Crimetime 250 - Titelfoto © WDR, Uwe Stratmann
Vorwort 2019
Wenn ein Tatort Premiere hat, wie gestern „Spieglein, Spieglein“ aus Münster, schieben wir mittlerweile ältere Tatorte, bevorzugt welche derselben Schiene, nach. Kein anderer Münster-Tatort eignet sich in diesem Fall besser als „Wolfsstunde“, in dem die Ereignisse stattfinden, die zur Verhaftung des Täters führen, welcher in „Spieglein, Spieglein“ wieder aktiv wird. Wenn auch auf ganz andere Weise als in „Wolfsstunde“.
Damit erhält ein Film die Nummer 250 in unserer Beitragskategorie „Crimetime“, mit dem man ein kleines Jubiläum würdig feiern kann.
Ein Spürhund wittert den Wolf
Eine Vergewaltigung, ein Frauenmord. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden, alle sind sich einig, bis auf Kommissar Thiel, dessen Gespür für Täter ihn nach einer anderen Fährte suchen lässt, wobei ihm eine mysteriöse junge Frau begegnet, die ihm weiterhelfen könnte. Deren Vertrauen jedoch nur schwer zu gewinnen ist.
Ein besonderer Tatort aus Münster, den wir als Q & A oder Frage und Antwort -> rezensieren
Handlung
Ein grausamer Sexualmord erschüttert Münster. Das Opfer, eine junge Jurastudentin, wurde in ihrer Wohnung erwürgt aufgefunden. „Müssen wir jetzt alle Angst haben?“, titelt die Lokalpresse. Doch nicht viel spricht dafür, dass hier tatsächlich ein Serienmörder am Werk war.
Dringend tatverdächtig ist hingegen der Exfreund des Opfers André Pütz, ein freier Fotograf, der vor allem in den Krisengebieten dieser Welt unterwegs ist. In letzter Zeit hatte er der jungen Frau wiederholt nachgestellt. Als Kommissar Thiel und Prof. Boerne ihn zu Hause überraschen, flieht er Hals über Kopf.
Und dennoch wehrt sich Thiel dagegen, voreilige Schlüsse zu ziehen. Er entdeckt Parallelen der Tat zu anderen Fällen. Vor allem die überaus attraktive Bankangestellte Anna Schäfer, in deren Wohnung vor kurzem eingebrochen worden war, lässt ihn nicht los. Doch die begegnet ihm zunächst sehr unnahbar.
Der Mord in Tatort „Wolfsstunde“ erinnert Kriminalhauptkommissar Frank Thiel an einen traumatischen Vorfall in seiner Vergangenheit. Gegen den Rat der Staatsanwältin Wilhelmine Klemm und gegen die Indizien, die von Rechtsmediziner Prof. Karl-Heinz Boerne ausgewertet wurden, folgt Frank Thiel seinem Bauchgefühl. In einem hinreißenden Thriller zittert der Zuschauer mit Frank Thiel um die Rettung der einzigen Zeugin, die der Mordserie bislang entkommen konnte.
Rezension
Die klassische Therapeutenfrage. Wie geht’s Ihnen gerade so? Wie sind Sie angekommen und sind Sie’s überhaupt oder müssen wir Sie wo abholen? Antwort: Wir hätten die Heizung andrehen sollen, schließlich ist es gerade herbstlich geworden. Nach diesem Tatort war uns jedenfalls eiskalt. Hier, im Arbeitszimmer und am Computer geht’s wieder. Schreiben hilft gegen das Entsetzen.
Entsetzen bei einem Münster-Tatort? „Wolfsstunde“ ist anders. So packend und bedrängend wie kein anderer Film dieser Regionalschiene – und wir kennen sie nun alle, haben ausführlich für den Wahlberliner über Münsters Lieblinge geschrieben.
Vor allem ist die Dramaturgie in „Wolfsstunde“ so steil wie selten – nicht nur Münster mit seiner sonst mehr am Humor als an der Spannung orientierten Filmweise betreffend, sondern auf alle Tatortstädte bezogen. Die Schlussszene mit Frau Schäfer, dem Täter im Möbelhaus-Overall ohne Logo und Thiel, der kämpft wie ein Löwe, gegen den Wolf im Biedermann-Pelz, ist großes Kino.
Das Schaudern kommt von der Atmosphäre der Verunsicherung, die immer dichter wird und von dem düsteren Höhepunkt, in dem wir einen Vergewaltiger am Werk sehen – oder doch beinahe. Sowie durch ein Opfer, das absolut glaubwürdig auf uns wirkt. Die Frau ist wie gelähmt, dann wehrt sie sich wieder. Die Lähmung und das Aufbegehren überträgt sich auf den Zuschauer, da ist man so dicht dran am Geschehen wie selten.
Was ist kinomäßig? Die gesamte Inszenierung mit ihren Rhythmuswechseln, den sehr unterschiedlichen, immer genau zur Stimmung passenden Farbgebungen, die technische Vielfalt mit Szenen, bei denen der Ton weggedreht wird und das Bild sich verlangsamt, wenn man Dinge nur sieht, aber nicht versteht, das hat uns stark an die eine oder andere Hitchcock-Masche erinnert, mit welcher er seinen berühmten Suspense erzeugt hat. Für uns ist „Wolfsstunde“ der Hitchcock unter den Münster-Tatorten. Und Hitchcock ist bekanntlich sehr visuell orientiert, nutzt die Möglichkeiten des Mediums Kino also konsequent.
Ist „Wolfsstunde“ damit auch der bisher beste Tatort aus Münster? Wir meinen: ja. Wegen der Inszenierung und eines Plots, der nicht nur eine großartige Dramaturgie hat, sondern auch wenige Fehler aufweist. Auch wegen der Schauspieler. Nur, dass der Täter so spät seinen erstmaligen Auftritt hat, gibt Abzug, weil sowas für einen Thriller, der plottechnisch aber ein Whodunnit ist, im Grunde nicht geht. Aber dass es so wenig stört, sagt uns viel darüber, wie begeistert wir nach dem Aufwachen aus der Schockstarre sind.
Wie gefieln uns die Darsteller und Darstellerinnen? Wir fanden sie großartig. Vielleicht Thiels stärkste Performance in jetzt schon 26 Tatorten. Vor allem: Er hat dieses Mal recht, nicht Boerne. Er kämpft allein gegen alle und dann auch noch physisch gegen den Täter, das wirkt stringent und zeigt, dass es nicht an Axel Prahl liegt, wenn Thiel manchmal als prollige Witzfigur erscheint, sondern daran, dass man ihn zu sehr in einen intellektuellen Negativkontrast zu Boerne setzt.
Jener beliebte Karl-Friedrich Boerne, der dieses Mal allerdings ziemlich unsympathisch wirkt. Seine Kauzigkeit wird übertrieben und, aber seine Fans möglicherweise nicht stören, uns macht sie nicht den Krimi kaputt.
Schmunzeln, nicht laut lachen, mussten wir dennoch über seine Art, wie er sich im Internet spekulativ und, wie er denkt, gewandt, an Frauen heranmacht. Der Mann ist ein Narzisst, das wissen wir längst, aber in diesem Tatort kommt es besonders deutlich heraus.
Sehr gut hat uns Katharina Lorenz als Anna Schäfer gefallen, das traumatisierte Opfer von einst, das jetzt wieder Opfer wird. Ein Muster. Nur angedeutet, aber es kommt aus ihrer Biografie. Da war etwas mit dem Vater. Es wird nicht explizit erwähnt, aber es dürfte sich um Kindesmissbrauch gehandelt haben. Dass wehrhafte Frauen nicht stets das bessere Ende für sich haben, entgegen der Lehrmeinung, die uns Nadeshda Krusenstern vorträgt, zeigt der erste Mord. Hätte das Opfer alles über sich ergehen lassen, hätte diese Jurastudentin wenigstens überlebt. Aber wir erfahren auch anhand der Figur von Anna Schäfer, was es heißt, so weiterleben zu müssen.
Das Zentralthema ist also das Sexualdelikt? Ja, und endlich einmal konsequent aus der Sicht der Opfer vermittelt, ohne einen Täter deswegen ins Klischee abzudrängen. Aber wie sich Frauen fühlen müssen, die mit Nachstellungen und sexueller Gewalt konfrontiert werden, das haben wir in keinem anderen Tatort bisher so eindringlich gezeigt bekommen. Und das will etwas heißen, angesichts der Inflation an Fällen aus dem Bereich der Sexualdelikte in Verbindung mit Tötungshandlungen.
Die Spiegelung von Übergriffen durch einen Typ Männer mit den Frauen-Fangmethoden anderer Männertypen ist sehr subtil angelegt. Die anderen, das sind versierte, exaltierte Akademiker wie Boerne. Normalerweise hat er ja keine Frauengeschichten, aber hier wird er zu den Biedermann-Tätern in Kontrast gesetzt: Ein Filou, ein Charmeur, ein Connaisseur, wie es richtig heißt. Der Lifestyle wirkt sich im Münster-Normalfall allerdings nicht in einer versierten Haltung Frauen gegenüber aus.
Aber er was ihn in „Wolfsstunde“ ein wenig Sympathie kostet, ist, neben seiner Haltung dem Opfer Schäfer gegenüber und Thiel gegenüber, dass er so berechnend agiert. Gemäß der Persönlichkeitsstörung, die wir oben angedeutet haben, hat er nur eine schmale Bandbreite im Bereich der echten Gefühle, eher suggeriert er sie Dritten und sich selbst und gefällt sich darin, kann sich daher auch von sich selbst mitreißen lassen. Kein Wunder, dass (echte) Akademiker in der Regel keine Vergewaltiger sind. Sie können Frauen ohne Gewalt ins Bett kriegen und wenn sie einigermaßen attraktiv sind, hat das etwas Sportliches, wie das gesamte Leben auf der Sonnenseite der Leistungsgesellschaft. Vergewaltigungsneigung ist, auch wenn die Menschen, die sie begehen, unauffällig im wertungsfreien Sinn sein mögen, ein Verlierersyndrom.
Ist das wirklich ein ähnliches Verhalten? Rechtlich nicht, selbstverständlich, denn es liegt beiderseits Freiwilligkeit vor. Unter intelligenten Menschen, die auf gleicher Höhe agieren, ist es auch ein Deal, der Spaß und Abenteuer zum Hauptzweck hat. Aber man sollte dafür nicht Einsamkeit vortäuschen, wenn man sowieso beziehungsunfähig ist und das auch weiß und es gar nicht ins Lebenskonzept passen würde, bei einer Frau ehrliche, dauerhafte Gefühle auszulösen und Verantwortung übernehmen zu müssen.
Die Ähnlichkeit der Muster bezieht sich aber auch darauf, dass alles zur Wolfsstunde passiert. Überfallartig in einer dunklen Etagenwohnung oder nach einer sorgsam vorbereiteten Inszenierung mit Kerzenlicht in einem Penthouse. „Wolfsstunde“ handelt auch von sozialen Unterschieden und den Möglichkeiten mancher Männer, die nicht straffällig werden, weil sie Frauen beeindrucken können und die keinen Leidensdruck aufbauen. In diesem Fall steht Boerne aber auch für die schnodderige Art, wie wir über Menschen urteilen, die etwas erlebt haben, das wir nicht erlebt haben und die daraus Verhaltensweisen entwickelt haben, die wir schnell bereit sind als „hysterisch“ oder „übertrieben“ abzutun – und schlimmstenfalls als Simulation.
Das klingt, als seien Frauen leicht manipulierbar? Wir sind alle manipulierbar, mehr oder weniger und wir alle könnten auch Täter sein. Nehmen wir Thiels Verhalten im Aufzug, wo er eine übergriffige Art zeigt, als er Anna beruhigen will. Oder als er sie nicht sofort aus der Wohnung lassen will. Selbst Thiel, der so ein zahmer und gutmütiger Mensch ist, hat in bestimmten Situationen und wenn eine Frau Opferstatus suggeriert, schwache Momente. Das alles wirkt sehr kompetent gefilmt. Stellenweise einen Tick zu plump, aber sonst würde nicht deutlich, dass wir alle Gefahr laufen, Mustern zu folgen, die wir nicht beherrschen, sondern die uns beherrschen.
Es ist auch nicht so, dass Frauen immer die Opfer sind, aber dank ihrer überlegenen Physis und ihres höheren Aggressionspotenzials oder wenigstens der Neigung, es körperlich abbauen zu wollen, sind Männer objektiv gefährlicher. Niemand hat aber, soweit wir das überblickt haben, geschrieben, der Tatort sei männerfeindlich. Das ist auch eine Leistung, denn bei vielen Tatorten, die Frauen als Opfer zeigen, fühlt sich ein Teil der überwiegend männlichen Fangemeinde angegangen.
Die Frage ist, wann heulen Wölfe? Wenn sie den Vollmond sehen, oder wenn ihnen jemand auf die Füße tritt?
Wie lautet das Fazit? Als im April des Jahres „Der Hammer“ in Erstausstrahlung lief, schrieben Kritiker, das Neue daran sei das Ernste darin. Das stimmt aber nicht, wie wir unter anderem an „Wolfsstunde“ sehen, der noch um einiges ernster ist als „Der Hammer“.
„Wolfsstunde“ könnte die Blaupause für das sein, was wir kürzlich zu „Der Hammer“ geschrieben haben – einen seriösen, dramatischen Tatort zu machen, der den Humor nicht vergisst, aber ihn so gewichtet und einsetzt, dass das Thema nicht banalisiert wird.
Dass ein Tatort mit dem Münster-Team machbar ist, in dem es schärfer, packender und emotionaler zugeht als in den meisten anderen Städten und bei den meisten Teams, das hebt ihn besonders heraus. Doch, wir zücken die 9/10 und stellen ihn damit in die persönliche Hall of Fame, denn mehr als diese Punktzahl haben wir bisher nicht vergeben. Den Ausschlag gibt, neben allen Qualitäten des Films, dass wir in einem Moment besonders bestürzt und sehr berührt waren. Diesen Moment behalten wir ausnahmsweise für uns.
Wir haben bisher noch keinem Münster-Tatort die 9/10 gegeben, aber wir tun es dieses Mal.
© 2019, 2014 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
| Frank Thiel | Axel Prahl |
| Prof. Karl-Friedrich Boerne | Jan Josef Liefers |
| Nadeshda Krusenstern | Friederike Kempter |
| Silke Haller „Alberich“ | ChrisTine Urspruch |
| Wilhelmine Klemm | Mechthild Großmann |
| Herbert Thiel | Claus D. Clausnitzer |
| André Pütz | Thomas Dannemann |
| Anna Schäfer | Katharina Lorenz |
| Sascha Kröger | Arnd Klawitter |
| Regie: | Kilian Riedhoff |
| Buch: | Kilian Riedhoff und Marc Blöbaum |
| Kamera: | Marcus Kanter |
| Musik: | Peter Hintertür |
| Szenenbild: | Thomas Schmid |
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