Westliche Waffen auf russischem Gebiet einsetzen: Völkerrecht muss im Ganzen gedacht werden, und das Risiko auch | Briefing 536 | Geopolitik, Ukrainekrieg

Briefing 536 Geopolitik, Ukrainekrieg, Russland, Ukraine, Fernlenkwaffen, Raketen, Einsatz auf russischem Staatsgebiet, Völkerrecht, Eskalation, Schlag und Gegenschlag

Es wundert uns gerade, dass die heutige Civey-Umfrage sich mit Boris Pistorius und seiner Eignung als Kanzlerkandidat der SPD befasst und nicht mit dem Thema, das seit gestern den Ukrainekrieg erneut in den Vordergrund rückt.

Der amerikanische Außenminister Anthony Blinken will Präsident Biden dazu bewegen, dass die Ukraine von den USA gelieferte Waffen auch auf russischem Territorium einsetzen darf. Offenbar ist das Umdenken vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj bei seinem letzten Besuch in den USA Mitte Mai bewirkt worden. Konkret wird gegenwärtig die zweitgrößte und strategisch wie symbolisch enorm wichtige Stadt Charkiw von russischem Territorium aus mit Bomben angegriffen.

Wie zu erwarten, ist auch in Deutschland die Diskussion über den Einsatz deutscher Waffen auf russischem Territorium aufgekommen. Ganz vorneweg pro Einsatz die Grünen in Person von Anton Hofreiter.  „Das Völkerrecht erlaubt es einem angegriffenen Staat, militärische Ziele im Land des Aggressors zu attackieren.“[1]

Wir haben schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass dem so ist und dass es im Sinne der Verteidigung der Ukraine suboptimal ist, dass sie Waffen nicht so einsetzen kann, wie sie maximal eingesetzt werden können. Die ukrainischen Streitkräfte greifen immer wieder Ziele in Russland an, aber, soweit bekannt, mit selbstgebauten Drohnen.

Die amerikanische Diskussion ist folgerichtig und die Prämissen sind: Die USA liefern bereits Waffen, die wirksamer eingesetzt werden könnten, wenn man es erlauben würde. Die USA selbst sind so gut geschützt, dass sie keine Konsequenzen daraus fürchten müssen, dass sie damit ein Stück mehr an den Status eine Kriegspartei heranrücken.

Das Völkerrecht ist eindeutig, das sehen wir auch so. Das von Hofreiter Zitierte gilt aber nur für Kriegsparteien, nicht für Dritte. Noch ist Deutschland nach Definition der Bundesregierung  ein dritter Staat, keine Kriegspartei. Wann genau die Grenze zur Kriegspartei überschritten wird, hängt im Wesentlichen davon ab, wann Russland als Gegenseite diesen Tatbestand als gegeben ansieht. Bisher gibt es kein entsprechendes Signal. Das könnte sich ändern, wenn deutsche Waffen in Russland eingesetzt werden. Da Russland Deutschland nicht angegriffen hat, wäre es in diesem Fall die verteidigende Partei und hätte das Recht, auf den Einsatz deutscher Waffen in Russland mit einem Schlag gegen Deutschland zu reagieren. Der Angreifer gegen ein Land kann sehr wohl der Verteidiger gegen ein anderes sein.

Deutschland hat bis jetzt nicht einmal die Taurus-Marschflugkörper geliefert, die ein gutes Stück weit nach Russland vordringen könnten, wenn man sie so programmieren würde. Deswegen ist diese Diskussion hierzulande zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht und heizt unnötig die Emotionen an. Was aber wäre, wenn Taurus geliefert und in Russland eingesetzt würde? Müsste gewährleistet sein, dass die Ukraine nur militärische Ziele damit angreift? Oder wäre die Reziprozität vollständig herzustellen: Russland tötet ukrainische Zivilist:innen, also dürfte die Ukraine mit deutschen Waffen auch russische Städte bombardieren. Solche Fragestellen lassen grüne Kriegsstrategen, die noch nie einen Tag bei der Bundeswehr verbracht haben, zumindest nicht als deren Mitglieder, gerne weg. Und natürlich lassen sie weg, dass Deutschland nicht in der gleichen Position ist, wie wir es für die USA kurz umrissen haben.

Deutschland ist selbst nicht atomar geschützt und liegt viel näher an Russland. Zumindest ein konventioneller Gegenschlag Russlands müsste in die Überlegungen einbezogen werden und wäre völkerrechtlich möglicherweise gedeckt. Im Zeitalter der Raketen und Drohnen ist nach unserer Ansicht für die Definition eines Landes als Kriegspartei nicht mehr zwingend, dass es Soldat:innen in die Ukraine entsendet, die dort direkt in den Kampf eingreifen. Die heutigen Fernwaffen sind elektronische Streitkräfte, im Ernstfall viel wirksamer und zerstörerischer als Landarmeen, auch wenn man mit ihnen ein Land nicht besetzen kann. Warum ist diese Ansicht geradezu  zwingend? Würde in Land ein anderes mit Atomwaffen ausradieren, wäre es nicht einmal Kriegspartei, wenn man einen Teilnehmerstatus am Krieg nur an Bodentruppen knüpfen würde. Es hängt also nur davon ab, wo man die Grenze zieht: ab einer gewissen Wirksamkeit, einer gewissen Menge oder auf die Ziele dieser Waffen abhebend? Diese Frage kann niemand hierzulande schlüssig beantworten, soweit es die russische Definition betrifft. 

Auf einen möglicherweise völkerrechtlich legalen russischen Schlag, der dann ein Gegenschlag wäre, hätte Deutschland keine passende Antwort. Wir wissen alle, wie es um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands steht. Gerade Kriegsaffine von der FDP und den Grünen werden nicht müde, die Mängel zu beklagen, die von einem SPD-Minister abgestellt werden müssen. 

Alternativ könnte Russland diese Erweiterung des Waffeneinsatzes durch NATO-Länder nutzen, um NATO-Länder deutlicher als Kriegsziele ins Visier zu nehmen. Deutschland wäre dann viel direkter gefordert als die USA. Es exponiert sich ohnehin mit der Baltikum-Brigade, die bis 2027 einsatzfähig sein soll und wieder einen teuren Auslandseinsatz darstellt. Mit dem Unterschied, dass, anders als bisher bei solchen Einsätzen, die Bündnisflanke der NATO im Osten gestützt werden soll.

In dem Artikel wird Hofreiter zudem mit missverständlichen Aussagen zitiert. Zum Beispiel lässt sich seine Einlassung zu Frankreich so lesen, dass ihm klar ist, dass Frankreich aufgrund seines eigenen atomaren Schutzes mehr Möglichkeiten hat als Deutschland, um in der Ukraine offensiv tätig zu werden. Die Wahrheit ist, dass Deutschland bisher viel mehr tut. Eine andere Lesart wird nicht klar ausgeschlossen, nämlich, dass Deutschland sich quasi im Windschatten Frankreichs bewegen kann. Das kann es nicht, die französischen Atomwaffen sind nur für den Schutz Frankreichs gedacht und unterstehen nicht dem NATO-Kommando. Wir gehen nicht davon aus, dass Frankreich einen Atomkrieg lostreten würde, um Deutschland gegen konventionelle Waffen aus Russland zu schützen. Wir sind uns des Weiteren nicht sicher, ob die amerikanischen Waffen in Deutschland für den Schutz deutschen Territoriums in einem solchen Falle eingesetzt werden würden. Ein Zwang für die Amerikaner bestünde nur dann, wenn ihre in Deutschland stationierten Einheiten oder ihre Depots und Logistikzentren angegriffen würden. Alles andere unterhalb eines Atomschlags  durch Russland sehen wir als vage an und könnte bei einem Regierungswechsel in den USA noch fragwürdiger werden. Wir sind nicht einmal sicher, ob die USA unter einem Präsidenten Trump noch auf einen russischen Atomangriff in Europa antworten würden. In solchen Momenten fragt niemand mehr, wer zu welchem Zeitpunkt das Völkerrecht auf seiner Seite hatte.

Wenn man also in Deutschland über Völkerrecht spricht, dann muss man es auch aufs eigene Land anwenden und aufs eigene Land schauen, und da sieht die Sache möglicherweise anders aus als bei der Ukraine. Damit sind wir wieder bei dem Dilemma, das wir schon in mehreren Varianten beschrieben haben. Der Westen kann die Ukraine nur zum Sieg führen, wenn er auf deren Gebiet kämpfen würde, denn hier geht es tatsächlich nicht nur um Zerstörung, sondern um Besetzung und Befreiung, und dazu sind Bodentruppen notwendig. Es sieht keineswegs danach aus, dass die Ukraine noch die Ressourcen an Personal hat, die eine Allein-Rückeroberung am Boden ermöglichen würde. Das bedeutet auch, dass jenseits völkerrechtlicher Überlegungen die Luftabwehr zwar wichtig ist, um Einschläge in Städten zu verhindern, aber nicht dazu führen kann, dass man damit Russland in die Knie zwingt. Und das wäre notwendig, damit die russischen Truppen aus der Ukraine abziehen. Nur konkrete Angriffe abzuwehren, reicht dazu  nicht aus.

Nicht nur, dass der völkerrechtliche Aspekt hierzulande nicht so dargestellt werden darf, dass die Ukraine mit Deutschland gleichgesetzt wird, auch der praktische Aspekt muss bedacht werden: Wie sehr erhöhen Maßnahmen, die letztlich immer halbherzig sind, solange der Westen nicht mit Bodentruppen in den Einsatz geht, das Risiko im Vergleich zu den Erfolgsaussichten? Dazu wird es unter Experten keine einheitliche  Meinung geben, aber dass sich das Risiko einer Eskalation erhöht, wenn westliche Waffen in Russland eingesetzt werden, wird niemand abstreiten. Es ist einerseits Hilfe zur Selbsthilfe, aber das Völkerrecht kann in dem Fall nur die Ukraine selbst in Anspruch nehmen. Es gibt auch die völkerrechtliche Beistandsklausel, die Russland selbst schon auf geopolitisch rüde Weise in Syrien genutzt hat, um seine dortigen Einsätze formal zu legalisieren. Woran man sieht, dass auch Völkerrecht, wie jedes Recht, missbraucht werden kann. Auf sie müsste Deutschland sich dann aber auch eindeutig beziehen, wenn es nicht selbst als Angreifer darstehen will. Wird Kanzler Scholz diesen Schritt gehen? Wir glauben das nicht und wir hoffen es auch nicht, denn Partei würde Deutschland damit auf jeden Fall.

Bevor ein solcher Schritt gegangen wird und Deutschland offiziell in den ersten Krieg seit 1939 eintritt, müsste auf jeden Fall die Bevölkerung gefragt werden. Wir können uns kaum vorstellen, dass es für diesen Schritt eine Mehrheit gäbe. Es sei auch heute betont: Deutschland tut wirklich sehr viel für die Ukraine, relativ zu seinen Möglichkeiten mehr als jedes andere Land. Was wir deshalb besonders kritisieren, sind Aussagen wie die vom „reichen Land“, die vor allem eines klarstellen: Zur Thematik des immer wackeliger werdenden Wohlstand der Mehrheit dieses Landes haben gewisse grüne Politiker von den Vertretern aller Parteien mit Abstand am wenigsten Zugang.  Besonders dramatishch ist dieser Mangel an Zugang, wenn sie sich um die Wirtschaft zu kümmern haben. Grundsätzlich wundert uns diese Haltung nicht, wir beobachten sie chon länger, als der Ukrainekrieg dauert. Unsere eigene Haltung beeinflussen solche auch von sinkendem geistigem Wohlstand zeugenden Argumente durchaus. Sie festigen unsere Absicht, uns von solchen Menschen nicht kriegslüstern machen zu lassen.

Bestimmt kommt in den nächsten Tagen eine Umfrage zu diesem Thema, wir werden sie dann dem vorliegenden Text voranstellen und ihn vielleicht noch etwas überarbeiten.

TH

[1] Hofreiter will Ukraine Einsatz westlicher Waffen in Russland erlauben | WEB.DE

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