Vergissmeinnicht – Tatort 760 #Crimetime 1213 #Tatort #Hamburg #Batu #NDR #Vergissmeinnicht

Crimetime 1213 - Titelfoto © NDR, Georges Pauly

Konzept und Tragödie

Die Undercover-Stories aus Hamburg mit Mehmet Kurtulus als Ermittler Cenk Batu sind bereits Vergangenheit. Genau in der Mitte der fünf Folgen, die von 2008 bis 2012 ausgestrahlt wurden, liegt „Vergissmeinnicht“.

Konzept und Schauspieler waren wohl neben der Einführung des verrückten Münster-Duos das Innovativste, was in den 2000er Jahren in die Tatortlandschaft gepflanzt wurde. Die Agenten-Variante hatte enormes Potzenziel. Nach Informationen aus der Wikipedia hatte der Schauspieler Kurtulus den Wunsch, die Zusammenarbeit mit dem NDR zu beenden, andere Quellen sprechen allerdings auch davon, dass man das Konzept nicht weiterführen wollte – trotz der starken letzten Episode „Der Weg ins Paradies“. Und wie ist Vergismeinnicht – zum niemals vergessen? Das klären wir in der -> Rezension.

Handlung

Immer wieder tauchen im Ausland geheime Konstruktionspläne der Aircraft Performance and Technologies (APAT) auf, einem Hamburger Triebwerkhersteller und Elektronik-Entwickler. Kommissar Cenk Batu soll als Pressereferent Sinan Afra für das Landeskriminalamt dem Industriespion auf die Spur kommen. Verdächtig ist der Entwicklungsleiter Holger Lichtenhagen. Als Sinan Afra zu dessen persönlichem Referenten befördert wird und Lichtenhagen ihn zu einem vertraulichen Gespräch bittet, hofft Batu, endlich mehr zu erfahren. Aber ehe es so weit kommt, wird die Leiche Lichtenhagens im Hamburger Hafen gefunden. Auf der Beerdigung macht Cenk Batu Bekanntschaft mit Mia Andergast, Lichtenhagens unehelicher Tochter aus einer fast vergessenen Beziehung, und gerät bald zwischen die Fronten.

Rezension

„Vergissmeinnicht“ hingegen ist wenig überzeugend. Das liegt nicht an den Schauspielern und auch nicht an der sehr gestylten Bildsprache des Filmes, die passt schon ganz gut zum Konzept und trägt viel zur heißkalten Atmosphäre bei. Aber es ist wieder einmal die Handlung, die auch nach dem zweiten Anschauen dieses Films (nach dem ersten Mal hatten wir uns gar nicht an eine Rezension herangetraut) nicht logischer wird.

Es beginnt damit, dass im Airbus-Werk Hamburg-Finkenwerder gefilmt wird, die Firma soll laut Inhaltsangabe ein Triebwerkshersteller sein. Die Triebwerke werden aber nicht dort hergestellt, wo dann die Flugzeuge zusammengebaut werden, sondern zugeliefert. Zudem geht es im Film plötzlich um einen großen Sprung in der Solartechnik, „Silizium 3“ genannt, also um ein ganz anderes Geschäftsfeld, das offenbar fremde Geheimdienste auf den Plan ruft. Dass ausgerechnet die Schweden hinter dieser Sache her sind, kann nur daran liegen, dass man für die üblicherweise nicht sehr positive Darstellung der Deutschen in Schwedenkrimis Revanche nehmen wollte.

Die Szenen in der Flugzeug-Endmontage wirken durch diese Verortung, als sei jemand in Anspielung auf den abstraktem Expressionismus zugange gewesen. Das war ein Scherz, aber diese seltsame Verschiebung ist typisch für „Vergissmeinnicht“. Nur eine Anhäufung von unlogischen Geheimdienst-Vorgehensweisen macht diesen Plot überhaupt möglich. Das Nebeneinander-Miteinander von BND und LKA nebst schwedischem (!) Geheimdienst als Gegner ist eine Handlungsanlage, die schon deshalb nicht funktioniert, weil der EDV-Teil so aufgebauscht wird. Man vergisst dabei aber, dass viele Volten gar nicht notwendig gewesen wären, da der BND ohnehin Zugang zur gesamten Technik der Firma hatte, weil deren Ermittler dort als Chef der EDV tätig ist und Batu hochwertvolle Tips wie „defragmentieren Sie mal“ gibt.

Ob ein V-Mann wie Batu so etwas haben kann, ist eine Sache, aber wir empfangen die Romanze mit Mia Andergast (Désirée Nosbusch) als eine der schönsten der Tatortgeschichte – dass die beiden Schauspieler im Realleben ein Paar sind, wussten wir zu dem Zeitpunkt nicht, das hatten wir erst im Lauf der Recherche für diese Rezension festgestellt. Die Tragödie des Films ist nicht, dass dessen Lovestory in einer Enttäuschung für Batu enden musste, eine solche steht einem V-Mann zu, der sich unprofessionellerweise verliebt. Vielmehr wird „Vergissmeinnicht“ dadurch entwertet, dass er so hanebüchen konstruiert ist.

Hätten sie nur richtig hingeschaut. Dass die Handlungsangabe der ARD-Quelle nur  die ersten Minuten umfasst, ist nachvollziehbar, denn danach wird es so unübersichtlich und unglaubwürdig, dass dies in einer schriftlichen Zusammenfassung des weiteren Handlungsverlaufes sehr auffällig würde.

Als ein Agent im Stil von James Bond, der nicht die Welt, aber immerhin technische Geheimnisse retten soll, ist Cenk Batu eine interessante Figur. James Bond hat sich nur in einem einzigen Film wirklich verliebt – „Im Geheimdienst ihrer Majestät“. Das ging so gründlich daneben, dass nicht nur der Schauspieler George Lazenby niemals mehr ihrer Majestät als 007 dienen durfte, auch das tragische Ende, das den Tod der Geliebten beinhaltet, gab es niemals zuvor und seitdem nie wieder in einem James-Bond-Film. Außerdem sind die Bonds weitgehend geschlossen konstruiert und deren Handlungen sind gut nachvollziehbar. Die Technik ist teilweise Science-Fiction, aber wenn man diesen Tatbestand akzeptiert, ist deren Einsatz logisch und das Gleiche gilt weitgehend für das Agieren der Geheimdienste. Immerhin stammen die Romanvorlagen von einem tatsächlichen Geheimdienstler, der weiß, worüber er schreibt (Ian Flemming).

Nicht so missglückt wie diese Handlung ist die Lovestory in „Vergissmeinnicht“, der seinen Titel, kryptisch und allegorisch wie so vieles in diesem Film von einem Wunderbaum hat, der in zeitweilig in Cenks Dienstfahrzeug hängt. Gleichzeitig spielt er auf das schwindende Gedächtnis des Managers Lichtenhagen an, der sich sehr viele Notizen machen muss, um seinem Job noch gewachsen zu sein. Diese Notizen fallen Cenk Batu nach dessen Tod in die Hände.

Das ist eine hoffentlich absichtliche Durchbrechung des coolen Agentencharakters, die wir mochten, ebenso die Anspielungen auf „The Thomas Crown Affair„, die sich in den Splitscreen-Einstellungen äußert und natürlich in der Schachszene mit Mia Andergast. Kenner hätten in diesem Moment merken müssen, dass Mia Andergast nicht die ist, die sie scheint.

Auf einer anderen Ebene funktioniert das Schachspiel zwischen den beiden allerdings nicht. Im Vorbild „The Thomas Crown Affair“ ist es ein Symbol für die knisternde Spannung, die sich zwischen zwei gleichwertigen Gegenspielern aufbaut, dem Millionendieb aus einer Laune heraus und der attraktiven und intelligenten Versicherungsagentin, die ihm auf die Spur kommt (Steve McQueen und Faye Dunaway). Sie weiß im Prinzip, dass sie den richtigen Mann an der Angel hat, kann ihm aber nichts nachweisen – er weiß, dass sie weiß, spielt aber Zug um Zug mit diesem Wissen und der Thrill liegt in diesem Duell, das Crown am Ende gewinnt, weil er sich im letzten Moment per Flugzeug absetzt, bevor er dingfest gemacht werden kann.

Ein Schachspiel ist ein offenes Kräftemessen, in dem es darum geht, wer am besten vorausdenken und auch die Mentalität des Gegners antizipieren kann. In „Vergissmeinneicht“ jedoch segelt Mia Andergast unter falscher Flagge bzw. Identität und ist, als das Schachspiel stattfindet, nur die Geliebte von Batu und die (vorgebliche) uneheliche Tochter des mittlerweile verstorbenen Managers Holger Lichtenhagen (Hansjürgen Hürrig). Das ist eine ganz andere Konstellation als im Filmvorbild. Dadurch ist die Szene ein formales Zitat, wirkt durch ihre Intimität, ist jedoch der Symbolik entkleidet. Die Liebesgeschichte im Ganzen hätte noch intimer gewirkt, wenn man die Filmfigur Mia Andergast nicht sechs Jahre jünger gemacht hätte, als Désirée Nosbusch wirklich ist. Der unkonventionelle Cenk Batu darf sich auch mit einer Frau einlassen, die ein paar Jahre älter ist als er. Dass man sich das nicht zu zeigen traut, aber das Alter der Figuren nennt, was gar nicht notwendig gewesen wäre, gehört zu den Ungereimtheiten und ist ein Zeichen dafür, dass das Konzept oft nur halbherzig und viel zu mutlos umgesetzt wird.

Nicht ausgespielt. Die vielleicht beste Figur in „Vergissmeinnicht“ ist der Manager Holger Lichtenhagen. Leider wird uns diese Figur nach wenigen Minuten entzogen. Das ist zu Recht in Tatorten selten zu sehen. Die erste Leiche ist normalerweise jemand, mit dem der Zuschauer sich nicht identifizieren kann wie mit diesem eckigen Mann. Man ist sofort auf seiner Seite, als er über die unsympathischen Figuren in seiner Abteilung herzieht, als er vertraulich mit Cenk Batu spricht und dabei eine erstaunliche Menschenkenntnis offenbart, indem er klar macht, dass er nur noch diesem Aufsteiger vertraut, welcher erst seit acht Wochen in der Firma tätig ist.

Der Tod von Lichtenhagen wird genausowenig einwandfrei entschlüsselt wie die Hintergründe des Diebstahls von Firmeninformationen. Es wird viel rochiert und getäuscht, auf eine mehr als unnötig für Dritte sichtbare Weise wechseln Dokumente ihre Besitzer und werden Fallen gestellt, wird dieses Agieren damit erklärt, dass nur physische Unterlagen als „sicher“ gelten – undsoweiter. Dieses Getue lässt den Film stellenweise langatmig und überkonstruiert wirken, beides sollte ein Agentenfilm aber nicht sein.

Man wollte mit der Figur Cenk Batu sehr viel, der NDR hat erkennbar ein ambitioniertes Projekt auf die Beine gestellt. In manchen Folgen funktioniert das recht gut, aber in „Vergissmeinnicht“ wollte man denn doch zu viel und ist zu kurz gesprungen. Die Spannung, welche das Thema grundsätzlich bietet und die in der V-Konstellation angelegt ist, wurde zugunsten stylisher, aber sinnfreier konspirativer Momente geopfert, der Verdacht, dass die Drehbuchschreiber von Tatorten nicht immer mit denen der von ihnen zitierten Filmvorbilder konkurrieren können, bekommt durch „Vergissmeinnicht“ wieder einmal Nahrung.

Finale

Die Bildsprache und die Figur Cenk Batu hätten „Vergissmeinnicht“ zu einem fesselnden und kompakten Stück Fernsehfilm machen können. Man muss einen V-Mann nicht so stilisiert cool wirken lassen wie James Bond oder gar den „Eiskalten Engel“ von Jean-Pierre Melville. Man kann ihm einen Moment der Emotion zugestehen, und es ist richtig, ihm das Objekt seiner Gefühle wieder zu entziehen. Aber man muss begreifen, dass man dem Publikum ein Mindestmaß an Respekt in der Form schenken muss, dass man nicht glaubt, durch formale Finessen und Allüren sämtliche Grundtechniken der Plotkonstruktion ersetzen zu können. Nur eine gute Handlung macht die hochmoderne Gestaltung eines Krimis zu einem Konzept, dem man sich als Zuschauer so rasch und vollständig anvertrauen mag, wie der Manager Lichtenhagen das gegenüber Cenk Batu tun wollte. Leider verstarb Lichtenhagen vor dem entscheidenden Treffen mit dem Agenten. Leider erstarb unser Vertrauen in den Film nur wenig später.

Aufgrund seiner starken Einzelmomente werten wir „Vergissmeinnicht“ noch mit 6,5/10, darin ist ein Bonus für die Figur Cenk Batu enthalten. Wir haben das gegenwärtig unbestimmte Gefühl, dass wir diesen Ermittler noch vermissen werden.

© 2024, 2020, 2012 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Ermittler Cenk Batu – Mehmet Kurtulus
Mia Andergast – Désirée Nosbusch
Thomas Hanau – Patrick von Blume
Nathalie Bertram – Luise Helm
Anne Thomsen – Marie-Lou Sellem
Uwe Kohnau – Peter Jordan
u.a.

Drehbuch – Christoph Darnstädt, Tim Krause
Regie – Richard Huber
Kamera – Martin Langer
Musik – Dürbeck & Dohmen

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