Crimetime 143 - Titelfoto © NDR, Christine Schröder
Eine Geschichte ums Lügen um Leben und Tod
Sie haben es wieder getan. In Kiel. Einen Howcatchem gemacht, der so gut ist, dass wir später zum Schreiben kommen, weil wir noch eine Zeit vor dem Fernseher gekniet haben. Es geht nicht um Logik im kriminaltechnischen Sinn. Es geht nicht darum, ob eine Person wie die Pflegerin Sabrina mit dieser extremen Persönlichkeitsstörung, die sie aufweist, in der Wirklichkeit lange durchkäme. Es geht um einen hochkonzentrierten Film um Lüge, Wahrheit und die sehr große Grauzonedazwischen und natürlich auch um subjektive Wahrnehmung.
Kennen Sie das und ärgert Sie das manchmal, wenn Leute aufgrund vollkommen falscher, manchmal naiver Verbastelungen von Tatbeständen oder vermeintlichen Beobachtungen über das, was sie an anderen Menschen wahrzunehmen glauben, zu richtigen Schlüssen gelangen? Wir kennen sogar in unserer Familie eine Person, die das sehr gut drauf hat. Warum soll also nicht die Polizei auch mal so handeln? Warum nicht zielstrebig das Falsche annehmen und doch instinktiv richtig liegen, was die Täterperson angeht?
Und dann ist es grandios gespielt. Übertrieben, was die Sabrina-Figur angeht, diese sicher narzisstische und vielleicht noch mehr geschädigte junge Frau, die sich in einer Scheinwelt befindet, in der es kein Problem darstellt, alte Menschen sterben zu lassen und mit einem Jacqueline Kennedy-Gedächtnis-Trauerhütchen auf einer Beerdigung das Foto eines Jungen zu küssen, den sie nie gekannt hat und der zumindest kausal durch eine von ihr ausgeführte Handlung ums Leben gekommen ist. Da gibt es noch viel mehr und es ist der Wahnsinn. Siehe Rezension ->
Handlung
Die Handlung in einem Satz, ohne Auflösung: Ein hoffnungsvoller Klavierpianist und Bankersohn wird von einer Immobilienmaklerin mit dem Auto umgefahren und eine Altenpflegerin eilt beiden zu Hilfe, was dazu führt, dass sie Eingang im Haus der Eltern findet und Borowski die Immobilienmaklerin verliert, für die er sich im Verlauf der Ermittlungen zu interessieren begann und dass der Freund des Bankersohnes eine nahezu unglaubliche Tat begeht, die am Ende zu einem gerechten Ergebnis, aber tatbestandsseitig gesehen zu einem Justizirrtum führt. (TH)
Die Altenpflegerin Sabrina Dobisch wird Zeugin eines Verkehrsunfalls und versucht beherzt, das Leben des jungen Fußgängers Christian van Meeren zu retten. Anschließend beschuldigt sie die Autofahrerin Doris Ackermann des vorsätzlichen Mordes. Während Sabrina als mutige Retterin gefeiert wird und das öffentliche Aufsehen genießt, bleibt Kommissar Borowski skeptisch: Außer der Zeugenaussage deutet nichts auf ein Kapitalverbrechen hin, bis seine Kollegin Sarah Brandt eine Waffe im Handschuhfach von Doris Ackermann findet. (Das Erste)
Rezension (enthält Angaben zur Auflösung)
Gut – besser – Borowski. Ganz persönlich gemeint. Wie es möglich ist, dass der Kieler Kommissar sich immer weiter steigert, wo andere Teams nach zehn Jahren mehrere Schwächephasen durchgemacht haben, ist das Geheimnis von Axel Milberg, aber in diesem Film ist das nicht der einzige Grund. Es liegt an einer grandiosen Führung aller Schauspieler. Die Eleganz nicht nur der Dekors in neueren und älteren Immobilien, sondern auch die stilvolle Platzierung der Figuren ist kinoreif. Keine Mätzchen bei der Bildgestaltung, keine übertriebene Formalisierung, aber sehr wohl eine erhebliche Stilisierung der Charaktere in ihrer jeweiligen Welt.
Nur, wenn man Figuren so pointiert, wie es hier vorgeführt wird, können sie einen Krimi tragen, bei dem man von Anfang an weiß, wer die Person ist, die alle belügt und bereit ist, jeden umzubringen, der das Geflecht der Lügen zu zerschneiden droht. Es ist dann wie ein Riss in einem komplett autarken System. Wir wissen nicht, woher Sabrina kommt, kennen nicht ihre Hintergründe, nur, dass sie offenbar ein Studium abgebrochen hat, weil sie ihre Mutter pflegen musste oder sich eingeredet hat, dass sie das musste. Vielleicht stimmt aber auch diese Angabe von ihr nicht.
Menschen, die ein gestörtes Verhältnis zu fast allem haben, gibt es wohl selten in der reinen Fassung, wie wir sie hier sehen und wie wir sie schon einmal in dem ebenfalls großartigen „Borowski und die Frau am Fenster“ sahen. Haben sie übrigens diesen Tatort aus 2011 mit dem von heute Abend getoppt? Mindestens gleichgezogen, nach unserer Ansicht. Wie man so viele verrutschte Tatsachen so präzise und mit großer Souveränität, mit Gespür fürs Timing und die Figuren in einen Tatort packen kann, das ist der krönende Abschluss eines Jahres, das uns zwischenzeitlich beinahe verzweifeln ließ. Doch, es ist alles gut. Der Tatort lebt. Dank Borowski und weniger anderer Teams, die es noch einigermaßen rausgerissen haben, was sich im Frühjahr zur Katastrophe und zu einem der schlechtesten aus bisher 44 Jahrgängen zu entwickeln schien.
Gut, wir übertreiben jetzt eben auch mal, lassen uns ein wenig anstecken von der packenden Vorstellung, die von 20:15 bis 21:45 lief. Es ist auch immer eine Gefühlssache – was empfanden wir beim Anschauen? Was geschah, als die Sabrina drauflos log, dass sich die Balken bogen? Ja, da war es, was wir zuletzt nur noch selten bei Tatorten gespürt haben. Echte Beklemmung. Echte, wenn auch kalte Wut. Und noch etwas anderes – eine Angstlust; die geradezu erotische Anziehung, die entstehen kann, wenn man einem gefährlichen und nicht zuletzt dadurch gefährlich attraktiven Menschen gegenüber tritt. Das war eine Menge an Emotionen.
Nein, wir haben trotz einer gewissen Edukation in diesem Bereich nicht einfach eine psychisch kranke Frau vor uns gesehen, sondern jemanden, der bedrohlich auf uns gewirkt hat. Jemand, der, wenn er uns gegenüber träte, Macht gewinnen könnte. Nicht in dem Sinn, dass wir ihr alles abnehmen würden, dazu ist sie zu deutlich neben der Spur. Jemand, der nicht gerade um seinen Sohn trauert, sondern einigermaßen klar im Kopf ist, kann erkennen, dass mit der Dame etwas nicht stimmt. So, wie Borowski. Aber wann genau das Nachdenken bei ihm einsetzt, erfahren wir nicht. Sehr früh, schätzungsweise schon bei den Regionalnachrichten, in denen sie posiert. Aber er sagt uns nicht, was er denkt. Er sagt es auch Sarah Brandt nicht, die als junger Mensch zunächst eher bereit scheint, den Todesengel für einen guten Engel zu halten.
Der Clou ist, dass Lavinia Wilson die Sabrina zwar überzeichnet spielt, aber wir gerade dadurch das Gefühl haben, jemanden vor uns zu sehen, der das Substrat aller Lügner und Psychopathen ist, die wir jemals im Leben getroffen haben und der dennoch in einer eigenen, beinahe rührend schmalzigen Welt lebt, die komplett vom gruseligen anderen Ich getrennt ihr Eigenleben führt. Eine tödliche Romantikerin oder eine romantische Mörderin.
Wallander ist gut in Deutschland angekommen. Nicht nur durch die Verfilmungen aus Schweden oder mit deutscher Beteiligung, die hier gezeigt werden sondern auch durch die Tatorte mit Klaus Borowski. Obwohl der heutige Borowski nicht auf einer Mankell-Vorlage beruht, hat er dieses große Interesse am abweichenden Inneren von Menschen, das die Nordkrimis auszeichnet, sie quasi zu einem eigenen Subgenre erhoben hat, welches nicht mit den amerikanischen oder englischen Vorbildern vergleichbar ist.
Zumindest die filmische Umsetzung der Grundgedanken betreffend wandelt Borowski mit beachtlicher Sicherheit auf schmalem Grat. Und ab und zu ist sogar Witziges dabei, das nämlich kennen die skandinavischen Krimis eher nicht, weil es die düstere Atmosphäre stören könnte. Es wird in Kiel jedoch so eingesetzt, dass es nicht die Dramatik des Films beeinflusst und doch etwas von diesem trockenen, norddeutschen Humor rüberbringt, der mit das Beste an den NDR-Tatorten im Allgemeinen ist.
Da kann sich ein Kriminalrat, der mit einer sichergestellten Waffe hantiert, schon mal in den Fuß und durch den Bildschirm eines Computers schießen, an dem Sarah Brandt wieder mal eines ihrer etwas abwegigen, aber nach allen NSA-Kenntnissen nicht ganz unmöglichen EDV-Kunststücke vollbringt. Als sie das machte, da kam der einzige Moment im 892. Tatort, in dem wir dachten: Nicht schon wieder. Aber bei diesem Plot war Beschleunigung notwendig und außerdem haben wichtige Informationen hier eh nur eine falsche Spur zur Maklerin Ackermann gelegt.
Vom Beginn an, als die Pflegerin so seltsam lächelt, als eine tote Katze auf der Straße von ihrer Besitzerin beweint wird, bis zum Ende, in dem sie für den falschen Mord verantwortlich gemacht wird, von dem erheblich von ihrer Planung abweichenden Kausalverlauf, der eine weitere tote Katze erbringen sollte, stattdessen einen toten Menschen und eine verletzte Autofahrerin erzeugt, über den Versuch der Maklerin, ihrerseits die Dobisch reinzulegen, um sich gegen deren Lügen zu wehren bis hin zu der Verzweiflungstat des Klavierlehrers André wird hier Spannung erzeugt und eine klare dramaturgische Linie verfolgt.
Es gibt auch objektive Wahrheiten, doch wo wären wir, wenn alle sie gleichermaßen wahrnähmen und wie eintönig wäre dann das Leben? So versteht man auch, dass Borowski selbst am Ende die große Lügnerin mit einer Lüge überführt – als Täterin an sich. Nicht aber, was die objektive, tatbestandliche Wahrheit bezüglich aller Geschehensabläufe angeht. Daher macht auch der Abspann Sinn – das im Grunde richtige Urteil, aber für die falsche Tat. Eine Anmerkung allerdings müssen wir nachträglich einfügen: In Wirklichkeit wäre es wohl eher zu einer Sicherungsverwahrung gekommen.
Fazit
Dieses Mal mussten wir uns bremsen – um den Beitrag heute noch fertig zu bekommen, da wir ja vor dem Schreibbeginn den Tatort noch etwas nachwirken lassen wollten. Das hat er auch getan. Nachgewirkt. Nicht so sehr, weil wir immer noch eine Art Angstfaszination für Sabrina Dobisch haben, sondern, weil wir eben vor dem Fernseher saßen und darüber nachdachten, wie sie es in Kiel bloß hinbekommen, das so viel besser zu machen als anderswo. Natürlich gibt es ein paar kleine Wischer. Zum Beispiel die Sache mit den schwarzen Handschuhen beim Lover des toten Christian Van Meeren, das hätte unter dem von ihm selbst erdachten Kausalverlauf auffallen müssen; wer ermordet denn einen Menschen und zieht ihm dann schwarze Plastikhandschuhe an? Nicht einmal Sabrina würde so etwas tun. Vielleicht ist aber auch das nur eine Art Gag, der Fragen zur Wahrnehmung auch an Sabrina stellt – zutrauen würden wir’s den Kieler Tatortmachern.
Der Film hat weitere Aspekte, wie die soziale Seite mit der kleinen Altenpflegerin, die urplötzlich nach oben will oder die Chance dazu sieht, die modern eingerichtete Maklerin, von der die KT-Leute, die in ihrem Haus zugange sind, sagen, sowas könne man nicht auf ehrliche Art verdienen – aber das prunkvolle Patrizierhaus der Van Meerens steht mit einer Selbstverständlichkeit in der Welt, die niemand kommentieren muss.
Wir sind mitgegangen, mit Borowski und Brandt und Schladitz, haben uns von Sabrina zu allen möglichen Gefühlen verführen lassen und wenn ein Tatort das nach dem Overkill der letzten Zeit mit gefühlt alle zwei Tage einem Erstling, Aussicht auf mehrere neue Tatorte an einem Abend als Voraus-Stressfaktor inklusive, noch schafft, dann muss was an ihm dran sein.
Ist es ein Neunpunkte-Tatort? Ja. Der bisher sechste nach 268 Rezension: 9/10 für Borowskis und das Geschenk.* Jemand, der zum Zehnjährigen nichts fordert, sondern uns einen ausgezeichneten Krimi gibt, bei dem denken wir nicht lange nach, woran man noch kritisieren könnte. Wir sind nach einem zeitweise anstrengenden Tatort-Jahr einfach nur froh für diesen Abend und diesen Ausklang.
© 2018, 2013 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
*Zahlenangabe 6 aus 268 bezogen auf die TatortAnthologie des „Ersten Wahlberliners“.
Hauptkommissar Klaus Borowski – Axel Milberg
Kriminalrat Roland Schladitz – Thomas Kügel
André Rosenthal – Bruno Cathomas
Christian van Meeren – Martin Bruchmann
Dora van Meeren – Victoria Trauttmansdorff
Doris Ackermann – Leslie Malton
Felix van Meeren – Horst Janson
Nachbarin – Laura Schwickerath
Sabrina Dobisch – Lavinia Wilson
Sarah Brandt – Sibel Kekilli
Unfallfahrer – Mat Nichol
u.a.
Drehbuch – Sascha Arango
Regie – Andreas Kleinert
Kamera – Benedict Neuenfels
Schnitt – Gisela Zick
Musik – Daniel Dickmeis

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