Crimetime 235 - Titelfoto © BR
Unten wie oben ist das Leben hart
Breitformat 16:9, Dolby Surround, alles neu gewesen, im Jahr 1996, und der Tatort „Schattenwelt“ spielt es voll aus. Die Musik ist dräuend, wenn auch mit Synthesizer-Anklängen an die etwas ältere Tatort-Zeit, die Kamera zeigt Obdachlosenunterkünfte als großes Kino, der Ton ist manchmal überdeutlich, jedenfalls kann bei diesem Tatort niemand außer Gehörlosen behaupten, er sei akustisch nicht mitgekommen.
Der technischen Gestaltung entspricht die Inszenierung, ob wir das gut fanden und wie „Schattenwelt“ als Krimi und Sozialdrama wirkt, beschreiben wir in der -> Rezension.
Handlung
Ingmar Borg verdient mit Wohltätigkeit sein Geld. Nach einer Benefiz-Veranstaltung fährt er angetrunken eine Obdachlose an. In Panik, durch den Unfall seinen Ruf und damit seine Karriere zu ruinieren, überfährt er die Frau ein zweites Mal. Diesmal tödlich.
Die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr, die den Fall übernehmen, stoßen bei ihren Ermittlungen auf eine hermetisch abgeschlossene Welt. Die öffentlichen Stellen behindern die Ermittlungen auf zynische Weise, die Obdachlosen schweigen. Die beiden Kommissare ahnen nicht, dass es einen Zeugen gibt: „Bombadil“, der gemeinsam mit Sarah, der Getöteten, auf der Straße gelebt hat. Doch Bombadil, der vom Rechtsverständnis der Gesellschaft enttäuschte, ehemalige Anwalt Dr. Bomberg, misstraut Polizei und Justiz. Er wendet sich in seinem Schmerz an den „Raben“, der eine kleine, aber gut organisierte Gruppe von Obdachlosen anführt. Obgleich der Rabe hehre Ziele verfolgt und für eine Verbesserung der Lebenssituation der Obdachlosen kämpft, sind seine Methoden fragwürdig.
Bombadil begreift zunächst nicht, dass der Rabe sich seiner nur annimmt, weil er hofft, aus Sarahs Tod Kapital schlagen zu können. Zusammen mit seinen Leuten erpresst er Borg. Doch Borg, der immer noch glaubt, die Situation im Griff zu haben, reagiert nicht einmal, als seine Freundin Michelle bei Fotoaufnahmen vom Raben und seiner Gruppe überfallen wird.
Während Michelle zunehmend panisch wird, glaubt Borg immer noch, den Raben ignorieren zu können. Doch auch Batic und Leitmayr sind inzwischen auf Borg und seine mögliche Verbindung zum Obdachlosen-Milieu aufmerksam geworden. Während Batic den Täter in Obdachlosenkreisen vermutet und sich als verdeckter Ermittler ins Milieu begibt, widmet sich Leitmayr Borgs halbseidenen Geschäften. Doch dann passiert ein zweiter Mord, und alle Spuren lassen vermuten, dass nur Bombadil der Täter sein kann.
Rezension (enthält Angaben zur Auflösung)
Ist in diesem Tatort ein Mord passiert, bevor Frau Borg stirbt? Darüber gibt es unterschiedliche Ansichten, und das liegt an einer der zahlreichen Schwächen dieses Films. Uns war nicht klar, dass Sarah noch lebte, als Borg dann über sie hinwegfuhr, es wirkte eher so, als ob er schnell weg wollte und dafür einfach geradeaus fuhr, anstatt zurückzusetzen und dann an der auf dem Boden liegenden Person vorbeizufahren. Die Inhaltsangabe der ARD bietet eine andere Variante an, aber eigentliche hätte Borg dann nochmal aussteigen und sich vergewissern müssen, ob die Frau wirklich tot ist, wenn es seine Absicht war, sie als Zeugin ihres eigenen Unfalls zu beseitigen. Leider wird schon dieser wichtige Eingangstatbestand nicht so gezeigt, dass man weiß, Borg ist definitiv ein Mörder und hat nicht nur jemanden nochmal überrollt, den er sowieso für tot hielt. Es gibt weitere Probleme um Borg, etwa, wie er durch München mit dem Wagen zu einem Treffpunkt fährt und die Obdachlosen, die ihn beschatten, es schaffen, ihm im selben Tempo zu folgen, sodass sie ihn am Zielort direkt wieder im Blick haben. Wie sollen sie das gemacht haben?
Dass Borg seine Frau umbringt, weil die doch die Polizei in einer Notsituation nun doch einschalten will, wirkt übermotiviert – aber auch bei der Beurteilung der Motive dafür spielt es allerdings eine Rolle, wie der beschriebene Vorgang in der Tiefgarage aufzufassen ist. Dass Borg diese Person, die doch aufgrund ihrer aparten Erscheinung wichtig ist für seine Geschäfte und sozusagen zum Inventar seines Business rechnet, stranguliert – nun gut, Dominic Raacke ist alles zuzutrauen, den Eindruck hatten wir später noch, als er schon Kommissar in Berlin war. Hier liegen Gut und Böse ja eh sehr dicht beieinander.
Ob sich der alteingesessene Münchener Geldadel von solch einem Windhund ein bisschen was von ebenjenem Geld für Charity-Projekte aus der Tasche ziehen lässt, ist auch eine Frage, die man sich durchaus stellen kann. Nach unserer Ansicht hätte es der Ausstattung der Figur mit einem geeigneten, z. B „verarmter Adel“-Hintergrund bedurft, um das plausibel wirken zu lassen. Wir wissen schon, dass nicht alles Geld, das gespendet wird, bei den Bedürftigen ankommt, das war in den 1990ern ein großes Thema, aber wenn man großen und anerkannten Organisationen etwas gibt, hat man doch eher die Gewissheit, dass es nicht vollkommen versickert, als wenn man einen Nothilfe-Makler, der auch das Gepräge eines Maklers hat, sein steuerlich abzugsfähiges Spendenbudget anvertraut. Die Klasse der Besitzenden passt gut auf, dass sie nicht ausgenommen wird. Allerdings erfahren wir auch nicht, ob Borgs Projekte funktionieren und Menschen in Not tatsächlich helfen. Das wäre aber nicht ganz unwichtig, wenn man diese Person beurteilen will.
Steht nun dieser Part im Vordergrund oder das Obdachlosenmilieu? Beide kommen durch Sarahs Tod miteinander in Berührung und so, wie Dominic Raacke dem Borg einen markanten Charakter verleiht, steht Bruno Ganz im Mittelpunkt der Gegen- oder Schattenwelt – als ehemaliger Rechtsanwalt, der durch privat-berufliche Schicksalsschläge in die Szene abrutschte. Ganz verleiht dem „Bombadil“ mühelos die Präsenz, die benötigt wird, um das Milieu interessant und auch erträglich zu machen. Dass Akademiker den Halt verlieren, gibt es ja tatsächlich, auch wenn es nicht allzu häufig vorkommen dürfte, dass sie dabei so weit nach unten gezogen werden, dass sie kein eigenes Dach mehr über dem Kopf haben. Meist haben sie ein Umfeld, das sie vor dem Schlimmsten bewahrt. Ob die mafiösen Strukturen unter den Sandlern realistisch sind, ist ein weiterer Punkt, der nicht so einfach zu beurteilen ist. Wirkt etwas überzogen und nach Charles Dickens konstruiert, aber wer zum Beispiel die rumänische Bettelmafia im Blick hat, weiß, dass sehr wohl auch in der Schattenwelt Strukturen und Hierarchien existieren.
Ob die „Penner“ allzumeist aufgrund des strengen Regimes ihres Bandenchefs trocken sind und dadurch gut eingesetzt werden können, um in konzentriertem Teamwork Mäntel zu klauen und sogar Erpressungen durchzuführen, ist zumindest fraglich. In der Szene, in der Bombadil sich einen neuen Mantel verschafft, mussten wir sofort an Otto Reutters berühmtes Couplet „Der Überzieher“ denken. So viel hat sich seit den 1920ern also nicht verändert. Dass Ivo den Franz korrigiert (oder umgekehrt, das ist uns gerade entfallen, weil wir mehrere Tage nach dem Anschauen erst dazu kommen, die Kritik zu schreiben), welche die korrekte Bezeichnung für die Männer (und wenigen Frauen) ohne Wohnung ist, wirkt heute beinahe wieder überholt – einige Obdachlose bezeichnen sich mit Stolz als Penner. Die Szene wirkt aber auch herbeigeholt, weil diese beiden Münchener Cops normalerweise das Gespür für solche Feinheiten haben – wenn man sie ihnen nicht gezielt und szenenweise wegnimmt, damit das Publikum eine Instruktion darüber erhält, wie man sich korrekt ausdrückt und was sonst noch im Leben wichtig ist. Öffentlichrechtlicher Rundfunk hat eben auch einen (Be-) Lehr(ungs)auftrag.
Um uns als Zuschauer noch etwas mehr mit- und an die Hand zu nehmen, nicht etwa, weil es ermittlungstechnisch so viel bringt, denn er darf ja kein Handy benutzen, wird Ivo undercover in die Obdachlosenunterkunft eingeschleust, in der jener Charly das Sagen hat, der aus den Menschen dort eine echte Fagin-Gang geformt hat – mit Erwachsenen freilich, nicht mit Kindern und Jugendlichen. Fehlt nur noch der Mann aus der Oberwelt, der das alles steuert und die Taschen aufhält, dafür, dass er für Ruhe vor der ermittelnden Staatsgewalt sorgt. Was wir aber 23 Jahre später, erst vor wenigen Tagen, mitbekommen haben: Dass Obdachlosen-Aktivisten sich über die Unterkünfte beschweren und wie es dort zugeht. Nicht stressfrei jedenfalls.
Finale
Die Inszenierung ist ziemlich wuchtig, beinahe schon wie heute, wo bekanntlich der Style und das Drama den Realismus weinend zurückgelassen haben. Aber manchmal kann man sich trotzdem emotional einfinden und eine Träne verdrücken. Dafür zu sorgen, ist hier die Aufgabe von Bruno Ganz als Bombadil, aber bei aller Darstellungskunst, die an ein, zwei Stellen viel bühnenhafter wirkt als beispielsweise in „Der Himmel über Berlin“ – also eher schon so, wie Ganz den Hitler in „Der Untergang“ gespielt hat, so richtig reingefunden haben wir nicht. Das war bedingt durch die gewisse Überfrachtung, durch die angesprochenen Fehler, weil die Technik recht aufdringlich war und weil die Obdachlosen zwar nicht auf rührselige Weise gezeigt werden, nein, das hat man perfekt vermieden, aber weil man sie im Gegenteil ein wenig arg dezidiert rüberkommen lässt.
Aus dem Wunsch, sie nicht als willenlose Wracks zu diskriminieren, ist eine ziemliche Diebsgesindel- und Erpresserpistole hervorgegangen. Dass der Film vergleichsweise humorlos ist, hat uns nicht gestört, weil es zum Thema passt. Eher schon, dass der wenige Humor sich darauf konzentriert, Carlo Menzeniger zu bashen. Da hat er sich wohl auch erst einmal etablieren müssen. „Schattenwelt“ ist der älteste München-Tatort mit ihm, den wir bisher angeschaut haben.
© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Aus der Vorschau
Die Seite Tatort Fans, die wir als Referenz für die Vorschauen verwenden, zeigte, als der Ausgangsbeitrag gegen Mittag entstand, „Schneetreiben“ aus dem Jahr 2005 an, es wird aber „Schattenwelt“ aus 1996 ausgestrahlt werden. Das haben wir eben festgestellt, als wir den Tatort einprogrammierten – denn auch auf die Nr. 341 trifft zu, was für die 617 gilt:
Den Tatort „Schattenwelt“ kennen wir noch nicht und freuen uns natürlich sehr darauf. Obwohl er aus einem anderen Jahrtausend ist, waren die Cop-Freunde Batic und Leitmayr damals schon fünf Jahre zusammen für den Tatort München tätig.
Der Grund für die Änderung dürfte sein, dass der jüngst verstorbene Bruno Ganz in „Schattenwelt“ eine wichtige Rolle spielt.
© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Hauptkommissar Franz Leitmayr – Udo Wachtveitl
Hauptkommissar Ivo Batic – Miroslav Nemec
Bombadil – Bruno Ganz
Borg – Dominic Raacke
Anna – Luise Kinseher
Rabe – Erwin Leder
Michelle – Marion Mitterhammer
Charly – Viktor Schenkel
Frau von Rasmussen – Rosemarie Gerstenberg
Flach – Karl Friedrich
Jörg Kross – Peter Rappenglück
Regie – Josef Rödl
Musik – Roman Bunka
Buch – Joachim Masannek und Josef Rödl
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