Titelfoto © MDR / Saxonia Media, Junghans
Ich möcht so gern nach Hause gehn
Was hat ein Film aus dem Jahr 1952 mit dem letzten Saalfeld / Keppler-Tatort aus dem Jahr 2015 zu tun und wie lernt man als Scherbenmensch die Bettlandung ohne Bruch? Dies und noch mehr besprechen wir in der -> Rezension zum 20. und letzten Tatort des umstrittenen Leipzig-Duos.
Handlung
Die achtjährige Magdalena erscheint am Montagmorgen nicht in der Schule. Die Kommissare Eva Saalfeld und Andreas Keppler lösen eine Großfahndung aus. Bei der Befragung der Eltern stellt sich heraus, dass diese ihr Kind bereits seit Sonntagnachmittag nicht mehr gesehen haben.
Erstaunlicherweise wirken die Eltern nicht schockiert über das Verschwinden ihres Kindes und sind überzeugt davon, dass ihr tiefer Glaube an Gott das Ganze zu einem guten Ende führen wird.
Bei der Untersuchung von Magdalenas Schulweg entdeckt Keppler Spuren der Entführung und damit den Tatort, einen stillgelegten Treppenaufgang in einem Fußgängertunnel.
Die Kommissare bereiten einen Massengentest vor, den sie auch in den Medien ankündigen. Der Gedanke, dass die kleine Magdalena in ihrem Versteck mit dem Tode ringt, lässt die Kommissare nicht ruhen.
Rezension
Um offen zu schreiben – eine echte Verbindung zwischen dem Titellied „Ich möcht so gern nach Hause gehn“, das aus dem Film „Toxi“ von 1952 stammt und von dem damals sehr bekannten Michael Jary komponiert wurde, haben wir nicht gefunden. Denn in dem Film geht es um eine Problematik, die heute kaum noch eine wäre – nämlich um Kinder, die von deutschen Frauen mit afroamerikanischen Besatzungssoldaten gezeugt worden waren und die nach dem Zweiten Weltkrieg wohl die ersten „fremdländisch aussehenden“ Menschen auf deutschen Straßen waren – von den dunkelhäutigen Besatzungssoldaten selbst abgesehen, denen es im Nach-NS-Deutschland oft besser ging als in weiten Teilen der US-Heimat.
Wie heikel das Thema damals war und wie die Sprache auch der linken Presse noch durchaus verräterische Züge trug, das kann man gut nachlesen im SPOn-Beitrag zur Entstehung des genannten Films. Aber auch, wie intensiv in jenen Jahren noch geschrieben wurde und wie lehrreich das heute alles ist, fasziniert uns immer wieder.
Jedenfalls ist das Mädchen Magdalena, etwa so alt wie die „Toxi“ im Film, nicht in irgendeiner Form mit Minderheitenproblemen in Verbindung zu bringen, es sei denn, man meint die sektierenden Eltern oder spielt darauf an, dass das Schicksal des „Filmkindes Toxi“ in einer Adoption mündete, nachdem die phyisische Mutter es abgelehnt hatte. Das mehr als schräge Handeln des Ehepaares Brix als eine Art Umkehrung der Situation, ja, kann man so interpretieren. Nicht ein verlassenes Kind braucht Eltern, sondern innerlich verlassene Menschen, die Klimmzüge am Gestänge von Garagentoren machen oder ein Zigarettenversteck in direkter Nähe zur Gastherme haben (in welchem modernen bzw. renovierten Haus ist die denn mitten im Bad?), brauchen dringend ein Kind, und sei der Wunsch noch so sehr ohne erkennbaren Plan und ohne Perspektive. Ein Kind für ein paar Tage zum Spielen, so war es wohl ursprünglich gedacht. Und dass das Kind gerne nach Hause möchte, obwohl die Eltern auch irgendwie seltsam sind, ist gut nachvollziehbar. Lieber Rosinenbrot als Maskenmenschen.
Dafür kommt Martin Wuttke vollkommen maskenlos daher. Er springt aus der Vierten Wand heraus, dass man vor Schreck beinahe vom Sofa kippt. Beim ersten Mal jedenfalls. Dabei haben wir das doch letztes Jahr schon in einem Tatort gesehen. In einem preisgekrönten Tatort sogar. Fairerweise muss man sagen, dass „Niedere Instinkte“ schon gedreht war, als „Im Schmerz geboren“ erstmalig gezeigt wurde. Es liegt wohl in der Luft, die Fiktion zu durchbrechen und uns klarzumachen, dass sowieso alles nur Theater oder Film ist und uns daran zu erinnern, dass unsere Wirklichkeit immehr mehr zur undurchschaubaren, vielbödigen Illusion wird. So sollte man auch die Handlung des letzten Leipzig-Tatorts mit Saalfeld und Keppler verstehen.
Viele Tatort-Fans werten nach der Devise „Alles verstehen, heißt alles verzeihen“, das haben wir nach einem Seitenblick in den „Tatort-Fundus“ gerade wieder festgestellt, aber wenn das totale Verstehen nicht zu erreichen ist, scheien sich die Geister. Je verzweifelter sich die einen an eine Wirklichkeit klammern wollen, die noch ein geschlossenes Ganzes darstellt, wie ein kleines Kammerspiel, das doch nur eine Illusion ist, je mehr lehnen sie einen Film wie diesen ab. Je toleranter die anderen, und zu denen zählen wir uns, darauf verzichten, die Welt noch vermessen zu wollen und froh sind, dass unsere kleine Welt in der großen Welt auf wunderbare Weise keinen Schaden nimmt, desto gemeiner sind wir letztlich. Nämlich gegenüber Drehbuchautoren und Regisseuren, die es nicht so gut verstehen wie Claudia Garde und Sascha Arango, das Absurde zum Event werden zu lassen.
Aber es kommt auch auf die Konsequenz an. Wenn Motive interpretierbar bleiben und manch Handlungsdetail surreale Züge trägt, dann befreit sich der Tatort letztlich. Wenn der Befreiungsversuch halbherzig ist, und das ist er leider oft, dann pochen wir eben doch auf die Logik und die Nachvollziehbarkeit, weil wir den Eindruck haben, hier wollte jemand einen klassischen Krimi drehen und schlampte dabei. Wenn ein Team aber gar nicht erst diesen Anspruch erhebt und zudem ein Vehikel für einen großartigen Schauspieler in Bewegung setzen will, dann genießen wir das, was wir sehen, nachdem wir die Prämisse geändert haben.
Dass Martin Wuttke ein Guter ist, wussten wir bereits vor „Niedere Instinkte“, aber hier liefert er eine der besten Schauspielleistungen, die wir bisher in einem Tatort gesehen haben. Der Film ist eine Hommage an einen, der nicht geschmissen hat, wie einige andere, der sich, obwohl zuweilen gesundheitlich angeschlagen, in den Dienst der Aufgabe gestellt hat, obwohl er gewusst haben dürfte, dass Leipzig ein besonderer Tatort ist. An diesem Tatort werden seit dem Ende von Kain und Ehrlicher manche Schauspieler unter Wert eingesetzt, und das ist doch ein Kulturvergehen. Ihm jetzt diesen großartigen Abschied zu schreiben, finden wir einfach nur schön. Okay, ein „Aber“ muss immer sein. die Schlussszene. Da werden wir doch wieder auf eine Weise pingelig: Es ist nicht angängig, dass jemand ekstatisch ruft „Mach mir ein Kind!“, wenn klar ist, dass man keine Kinder haben kann. Oder stimmt das gar nicht? Wenn nicht, dann waren der verlorenen Jahre wirklich viele.
Die Geschichte des Kindes Magdalena hingegen kommt ein wenig kurz. Wir schreiben mit Bedacht nicht „zu kurz“. Es passiert eben nicht sehr viel mit ihr, und das gibt Raum für die Geschichte von Andy und Eva und dafür, dass die beiden sich alles sagen dürfen, was immer schon in ihnen geschlummert hat. Manchmal ist es etwas nieder, aber gut inszeniert ist es doch. Wenn man nichts mehr zu verlieren hat, wenn es wurscht ist, ob das ganze Präsidium die Post-Pre-Ehekräche der Vorbild-Kriminaler mitbekommt, dann lebt es sich mit einem Mal so befreit, und Leipzig kommt so anders rüber als gewohnt.
Finale
Es gibt Künstler, deren Handschrift zeigt sich nicht darin, dass alle ihre Filme einen bestimmten „Touch“ haben. Manchmal muss man das Pferd von hinten aufzäumen, auch auf die Gefahr hin, einen Tritt verpasst zu bekommen. Die Figuren in „Niedere Instinkte“ sind sehr kräftig und individuell gezeichnet, überzeichnet, kenntliche Sinn- und Gefühlssucher hinter Masken. „Da ist die Brix“ – sowas kann nur Keppler, wenn er nur die Maske und nicht den Menschen dahinter sieht.
Die Figuren sind typische Arango-Charaktere, wie wir sie aus Kiel als Täterpersönlichkeiten kennen. Die Atmosphäre ist anders als in den Kiel-Tatorten, und, immer den Seitenblick zum Fundus wahrend, stellen wir fest, sie hat nicht bei allen Fans der Tatort-Reihe verfangen oder sie eingefangen, uns aber wohl. Das mag daher kommen, dass wir FilmFilm-Fans sind und den verzauberten, optisch grandiosen Moment genießen können, unter der oben genannten Prämisse, dies ist kein Rätselkrimi. Die Atmosphäre, herrlich durch Bilder und Musik erzeugt, stammt von Regisseurin Claudia Garde.
Wir sind weiterhin der Ansicht, dass der Howcatchem sich besser zur Charakterzeichnung eignet, daher schreibt Drehbuchautor Arango unseres Wissens hauptsächlich Thriller-Handlungen. Hätte er das Drehbuch nach Kiel verkauft und wären Borowski und Brandt auf den Spuren der Brixens gewesen, hätte es übrigens mehr Fan-Zustimmung gegeben, davon sind wir überzeugt.
Das Ende jedenfalls, als Magdalena sich selbst aus ihrem Verließ enternt hat und auf der Straße steht, ist uns Beleg für die Seelenverwandtschaft der manchmal ein wenig mystisch angehauchten Garde-Inszenierungen untereinander und dafür, dass es kein Muster geben darf, das nicht zu durchbrechen ist. Wenn es kaum möglich ist, ein Versteck auf sinnvolle Weise zu finden, warum soll sich der Fall dann nicht auch einmal von selbst lösen?
Wenn ein Kind nach Hause möchte, kann nicht einmal die Polizei dies verhindern. Wenn Eltern beten und flehen, aber nicht helfen können, Entführer einander gegenseitig umbringen oder sich einsperren lassen, Kommissare damit befasst sind, was ein Fall in ihren gequälten Seelen auslöst, dann haben nur noch Kinder die Problemlösungskompetenz, vor allem, wenn es um ihre eigenen Angelegenheiten geht.
8,5/10
© 2019, 2015 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
| Hauptkommissarin Eva Saalfeld | Simone Thomalla |
| Hauptkommissar Andreas Keppler | Martin Wuttke |
| Monika Prickel | Susanne Wolff |
| Wolfgang Prickel | Jens Albinus |
| Judith Harries | Picco von Groote |
| Matthias Harries | Alexander Scheer |
| Magdalena Harries | Martha Keils |
| Evas Nachbarin | Victoria Sordo |
| Wolfgang Menzel | Maxim Mehmet |
| Staatsanwalt Diekmann | Peter Benedict |
| Polizist Pelle | Daniel Zillmann |
| Polizist Hartmann | Dominik Paul Weber |
| Polizist Butterblum | Sarina Radomski |
| Regie: | Claudia Garde |
| Buch: | Sascha Arango |
| Kamera: | Carsten Thiele |
| Musik: | Colin Towns |
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