Leerstelle Ostdeutschland: Das Grundgesetz und Ostdeutschlands fehlende Spuren (Verfassungsblog + Kommentar) | Briefing 534 Update | 75 Jahre Grundgesetz, Recht, DiG Demokratie in Gefahr

Briefing 534-UP DiG, 75 Jahre Grundgesetz, Ostdeutschland, Landesverfassung Brandenburg

Liebe Lesesr:innen, der Samstag ist der Tag für etwas tiefergehendere Betrachtungen, überschlägig – betrachtet. Unser Leitkommentar zum 75-jährigen des Grundgesetzes, das am 23.05.1949 für die damaligen Westzonen in Kraft getreten war (75 Jahre Grundgesetz), ist dabei immer interessanten Ergänzungen zugänglich, zu ihnen rechnen wir das heutige Editorial des Verfassungblog. Er beleuchtet, inwiefern die Geschichte der Ostdeutschen im Grundgesetz repräsentiert ist. Unser Kommentar wie immer im Anschluss.

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Leerstelle Ostdeutschland

Das Grundgesetz und Ostdeutschlands fehlende Spuren

Anlässlich seines 75-jährigen Jubiläums lässt sich konstatieren: Das Grundgesetz ist eine gute Verfassung – mit seinem ausgeprägten Grundrechtsschutz und den in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätzen schützt es auch die Interessen jener, die nicht an den Schalthebeln der Macht sitzen. Stolz sind wir darauf, dass es Lehren aus der deutschen Geschichte abbildet. Die Unterstützung in der Bevölkerung ist entsprechend groß. Aber Spuren der ostdeutschen Geschichte finden sich in der Verfassung nicht.

Das wollte 1990 ein Großteil der ostdeutschen Bevölkerung auch so. Die Einheit sollte möglichst schnell als Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 GG (alt) erfolgen. Die frei gewählte Volkskammer befasste sich nicht mehr mit dem Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tischs der DDR. Sie nahm in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990 mit überwältigender Mehrheit den Antrag der Fraktionen der CDU/DA, DSU, FDP und SPD für den Beitritt an. Weit über 80 % der Ostdeutschen fanden diesen Weg richtig. Zwar gab es in der DDR-Bürgerrechtsbewegung, in der SPD und bei den Grünen Stimmen für eine neue gesamtdeutsche Verfassung, aber die meisten waren der Meinung: Das Grundgesetz hat sich bewährt, eine neue Verfassung ist nicht nötig. Daher wurden Diskussionen, die für das Verständnis des historischen Vorgangs und die Bedeutung des Grundgesetzes wichtig gewesen wären, nicht in der notwendigen Breite geführt, sondern nur in einschlägigen intellektuellen und politischen Kreisen.

Die Änderungen infolge des Einigungsvertrags waren minimal. So wurde in der Präambel (ebenso wie in Art. 146 GG) festgestellt, dass die deutsche Einheit vollendet sei und der provisorische Charakter des Grundgesetzes gestrichen. Der alte Art. 23 GG war nun ebenfalls entbehrlich. Bundesländer mit mehr als sieben Millionen Einwohnern erhielten sechs Stimmen im Bundesrat, womit die Sperrminorität der großen Länder bei Verfassungsänderungen gesichert blieb. Und in den neuen Ländern durften Gesetze bis spätestens Ende 1992 bzw. bestimmte Gesetze bis 1995 unter bestimmten Bedingungen vom Grundgesetz abweichen.

Eine im Zuge der Beitrittsverhandlungen vereinbarte Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat sollte über mögliche weitere Änderungen des Grundgesetzes beraten. 1994 wurden dann unter anderem die Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau durch den Staat, das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderungen (beides Art. 3 GG), das Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG), die Möglichkeit des Bundes, im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung tätig zu werden, wenn das Ziel die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ist (Art. 72 GG; vorher hieß es: „die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“),  sowie eine Abweichung von der allgemeinen Regelung für Länderneugliederungen für die angestrebte Fusion von Berlin und Brandenburg (Art. 29, 118a GG) festgeschrieben.

Diese und weitere Änderungen können kaum als Lehren aus dem Bestehen des zweiten deutschen Staates oder Impulse aus der friedlichen Revolution betrachtet werden, auch wenn der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen für die Bürgerrechtsbewegung in der DDR aufgrund der Umweltverschmutzung in Teilen der DDR ein wichtiges Anliegen gewesen war. Und ja, es gab Einheitsbezüge, etwa bei der Herunterstufung der Wahrung der einheitlichen auf gleichwertige Lebensverhältnisse als Grund für ein Tätigwerden des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Diese Änderungen trugen den unterschiedlichen sozioökonomischen Rahmenbedingungen Rechnung, waren aber keine Lehre aus der Geschichte.

Dass sich die Erfahrungen der Ostdeutschen nicht im Grundgesetz niederschlugen, fällt umso mehr auf, wenn man berücksichtigt, dass in der Zeit wichtige andere Verfassungsänderungen beschlossen wurden, etwa die Einfügung des Europaartikels, die Asylrechtsreform sowie die Privatisierung der Bundeseisenbahnen und Bundespost.

Die vielleicht wichtigste Grundgesetzänderung infolge des Einigungsvertrags erfolgte aber erst 2006: In Art. 22 GG wurde ergänzt, dass Berlin die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist. Aber auch hier ging es zu diesem Zeitpunkt gar nicht (mehr) um die deutsche Einheit, sondern Hintergrund war der Wunsch, das finanzklamme Land Berlin durch Sonderzuweisungen des Bundes für die Erfüllung der Hauptstadtfunktion zu unterstützen. In den 1990er Jahren war die Hauptstadtfrage hingegen ein heißes Eisen gewesen; gegen den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin gab es viel politischen Widerstand.

Welche Spuren der ostdeutschen Geschichte hätten im Grundgesetz Niederschlag finden können? Das lässt sich in Brandenburg besichtigen, wo das Recht auf Achtung der Würde des Menschen im Sterben und das Verbot wissenschaftlicher Versuche am Menschen (beides Art. 8) sowie die Anerkennung der Schutzbedürftigkeit nichtehelicher Lebensgemeinschaften (Art. 26) in die Landesverfassung aufgenommen wurden. Es wurden direktdemokratische Instrumente auf Landes- und kommunaler Ebene eingeführt. Anerkannte Umweltverbände erhielten das Recht auf Beteiligung an Verwaltungsverfahren, die die natürlichen Lebensgrundlagen betreffen, und das Land wurde dazu verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass auf dem Landesgebiet keine ABC-Waffen entwickelt, hergestellt oder gelagert werden (beides Art. 39 [9]). Das Land wurde außerdem verpflichtet, eine breite Streuung des Eigentums, insbesondere die Vermögensbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch Beteiligung am Produktiveigentum zu fördern (Art. 41) sowie im Rahmen seiner Kräfte durch eine Politik der Vollbeschäftigung und Arbeitsförderung für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit zu sorgen (Art. 48). Zudem sollte es verpflichtet werden, auf die Abschaffung des § 218 hinzuwirken, in dem ein Schwangerschaftsabbruch unter Strafe gestellt war – ein Passus, der später gestrichen wurde, um der CDU entgegenzukommen.

Natürlich trugen diese Inhalte eine weltanschauliche Handschrift. Die SPD-geführte Landesregierung hatte 1991/92 ein Interesse daran, der konservativ-liberalen Mehrheit im Bundestag etwas entgegenzusetzen. Aber auch die unter einer CDU-Alleinregierung verhandelte Landesverfassung Sachsens enthält Inhalte, die als Spuren ostdeutscher Geschichte verstanden wurden: Das Land erkennt das Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Dasein, insbesondere auf Arbeit, auf angemessenen Wohnraum, auf angemessenen Lebensunterhalt, auf soziale Sicherung und auf Bildung, als Staatsziel an (Art. 7), fördert den vorbeugenden Gesundheitsschutz für Kinder und Jugendliche sowie Einrichtungen zu ihrer Betreuung (Art. 9), definiert den Schutz der Umwelt als Pflicht des Landes und Verpflichtung aller im Land (Art. 10), regelt Grundsätze für den Fall einer Freiheitsentziehung, bindet Förderung (und Entlastung) von Familien nicht an die Ehe und erweitert sie auf die Betreuung von Hilfsbedürftigen, d.h. nicht nur von Kindern (Art. 22). Dies drücke „das Streben nach Gerechtigkeit, nach friedlichem Zusammenleben der Menschen und nach dem Erhalt einer lebenswerten Umwelt“ aus, so Landtagspräsident Rösler. Die ostdeutschen Landesverfassungen bildeten in verschiedenen Varianten den Willen zum sozialen Ausgleich in der Verfassung ab und die Verankerung direktdemokratischer Instrumente wurde als Verpflichtung gegenüber der friedlichen Revolution von 1989 empfunden. Im Kontrast dazu wird das Grundgesetz trotz des verankerten Sozialstaatsprinzips von vielen nicht als soziale Verfassung wahrgenommen und auch nicht als eine, die den Menschen unmittelbare Mitsprache ermöglicht.

Ostdeutsche Politiker betonen häufig, dass die Landesverfassungen gerade auch wegen der Bezüge zur eigenen Geschichte eine große identitätsstiftende Kraft haben. Diese Kraft hat das Grundgesetz nicht, denn Ostdeutsche sehen darin kaum Spuren ihres eigenen Tuns und ihrer Geschichte. Sie übernahmen es 1990 freiwillig und unterstützen es weit überwiegend, aber die Zustimmung basiert auf der Akzeptanz seiner Funktionalität, weniger auf Emotionen. Zudem geht selbst Zustimmung mit teils unterschiedlichen Vorstellungen davon einher, was die Bestimmungen bedeuten und was Demokratie ausmacht. Ostdeutsche sind häufiger der Ansicht, dass das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes nicht umgesetzt wird (was sich etwa an ihrer Unterrepräsentation in nahezu allen Sektoren festmachen lasse) und dass Parteien einen viel größeren Einfluss haben, als das Grundgesetz suggeriert. Viele wünschen sich Möglichkeiten einer direkten Einflussnahme auf die Bundespolitik, ergänzend zu Wahlen von Vertretungsorganen und zur Mitwirkung in Parteien.

Das Grundgesetz ist eine gute Verfassung, aber auch nach dem Jubiläum gibt es viel Stoff für ein gesamtdeutsches Nachdenken über seine Leitideen und Inhalte, Geschichte und Praxis.

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Bezüglich des schlechten Zustands des Sozialstaatsprinzips in der Praxis halten wir fest, vermutlich hat die Autorin unseren Artikel gelesen. Vermutlich nicht, aber wir stimmen zumindest grundsätzlich überein. Wir haben unseren Beitrag zu 75 Jahre Grundgesetz auch mit den Mängeln in diesem Bereich im Vergleich zur massiven Überbewertung von Art. 14 I GG zentriert. Das ist auch ein ostdeutsches Thema, obwohl wir es nicht aus dieser Perspektive beleuchtet haben. Ostdeutsche sind bei der Vermögensbildung massiv im Nachteil gewesen, weil gerade dort, wo reiche Westler andere besonders ausbeuten, auf dem Wohnungssektor, alle bei Null anfangen mussten.

Ja, sie haben zugestimmt, zu 80 Prozent. Die Volkskammerwahl im März 1990 war auch eine Abstimmung über das Grundgesetz als künftige gemeinsame Verfassung. Wer daran zweifelt, der fängt mit der Kritik an der falschen Stelle an.

Was im Editorial nicht erwähnt wird: Die Zustimmung des Jahres 1990 war für immer. Es gab keine weitere Möglichkeit, sich zum Grundgesetz zu äußern. Fünf Jahre später wäre die Zustimmungsrate erheblich niedriger gewesen, davon dürfen wir mit großer Sicherheit ausgehen. Denn fünf Jahre haben gezeigt, wie die Ostdeutschen von eingewanderten Westdeutschen dominiert wurden, wie ihre Wirtschaft abgewickelt wurde, wie sie überall in leitenden Funktionen unterrepräsentiert waren und es noch heute sind.

Unser Herangehensweise an 75 Jahre Grundgesetz war auch westdeutsch, keine Frage. Alle Problemje, die wir sehen, sind für uns gemeinsame deutsche Probleme, der Grundgedanke ist, wenn wir zum Beispiel den Gleichheitsgrundsatz und die Sozialstaatlichkeit in der Praxis ernster nehmen würden, dann wäre allen geholfen. Denen, die besonders bedürftig sind oder unter einem besonders großen Mangel an Gerechtigkeit leiden, wäre am meisten geholfen. Und natürlich haben wir im Hinterkopf, wie viel Geld in den Osten geflossen ist, das im Westen gefehlt hat und wie sehr ökonomisch unser Denken doch bestimmt ist, das war uns durchaus klar. Es ist ein Geben und nehmen und wir haben viel gegeben und wenig Demokratiefreundlichkeit zurückbekommen, aus heutiger Sicht, die nächsten Wahlen werden das sehr deutlich zeigen, wenn nicht die AfD sich selbst komplett auseinandernimmt. Das ist für uns schlimm. Und es spiegelt unsere Sozialisierung. Eine Sozialisierung, die konkret nicht einmal Ostverwandtschaft beinhaltete. Die keine Reise in den Osten vor 1990 beinhaltete.

Wir können nicht in den Schuhen der Ostdeutschen gehen, auch wenn wir mittlerweile, insbesondere seit unserem Umzug nach Berlin, viele von ihnen kennengelernt haben. Gerade gestern habe ich mit jemandem über die Europawahlen diskutiert und gesagt: Ich teile nicht alles was Briten und Franzosen denken, aber ich verstehe sie, verstehe die Ideen und die Herkunft dieser Ideen, die hinter ihren Ansichten sichtbar werden. Wenn ich Ostdeutsche reden höre, habe ich noch heute manchmal nichts als Fragezeichen im Kopf, die man mir hoffentlich nicht zu deutlich ansieht.

Wir können daher also nicht ermessen, was die Menschen wirklich umtreibt, wenn wir nicht durch jahrelanges Leben im Osten und eine Partnerschaft dort die Sozialisierung quasi nachholen konnten, zumindest zum Teil. Wir wohnen im Westen von Berlin und haben auch die persönlich Chance nicht wahrgenommen, die durchaus bestand, aber da war eben auch immer der ostdeutsche Gap. Manchmal, ja häufig, haben wir nicht verstanden, warum wir ständig angemacht wurden, warum man das Bedürfnis hatte, uns etwas mitzuteilen, uns gar herauszufordern. Wir sind immer noch keine Fans davon, für alle Ungerechtigkeiten der Welt verantwortlich gemacht zu werden, zumal wir uns in diesem Blog für eine Form von Gerechtigkeit einsetzen, die weit über die deutsche Perspektive hinausgeht. In der Tat schließt diese Gerechtigkeit auch das innerdeutsche Verhältnis ein, aber ganz selten erwähnen wir das auch. Im Gegenteil, wir sind sauer auf die extremen Rechtstendenzen dort.

Es gibt viele historische Gründe dafür, die können wir sehr wohl analysieren, und sie gehen tiefer in das System der DDR hinein, als es Ostdeutsche heute gerne wahrnehmen, wo die DDR schon fast als die goldene Vergangenheit gilt, befördert natürlich von politischen Kräften, die nicht an der Wahrheit, sondern an Ideologie interessiert sind.

Ein zweiter Aspekt spielt eine Rolle, wenn es um die Lebenswirklichkeit geht. Das Grundgesetz mit seiner offensichtlich einseitigen Auslegung in der Praxis, die ihm viel von seiner eigenen Würde genommen hat, hat einen Vorteil gegenüber den erwähnten Landesverfassungen: Sie schreiben Dinge fest, die im Osten genauso wenig Wirklichkeit sind wie im Westen, wo sie nicht oder nicht in diesem Umfang in den Landesverfassungen festgehalten sind. Das Grundgesetz ist zurückhaltender und kann daher nicht auch noch an Zielen gemessen werden, die es bisher nicht kennt. Außerdem ist nun einmal Landesrecht, auch Landesverfassungsrecht, nachrangig gegenüber dem Grundgesetz. Wenn es über die Standards des Grundgesetzes hinausgeht, sehr gut, aber in Deutschland wirklich gesichert sind nur diese, und nur, soweit die aktuelle Auslegungspraxis bei den Grundrechten geht. Würde zum Beispiel jemand ein Landesverfassungsgericht anrufen und dort obsiegen, weil es eine spezielle Regelung gibt, die er für sich erfolgreich beanspruchen kann, könnte der Gegner zum Bundesverfassungsgericht gehen und wenn dieses anders entscheidet, dann gilt diese Entscheidung (vorbehaltlich der EU-Ebene, auch das GG ist nicht mehr uneingeschränkt höchstes Recht in Deutschland).

In Brandenburg und Sachsen mag die faktische Ungleichheit geringer sein als im Westen, weil es dort nicht die Superreichen gibt, die schon lange vor der Wende riesige Vermögen zusammenraffen und vererben konnten. Das ist aber kein Ausfluss von Staatszielbestimmungen, von aktiver Steuerung der jüngeren Politik, die unbedingt verhindern will, dass es genauso kommt wie im Westen, sondern eine Folge der ungleichen Lebensverhältnisse in Ost und West, wie sie historisch gewachsen war. Wir glauben nicht, dass die zusätzlichen Bestimmungen in den östlichen Landesverfassungen die Lebenswirklichkeit stark beeinflussen.

Und damit sind wir wieder beim Gap zwischen Prinzipien und deren Normierung und sogar den daraus erwachsenden Ansprüchen und der Wirklichkeit. Die Menschen im Osten sind, das meinen wir immerhin wahrnehmen zu können, vielmehr auf den Wortlaut der Dinge fixiert als Westler, die über Jahrzehnte gelernt haben, eine Art Übersetzer für den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu verwenden. Und dann noch die DDR-Versprechen, die nicht einzuhalten waren, und jetzt schon wieder die Benachteiligung und dies alles.

Hätte man also das Grundgesetz nicht nachträglich noch anpassen müssen, um dem Osten mehr gerecht zu werden. Um es ganz offen zu schreiben: Je mehr man das Grundgesetz aufbläht, ohne dass die Wirklichkeit sich verbessert, desto mehr wird die Akzeptanz für das Grundgesetz sinken. Außerdem sind bestimmte Erweiterungen typische Fälle von Fass ohne Boden. Die Autorin hat erwähnt, dass der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG bereits um immer mehr Gruppen ergänzt wurde, gegenwärtig sieht sich die LGBTIQ*-Gemeinschaft noch nicht genügend repräsentiert und hätte gerne eine weiter Erweiterung bezüglich der sexuellen Identität, nicht nur des Geschlechts, das steht ja drin, ist aber etwas anderes. Entweder sieht man die Grundrechte als Leitlinien, das BVerfG hat dann ihren Anwendungsbereich und ihre Grenzen zu konkretisieren, Landesrecht hat sie auszuformen, oder man erstellt immer mehr Kataloge, die einer Verfassung die Klarheit und Schönheit nehmen, die beim GG ohnehin stellenweise schon arg ramponiert wurden. Ja, Ästhetik und Recht, das passt eh oft nicht zusammen, aber Klarheit?

Ja, auch das. Denn je mehr man ins Katalogisieren kommt, desto mehr werden sich immer weitere Gruppen finden, die auch noch gerne in den Katalog möchten. Den Wunsch, Dinge eindeutig im Text zu sehen, können wir schon nachvollziehen, die Rechtssystematik erfordert aber nicht, dass sie alle direkt im Grundgesetz stehen müssen. Man will sie dadurch wetterfest machen, auch das wird im Editorial erwähnt. Deswegen haben wir als Beispiel für eine Entwicklung, die auch ihre Schattenseiten hat, den Vorgang LGBTIQ* und Art. 3 GG erwähnt. Man will noch schnell etwas verfassungsrechtlich absichern, bevor uns Ende 2025 eine CDU-geführte Regierung erwartet, die „kein Interesse an einer Änderung haben wird.“ Dass eine Änderung auch jetzt die Zustimmung der Union erfordern würde, weil dazu eine Zweitdrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich ist, wird dabei gerne vergessen. Im Bundestag würde auch die AfD sicher nicht für ein Änderung stimmen, im Bundesrat führt die CDU den überwiegenden Teil der Landesregierungen an.

Wir finden also eher, am Grundgesetz wurde schon zu viel herumgeschraubt, und das fußt auf einem Mangel an Vertrauen in die gelebte Verfassungswirklichkeit und damit auch ins Grundgesetz. Wo es hingegen gravierende Mängel gibt, und dagegen ist bislang auch in keiner Verfassung eines ostdeutschen Bundeslandes und in den zugehörigen Verfahrensvorschriften und damit bezüglich der Vorgaben für einfaches Recht meines Wissens etwas passiert: Wie sichere ich die Verfassungen, die Demokratie, die Freiheit besser gegen den Rechtspopulismus? Im Grunde nicht untypisch, dass das von uns Westlern in den Vordergrund gerückt wird, als ein besonderes Erfordernis dieser Zeit gerade im Osten im Editorial keine Erwähnung findet. Dabei ist ein Teil der Biografie des Ostens auch, dass die Demokratie dort besonders stark und akut gefährdet ist.

Jetzt wäre es dringend notwendig, sich in einer gemeinsamen Anstrengung um die Sicherung der Demokratie zu kümmern. Dass viele Menschen im Osten enttäuschter sind von der Demokratie, die wir haben, als die meisten im Westen, ist auf ganz einfacher Ebene zu erklären und darunter gibt es ganz viel Subtext, den man analysieren kann, ohne sich in die Lage von jemandem versetzen zu müssen, der ganz anders aufgewachsen ist als man selbst. Die Berücksichtigung von psychologischen Mechanismen, wie sie bei allen Menschen wirksam sind, hilft dabei. Wir hätten das Grundgesetz lieber schlanker, als es mittlerweile ist. Es setzt Fett an und die Wirklichkeit entfernt sich immer weiter von den Idealen, die seine ursprüngliche Form geleitet haben. Nur symbolisch sollte man keine Rechtsnormen weiter auffüllen, sondern dafür sorgen, dass sich die Verfassung in einem humanistischen und die Menschenwürde wahrenden Sinne in der gelebten Wirklichkeit wiederfindet. Wenn bestimmte Ziele endlich erreicht sind, kann man immer noch sagen, wir mach jetzt weiter und suchen uns neue, zusätzliche Ziele. Wir sind gegen eine Fassade, die viel schöner ist als das, was sich dahinter abspielt und die immer mehr aufgehübscht wird, ohne dass sich die Vorgänge dahinter positiv verändern. Wir halten es gerade angesichts des fragilen Verhältnisses vieler im Osten zur Demokratie für angezeigt, keine weitere Verfassungslyrik mehr zu betreiben, sondern den Bestand erst einmal zu sichern. Wir hatten schon überlegt, eine Ausnahme zu etablieren: plebiszitäre Elemente. Aber gerade diese Ausnahme zuzulassen, könnte im Moment zu höchst unerfreulichen Ergebnissen führen. Das muss man wissen, wenn man die direkte Demokratie dadurch stärken will, dass man undemokratische Ansichten möglicherweise in direkt ausgedrücktem Bevölkerungswillen dokumentieren will. 

Wir betonen aber, dass wir uns auf das Hier und Jetzt beziehen. Was man vor 30 Jahren hätte anders machen können, damit die heutigen Probleme vielleicht nicht in dem Maße entstanden wären, ist eine andere Frage, die wir an dieser Stelle nicht diskutieren können.

TH

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