Katjas begreifliche Zurückhaltung #Aufstehen gegenüber – und wo werden sich die besseren Köpfe ansiedeln? / #KatjaKipping #Kipping #Wagenknecht #Lafontaine #Aufstehenheute #Sammlungsbewegung #Bewegung #Parteivorsitz

2018-08-19 Dossier AufstehenKommentar 78 / Dossier „Aufstehen“

Katja Kippings begreifliches Zögern, sich #Aufstehen anzuschließen – und wo zieht es profiliertren Politiker_innen hin?

Katja Kipping, Vorsitzende der Partei DIE LINKE, war am Sonntag beim ARD-Sommerinterview zu Gast. Sie will sich Sahra Wagenknechts Bewegung „Aufstehen“ nicht anschließen, sondern sagt, ihre politische Heimat sei die Partei. 

Da haben wir doch das Top-Interview zum Tag, an dem „Aufstehen“ startet.

Ich möchte zunächst auf etwas anderes eingehen: Der „Tagesspiegel“ und der Begleitbericht der ARD geben Kippings Aussagen im Sommerinterview in einem entscheidenden Punkt verkürzt wieder: Als der Interviewpartner fragt, ob man offene Grenzen propagieren soll oder eine „mehr nationale Linie fahren solle“, beginnt Kippings Antwort mit einer Feststellung, nämlich Europa sei ein Kontinent der Einwanderung. Dann erst folgt der Satz: „Man muss sich realistisch der Frage von Migration und Einwanderung stellen und das aber auf solidarische, konstruktive Art und Weise.“ Diese Ergänzung, die einen Ist-Zustand konstatiert, ist wichtig.

Die Arbeitsmigration betreffend muss man aber zwei Dinge auseinanderhalten: Die vielen schon lange hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund und die Regelung weiterer Zugänge. Ich glaube nicht, dass Sahra Wagenknecht irgendwen loswerden will, der hier in die Arbeitswelt integriert ist und einen Migrationshintergrund hat, sondern dass der weitere Zuzug so geregelt wird, dass kein Druck im Niedriglohnsektor bei gleichzeitiger Überforderung der Kapazitäten im Wohnungs- und Bildungsbereich entsteht. Dass neu zu  uns kommende Migranten für unter Mindestlohn arbeiten und wir damit die Zustände von vor ein paar Jahren wieder hätten, wo es überhaupt keine Untergrenzen gab und Menschen im Dienstleistungssektor mit 4 Euro netto pro Stunde nach Hause geschickt wurden – so hätten es nämlich viele Unternehmen gerne, es gibt ja schon Forderungen, den Mindestlohn für Geflüchtete aufzuheben. Das ist zu durchsichtig.

Kipping schiebt aber alles in einen in einen Topf, als sie davon redet, was passieren würde, wenn alle Menschen mit Migrationshintergrund einen Tag lang streiken würden: Und wir reden von Arbeitsmigration, nur, dass das noch einmal klar ist, nicht von Asyl oder Flucht vor Kriegszuständen.

Nun kommt aber der Teil, in dem sie sagt, sie werde sich „Aufstehen“ nicht anschließen. 

Das hat auch niemand ernsthaft erwartet. Ich freue mich, dass es dieses Sommerinterview gibt, denn Kippings Co-Vorsitzendr Riexinger hatte sich ja schon entsprechend geäußert, von ihr gibt es jetzt das Pendant. Schon aus machtstrategischen Fragen geht das bei ihr gar nicht, denn in dem Wort „anschließen“ liegt ja schon das Problem offen: Sie wäre irgendein Mitglied von „Aufstehen“ wie ich oder jemand anderes, der als einfacher Parteigenosse diesen Schritt geht. Dafür hat sie nicht jahrelang geackert und über die Sachsen-Connection und die Emanzipatorische Linke etc. Seilschaften aufgebaut, die sie an die Spitze der LINKEn gebracht haben.

Ich finde auch, das muss man jemandem zubilligen, dass er sich nicht auf diese Weise entmachten lässt. Der Coup von Wagenknecht und Lafontaine ist ja, dass eine Nebenmacht entsteht, weil es im Mainstream der LINKEn nicht geht, mit dem Aufbruch. Und es ist nett, dass Kipping viel in den Plattenbaugebieten unterwegs ist, vermutlich auch viel mehr als Wagenknecht, und das tun ja so viele Genoss_innen, sich täglich den Bürger_innen stellen – aber der Aufbruch muss auch durch eine glaubwürdige Gesamterzählung verkörpert werden, und diese liefert DIE LINKE alleine nicht.

In aktuellen Umfragen zeigt sich schon wieder: Kaum gewinnt die SPD mal ein Prozentpünktchen hinzu, verliert DIE LINKE ein halbes. Da bewegt sich im ganzen linken Spektrum so gut wie nichts und das geht seit Jahren so. Im Gegenteil, der Anteil von SPD, den Grünen und der LINKEn war bei der Wahl 2017 so niedrig wie nie zuvor, seit diese 2RG-Kombination „technisch“ möglich ist.

Sind Kippings Antworten zur AfD-Bekämpfung richtig? 

Ich habe mich letztlich auch entschlossen, Aktionen wie das gestrige Konzert gegen Rechts mit dem Wahlberliner symbolisch zu unterstützen, weil es was anderes ist, als sich gegenseitig Schimpfwörter zuzurufen. So entstand wenigstens ein positiv wirkendes Gemeinschaftsgefühl der Mehrheit. Auch der Mehrheit in Sachsen, das betone ich immer wieder – und Kipping kommt ja von dort. Die Sachsen-Basher sollten sich mal überlegen, dass sie damit auch sie, die für (quasi oder fast?) offene Grenzen steht, in dieses Bashing einschließen. Also, das ist wichtig. Und dass es einen Politikwechsel geben muss, das ist so neu wie, sagen wir, dass es einen Politikwechsel geben muss. Dieser Topf steht schon seit 30 Jahren auf dem Herd und niemand fand bisher den Knopf, mit dem man das Feuer darunter anstellt, das die marginalisierten Menschen zum Kochen und auf die Straße bringt.

Nur ist mein Gefühl, dass ein Wechsel, wenn er denn mal käme, mit Wagenknecht ein Stück weit strategischer und weiterführender wäre als mit der doch im Zweifel sehr konformen Kipping-Seite in der LINKEn. Der von ihr erwähnte Bodo Ramelow – der soll nicht staatstragend sein? Manchmal ist er sogar vorauseilend staatstragend, wo es gar nicht unbedingt notwendig wäre, weil er eben zum Establishment gehören will. Deshalb sage ich, DIE LINKE braucht ein übergeordnetes Gremium, das die Linie immer neu ausdefiniert und auf sie achtet. Und: nur ein weiterführender Wechsel als das, was Kipping vermittelt, was Ramelow umsetzt oder was auch die 2RG-Administration in Berlin tut und tun kann, wird auch mehr Einwanderung möglich machen. Der „Reformflügel“ der LINKEn hat das gleiche Problem wie die Grünen, nur nicht so massiv oder so offen zutage tretend: Man denkt zu klein und systemkonform, um den großen Migrationstraum wahr machen zu können.

Aber Kipping will „Aufstehen“ in den Prozess der politischen Linkswerdung integrieren. 

Auch Kipping liest meine Beiträge, das ist klug. Scherz, muss auch mal sein. Ich schrieb schon vor Wochen, die LINKEn-Spitze soll aufhören, so giftig zu sein. Sie wird nicht darstellen, dass „Aufstehen“ auch ihr Projekt ist, es sozusagen okkupieren, so wendig sind die relevanten Personen nicht, das zeigt sich in Berlin übrigens noch stärker. Aber man scheint sich jetzt doch auf eine pragmatische Linie zu begeben, die nicht wirkt, als wolle man DIE LINKE eventuell selbst spalten.

Es ist natürlich ein Zwangspragmatismus, wie meistens. Diejenigen, die Sahra Wagenknecht in der Partei majorisiert haben, sehen sich einem Prozess ausgesetzt, den sie nicht mehr steuern können. Wer dabei im langjährigen Machtkampf welche Rolle eingenommen hat, damit es so weit kommen musste, will ich an der Stelle nicht bewerten, sonst müsste ich mich wieder tief in spezielle Bereiche der Linkspresse begeben, die da sehr parteiisch sind. Wir reden aber über heute, wo „Aufstehen“ startet und über das, was nun geschehen könnte. Kipping wird nicht dabei sein, das wissen wir nun definitiv und es ist keine Sensation.

Sie sagt ja auch, sie kämpft schon lange um einen progressiven Weg und freut sich, dass Wagenknecht und Lafontaine jetzt mitmachen.

 Ja, Kipping und 19 Minuten lang die wohlmeinende Maske bewahren, das geht wohl nicht. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen. Oskar Lafontaine hat schon versucht, in und mit der SPD linke Politik zu  machen, da war Kipping noch nicht geboren. Dass er es letztlich nicht geschafft hat, seinen Kurs auf Bundesebene durchzusetzen, dafür sind viele Faktoren verantwortlich, aber ich sehe da leider etwas, was ich in der LINKEn häufiger beobachte. Dass der Jugendkult dazu führt, dass einfach mal die Dinge bisschen umgedreht werden: Wer zum Beispiel sich im Laufe eines Lebens welche politischen Verdienste erworben hat und wie man das richtig bewertet. Diese Beobachtung führt dazu, dass ich Lafontaine mehr Authentizität zurechne, wenn er sich für gute Renten einsetzt, als ich das bei Kipping tue.

Freiheitrechte und soziale Rechte gehören untrennbar zusammen, sagt Kipping.

Wagenknecht wird mit „Aufstehen“ Deutschland nicht in eine Sklavengesellschaft führen, da bin ich recht sicher. Ich höre, wenn es darum geht, Maßnahmen zu kritisieren, die den Staat drängender und immer mehr durchgreifend machen, mehr von Wagenknecht als von Kipping. Vielleicht ist das subjektiv, aber ich empfinde es so, dass Wagenknecht da oft schneller ist und sofort erkennt, was die Regierung wieder angerührt hat, zum Beispiel vor ein paar Monaten mit der unsäglichen Nicht-Ausgestaltung der DSGVO auf nationaler Ebene, die vom EU-Rahmen, den diese Verordnung darstellt, aber ausdrücklich ermöglicht wird. Ein typischer Merkelismus, aber Wagenknecht hat’s erkannt, nicht Kipping.

Und das ist es: Die nationalen Gestaltungsräume, selbst die im EU-Rahmen möglichen, werden nicht einmal vernünftig genutzt, von der jetzigen Regierung. Und das meinen Wagenknecht und Lafontaine, dass man sich hier widerstandslos die soziale Wurst vom Brot ziehen lässt und den Konzernen sowas von hörig ist. Und natürlich darf die undemokratische EU-Kommission, die den Konzernen sowas von hörig ist, nicht über die soziale Wirklichkeit in Deutschland bestimmen. Das müssten die „Reformer“ um Kipping mal in der Deutlichkeit sagen, niemand, der nicht sehr Böses im Schilde führt, also niemand bis auf ein paar Leitartikler, die den Neoliberalismus direkt oder um die Ecke herum verteidigen wollen, indem sie Linke wie Wagenknecht als nationalsozial (-stsisch) diskreditieren, wenn diese tatsächlich daruf hinweisen, dass der Nationalstaat immer noch eine tragfähige politische Handlungsebene ist, würde sie deswegen für rechts halten.

Österreichische Verhältnisse verhindern, sagt Kipping. 

Ich kenne dieses Land ein wenig und ich mag es nicht, wenn so pauschalisiert wird. Klar, die Österreicher sind viel offener fürs Rechte, insgesamt gesehen. Das habe ich damals schon gemerkt, als ich dort lebte. Ich kannte Menschen gut, die waren zum Beispiel sehr ökologisch eingestellt, aber gesellschaftspolitisch rechts auf eine so deutliche Weise, wie sich dies bei uns vor 10, 15 Jahren kaum jemand getraut hat. Für mich war Schwarz-Blau daher keine Überraschung. Aber in vielen Dingen hätte ich wirklich gerne österreichische Verhältnisse: Wohnen, Renten, soziale Rechte der Arbeitnehmer. Das ist alles immer noch weit besser als bei uns, auch wenn die ÖVP und die FPÖ natürlich die Kombination sind, die da am besten dran sägen kann.

Man muss  aufpassen, dass nicht Menschen hier mal auf die Idee kommen, Kipping beim Wort zu nehmen und zu sagen: Ja, genau, lasst uns doch mal österreichische Verhältnisse angehen, nämlich kontrollierte Preisentwicklungen beim Wohnen und kein Hartz-IV-Regime, 500 Euro mehr Rente im Durchschnitt – und dafür sind wir eben bezüglich der Zuwanderung ziemlich ungnädig. Österreich hatte übrigens vor 2015 einen höheren Ausländer- und muslimischen Bevölkerungsanteil als Deutschland, wenn ich das richtig im Kopf habe.

Und jetzt kommt Daniel Günther, der CDU-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein ins Spiel: CDU und DIE LINKE auf Landesebene denkbar als AfD-Abwehrkoalition, meist dann noch zusammen mit der SPD? 

Was Sachsen angeht, hat Kipping Recht. Ich habe zwar kürzlich geschrieben, man kann darüber nachdenken, wie sowas gestaltet werden kann, ohne dass DIE LINKE sich dabei zum Obst macht, aber das war vor Chemnitz. Und es stimmt, die sächsische CDU hat diese Entwicklung im Land mitbefördert und darf nicht mithilfe der LINKEn so weitermachen dürfen. Nur – was wäre, wenn DIE LINKE sich auf dem Gebiet durchsetzen und mit der CDU einen neuen Weg einschlagen könnte und es sonst wirklich keine Kombination gäbe, die eine Mehrheit jenseits der AfD ermöglicht? Das ist eine so schwierige Frage. Ich verstehe, dass Kipping letztlich kneift und den Weg, auch nach der Situation in Brandenburg zu fragen, wo die CDU mittiger wirkt und man den Eindruck hat, alle können irgendwie ganz gut miteinander und wo auch 2019 gewählt wird, den geht der Interviewer nicht. Hätte mich so interessiert, was Kipping dazu gesagt hätte.

Wird in zwei Jahren satzungsgemäß  Schluss sein mit Kipping als Vorsitzende?

 Ich habe mir zweimal diesen Satz  mit der „weichen Formulierung“ angehört und ausgerechnet den akustisch nicht verstanden. Na, vielleicht geht da doch noch was, über 2020 hinaus. Ansonsten müsste ja nach der Logik und der Popularität Wagenknecht an ihre Stelle treten – und das würde dann richtig Unruhe auf den Funktionärsebenen mit sich bringen. Diese Ebene wird schon jemanden finden, den außerhalb ihrer Blase kaum jemand kennt, um das zu verhindern.

Gibt es denn niemanden, der sich aufdrängt?

Ich sehe niemanden, der eine Art natürliche Wahl wäre. Der sich klar hervorhebt. In jüngster Zeit kommt ein Politiker stark auf, der von der Europa- auf die Bundesebene gewechselt ist und den ich für einen der fähigsten Köpfe in der LINKEn halte, auch wenn ich wirtschaftspolitisch, und da liegt ja dankenswerterweise sein Kerngebiet, nicht immer seine Meinungen teile.

Aber der, tja – der steht im Wagenknecht-Lager und wenn sich die Tendenz verdichtet, dass Politiker_innen mit Wiedererkennungswert bei „Aufstehen“ aufschlagen, dann passiert etwas, was der Funktionärs-LINKEn auch ohne formale Spaltung sehr schaden oder doch die öffentliche Wahrnehmung noch weiter in Richtung „Aufstehen“ verschieben kann: Nämlich, dass sich dort die bei weitem  brillanteren und publikumswirksameren Personen versammeln im Vergleich zur Parteispitze auf Bundes- und Landesebene.

© 2018 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Hinterlasse einen Kommentar