohstofferlöse, die man hätte zur Verbesserung der Infrastruktur und Technologieförderung einsetzen können, wie die arabischen Staaten es tun. Es gibt nicht ein einziges russisches Industrieprodukt, das weltweit Abnehmer findet – von der Rüstung abgesehen, siehe oben. Bevor Russland das einmal schafft, werden noch Dutzend asiatische und möglicherweise auch afrikanische Länder beim Pro-Kopf-BIP an Russland vorbeigezogen sein, die derzeit noch auf dem Sprung oder in Wartestellung sind. Sie warten darauf, von den arrivierten Staaten als weitere Werkbänke erschlossen zu werden.

Das russische Cliquensystem kann keine Hochleistungswirtschaft hervorbringen, und das Traurige ist, dass die Russen es nie anders kannten. Ob während des Zarismus, der Sowjetunion mit ihren gigantischen Industrialisierungplänen oder danach: Qualitativ konnte die Wirtschaft nie mit Topländern mithalten und der Mehrheit der Menschen ging es immer ziemlich bescheiden. Die gewaltige Ungleichheit in Russland ist ein Indiz dafür, dass es nicht besser werden kann. Zu ungleiche Gesellschaften sind traditionell ineffizienter.

Gleichwohl liegt darin natürlich auch eine Warnung an den Westen: Auch bei uns wächst die  Ungleichheit und die USA haben den Punkt im Grunde überschritten, wo sich eine zu große Kapitalansammlung bei zu wenigen gegen die Mehrheit und deren wirtschaftliches Potenzial kehrt. Die USA waren am erfolgreichsten, als die Steuersätze für die Reichen hoch lagen und der Mittelstand wuchs, nicht in erster Linie das Vermögen von ein paar Angehörigen der Geldelite.

Die Ukraine hingegen ist ein Desaster. Sie war schon vor dem Krieg wirtschaftlich im europäischen Maßstab besonders schwach, deswegen wären die absoluten Zahlen auch wichtig gewesen. Das Pro-Kopf-BIP war nur etwa halb so hoch wie das russische, was bedeutet, es liegt nicht einmal auf einem Viertel des westeuropäischen Durchschnitts. Da es sich um ein relativ großes Land  handelt, das jetzt noch einmal erhebliche Abschläge bei der Wirtschaftsleitung hinnehmen musste, können wir nur davor warnen, es in die EU aufzunehmen und wie alle anderen Länder dort zu behandeln. Die Transferleistungen in der Union würden noch einmal erheblich steigen und die Unzufriedenheit der Menschen quer durch die EU auch. Denn einige Länder, die jetzt per Saldo noch sehr von den Fördertöpfen der EU profitieren, würden plötzlich zu Nettozahlern, so groß wäre die Verschiebung auch dann, wenn man das Problem mit einem Ausbau des EU-Haushaltes zulasten nationeler Budgets erhöhen würde. Schon jetzt hält nur der wirtschaftliche Profit einige Länder noch in der Gemeinschaft. Deswegen zwiebeln die (Ex-) Regierungen Polens und Ungarns die anderen auch gerne, würden aber nie austreten. Eine Kommission, die trotz dieser Umstände einer schnellen EU-Integration der Ukraine das Wort redet, handelt unverantwortlich.

Was leider nicht aus den Statistiken hervorgeht: Wird das russisch besetzte Gebiet der Ukraine überhaupt noch der Ukraine wirtschaftlich zugerechnet? Etwa ein Fünftel des Gebietes ist besetzt, wobei es sich dabei nicht um die wirtschaftlich stärksten Regionen der Ukraine handeln dürfte, diese liegen eher im Westen, mit der Hauptstadt Kiew als Zentrum.

Ansonsten sind die Zahlen wenig überraschend. Die Ukraine ist das Land, in dem Krieg geführt wird, das seine wirtschaftliche Tätigkeit zum Teil einstellen musste, um alle Ressourcen für den Abwehrkampf zu bündeln. Anders als Russland hat die Ukraine keine Rüstungsindustrie in dem Ausmaß, dass aus dem Krieg noch ein wirtschaftlicher Vorteil erwachsen würde. Deswegen muss der Westen ja alles liefern. Aber selbst westliche Länder könnten sich nicht alleine verteidigen, sondern wären auf Zulieferungen von anderen notabene NATO-Staaten angewiesen.

Ein anderer Effekt trägt wohl derzeit ebenfalls kaum: Der Wiederaufbau. Er ist ebenfalls eine volkswirtschaftliche Leistung, wie man eindrucksvoll an der Geschichte der BRD ablesen kann, wo der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem westlichen Schutzschirm recht schnell vorankam. Das darin liegende Momentum wurde noch genutzt, inklusive niedriger Löhne bis in die 1960er hinein, um andere westeuropäische Volkswirtschaften knapp zu überholen, danach ließ man es ruhiger angehen. So ruhig, dass man jetzt auf einer Abwärtsschiene gelandet ist. Der „Turnaround“, von dem aktuell gesprochen wird, so er überhaupt stattfinden wird, ist nur auf einen kleinen Zeitausschnitt bezogen und meint nicht eine Rückkehr zu Wachstumszahlen oberhalb des Durchschnitts des Wachstums der Weltwirtschaft.

Während des Krieges kann man aber kaum diesen Wiederaufbau leisten, dafür fehlen die Ressourcen, teilweise ergibt es auch schlicht keinen Sinn, weil die erneute Zerstörung zu erwarten ist. Anderes gilt nur für die Versorgungsinfrastruktur, die immer wieder instandgesetzt werden muss, damit das Land nicht vollständig zusammenbricht. Wegen der aktuell nicht reparablen Zerstörungen wird die ukrainische Volkswirtschaft auch nicht davon profitieren können, dass das Land angegriffen wurde. Der Krieg findet eben in diesem Land statt, während Russland ihn auswärts führt, das ist ein erheblicher Unterschied. Nun wird niemand ernsthaft erwartet haben, dass der Angegriffene einen wirtschaftlichen Nutzen zieht. Aber zwingend ist diese Logik nicht. Während des Zweiten Weltkriegs war auch dies anders, das britische und das amerikanische BIP oder GDP expandierten ebenfalls explosionsartig, außerdem gab es die vorausgehende in Europa die Phase der Aufrüstung, die ebenfalls Wirtschaftswachstum schuf.

Was wir also in den nächsten Jahren auf jeden Fall sehen werden: Ein Wachstum der Weltwirtschaft, das auf der neuen Rüstungsspirale fußt, die jetzt in Gang gekommen ist, und die vor allem eines nicht tun wird: Den Wohlstand des „kleinen Mannes“ mehren. Sie wird diejenigen noch reicher machen, die Rohstoffe und Produktionskapazitäten beherrschen. Als „kleiner Mann“ können Sie höchstens ein paar Aktien von Rüstungsunternehmen kaufen, wenn Sie es ethisch vertreten können, und damit höhere Vermögenszuwächse erzielen als mit dem Sparbuch. Reich werden Sie dadurch natürlich nicht. 

Dass in der Ukraine die Menschen in jeder Hinsicht leiden, die vorher schon arm waren, ist bedrückend, und was wir auch sehen: Diejenigen, die nach Zentraleuropa flüchten, zählen im Wesentlichen nicht zu denen, die in der Ukraine arm waren, sondern die mobil und auch kundig sind. Wen es am meisten trifft, sind immer diejenigen mit den geringsten Ressourcen. Wem es nützt, sind immer diejenigen mit den meisten Möglichkeiten, vom Leid anderer zu profitieren.

Das ist eine Logik, die dazu führen müsste, dass wir sagen, dieser Krieg muss umgehend gestoppt werden. Es gibt aber noch eine andere, und die besagt, dass Angriffskriege nicht belohnt werden dürfen. Denn wenn es so kommt, dann wird sich die Rüstungsspirale noch schneller drehen, zulasten des Wohlstands der Zivilbevölkerung in vielen Ländern. Wenn hingegen trotz mittlerweile auch durch das Zögern der USA bedingter schlechter Voraussetzungen der russische Durchmarsch in der Ukraine noch gestoppt werden kann, dann hätte dies zumindest für den Westen den Effekt, dass Putin künftig von Eroberungsgelüsten Abstand nehmen und dadurch der Druck, die Verteidigungsausgaben wachsen zu lassen, geringer, die Begründung dafür weniger stichhaltig werden wird.

Sicherlich kann man die nächste Gedankenspirale drehen, indem man sagt, der Westen hat das alles provoziert und gibt sich jetzt als unter Verteidigungsdruck stehend, trotz seiner ohnehin riesigen Rüstungsausgaben. Es ist aber aktuell, wie es ist, und die Suche nach Fehlern in der Vergangenheit  führt nicht dazu, dass sich die aktuelle Lage ändert. Wir haben das bekommen, was wir alle auf eine Weise mitzuverantworten haben, durch unsere politische Unbedarftheit, beispielsweise. Wir haben der Politik nicht genug auf die Finger geschaut, und das wäre unsere Verantwortung im Westen gewesen. Denn die Menschen in Russland haben nicht die Möglichkeit, offen über Putins Politik zu diskutieren, ohne dass es für sie lebensgefährlich wird und manchmal tödlich endet.

Der Niedergang, die Zerstörung der Ukraine, und da führen mehrere Perspektiven und Argumentationsketten durchaus zu ähnlichen Ergebnissen, ist auch ein Werk, das wir zugelassen haben. Die Schlüsse, die man daraus wenigstens für die Zukunft ziehen muss, liegen auf der Hand. Werden wir die Politik stärker überwachen, damit sie nicht wieder einmal gegen die Logik der guten Nachbarschaft und Fairness auf geopolitischer Ebene handelt? Wir glauben das nicht. Wir werden deshalb weitere Wohlstandsverluste hinnehmen müssen. Gerade hat eine Studie ergeben, dass junge Menschen in Deutschland nicht gut drauf sind, dass sie sich angesichts der Entwicklungen ohnmächtig fühlen – und dass sie in der Folge nach rechts tendieren.

Daran können Sie sehen, dass einfach nicht die richtigen Schlüsse gezogen werden. Das hat viele Ursachen, eine grundlegende davon ist der menschliche Makel, dass er technisch zu sehr über das hinausgewachsen ist, was er an Empathie und Intellekt vorweisen kann.

Weil das so ist, kann auch die Politik nicht besser werden und wird es weiter Krisen und Kriege geben.

Ein paar schlichte Zahlen, interpretationsbedürfige obendrein, können dieses Ukraine-Desaster nur punktuell beschreiben, nie in seiner tatsächlichen Dimension darstellen. Trotzdem ist es wichtig, diese Zahlen zu lernen, um sie abrufen zu können, wenn es darum geht, in Zusammenhängen zu denken oder politisch zu argumentieren. Wir sind uns sowieso mit unseren Lesenden darin einig, dass wir zu jenen gehören, die sich nicht foppen und nicht vor lauter Angst und Unmut nach rechts treiben  lassen.

TH

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