Ihr werdet gerichtet – Tatort 954 / Crimetime 284 // #Tatort #Schweiz #Luzern #Flückiger #Ritschard #Richter #Gericht #StPO

Titelfoto © SRF, Daniel Winkler

Einführung in die neue schweizerische Strafprozessordnung

Wie das erste Tatort-Halbjahr 2015 endete, so beginnt das zweite – mit einem Fall des Schweizer Ermittlers Reto Flückiger. Es ist nun sein achter und wir wollen klären, ob unser Mann in Luzern und seine Kollegin Liz Ritschard auch im Tatortland endgültig angekommen sind.

Die Schweizer sind mittlerweile richtig profiliert darin, aktuelle Themen aufzugreifen, noch bevor sie bei uns so richtig hochkochen – wie zuletzt in „Schutzlos“ das Thema der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Aber der neue Fall ist so spezifisch auf eine schweizerische Besonderheit abgestellt, dass es umso spannender ist, herauszufinden, ob er auch für uns funktioniert. Deutschland hat nämlich schon seit ewigen Zeiten eine bundes- und zuvor reichseinheitliche Strafprozessordnung, während diese in der Schweiz erst 2011 auf Bundesebene geregelt wurde. Zuvor waren die Kantone mit unterschiedlichen Normen zugange. Man kann sich hierzulande kaum vorstellen, dass ein Strafverfahren unterschiedlich abgewickelt wird, je nachdem, ob es in Berlin oder Brandenburg stattfindet, aber die Schweizer Kantone haben eine andere Form von Eigenstaatlichkeit als die föderale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland sie vorsieht. Mehr zur StPO und zum Film ist zu lesen in der -> Rezension.

Handlung

Es ist eine Exekution auf offener Straße: In Luzern tötet ein Heckenschütze zwei albanische Autohändler mit Kopfschüssen. Kurz darauf geschieht der nächste Mord nach demselben Muster. Diesmal ist das Opfer ein Treuhänder. Die Tatwaffe ist dieselbe – Reto Flückiger und Liz Ritschard haben es mit einem Serientäter zu tun. Und sie erkennen, dass die scheinbar willkürlich ausgewählten Opfer eine Gemeinsamkeit haben: Alle begingen Straftaten, für die sie von der Justiz nie zur Rechenschaft gezogen wurden.

Die beiden Albaner schlugen einen jungen Mann zum Krüppel, der Treuhänder tötete bei einem wahnwitzigen Überholmanöver eine Mutter und ihr Kind. Im beschaulichen Luzern läuft also ganz offensichtlich ein blutiger Rachefeldzug. Und es gibt noch viele potenzielle weitere Opfer, denn die überlastete Schweizer Justiz und ein neues Strafgesetz sorgen dafür, dass zahlreiche weitere Straftaten auf die lange Bank geschoben werden. Reto Flückiger und Liz Ritschard setzen alles daran, den selbst ernannten Rächer stoppen, ehe noch mehr Menschen sterben.

Was passiert, wenn jemand den Glauben an das Rechtssystem verliert? Wie führt ungesühntes Unrecht dazu, dass ein einzelner Mensch zur Selbstjustiz schreitet? Diese Fragen verpackt der neue „Tatort“ aus der Schweiz in eine spannende Geschichte über einen ganz normalen Bürger, der sich zum selbst ernannten Richter und Henker aufschwingt. Reto Flückiger und Liz Ritschard jagen den brutalen Killer, der davon überzeugt ist „Gerechtigkeit“ zu schaffen (…). (ARD-Werbetext) 

Rezension (enthält Angaben zur Auflösung)

Essenz der neuen StPO ist aber offensichtlich, dass der Aufwand für ein Strafverfahren wesentlich höher ist als zuvor, wobei der Mehraufwand nach Kanton variiert. Darauf basiert der Film: Ein mehrjähiger Rückstau zwischen dem Abschluss der Ermittlungen zu einer Straftat und der Verfahrenseröffnung entsteht, mithin eine Gerechtigkeitslücke allein aufgrund des Zeitablaufs, nicht nur durch Urteile, die in vielen Fällen von den Opfern oder deren Angehörigen für zu mild gehalten werden. Zur Vertiefung haben diesen Beitrag der NZZ recherchiert.

Es ist schon ein Verdienst, dass die Schweizer sich so bemühen, ins moderne Tatortschema hineinzufinden, wo man doch immer denkt, dort ist es gar nicht so düster, wie beispielsweise Luzern trotz seiner hübschen Umgebung und Bauweise in einigen aus der Luft oder aus der Höhe gefilmten Szenen immer noch wirkt. Das Filmen in Blaugrau mit wenig Farbe macht aber schon eine Menge aus, und dann noch vier Tote. Hätte der Rächer nicht doch einige Fehler gemacht, die belegen, dass er vielleicht intelligent und sehr schusspräzise ist, aber doch nicht ein cooler Auftragskiller, sondern ein persönlich Involvierter, aus familiären Gründen, hätte der Mann also nicht aus Unachtsamkeit oder Panik ziemlich die Fasson verloren, dann wären es auch mehr Leichen geworden. So wenig glaubhaft, wie es nach drei Morden ist, dass man dem ungewöhnlichen schwarzen VW T4 nicht auf die Spur kommt, so spiegelt sich das darin, wie schnell dann plötzlich alles geht, wobei der error in oblecto, den zwei sehr ähnlich ausschauende Brüder verursachen, im Grunde gar nicht der Auslöser für die Überführung des Täters ist. Doch die perfekte Handlung gelingt selten, und warum ausgerechnet im 954. Tatort?

Dar hat dafür viele andere Vorzüge und ist summarisch wohl der beste, der bisher vom neuen Schweizer Team zu sehen war. Wir listen die Benefits, die wir ermittelt haben:

  • Antoine Monot als der Rächer.Lieber Himmel, was ist los, wir haben tatsächlich gehofft, dass es noch einige Morde lang dauert, bis Flückiger, Ritschard, Mattmann und die anderen ihn stoppen können. Dabei geht das rechtspolitisch überhaupt nicht. Aber es ist das alte Lied: Wir sind so leicht auf eine Weise zu manipulieren, die unsere Urinstinkte hervorbringt. Rache ist einer davon. Auge um Auge oder mehr, denn der Rächer tötet nicht nur Menschen, die getötet haben, sondern auch, sogar vorzugsweise, Sexualstraftäter. Vergwaltiger. Und erweitert seine Tätigkeit auf fahrlässige Tötung, wie beispielsweise durch Verkehrsunfall wegen überhöhter Geschwindigkeit. Selbstverständlich sind alle Typen, die dran glauben müssen, miese Möppe, sonst würde die Manipulation nicht funktionieren. Reue findet nicht statt oder Schuld wird bestritten, und dann – ja, dann noch dieses nervenzehrende, jahrelange Warten auf einen Prozess. Aber der Rächer zieht nicht einfach los, weil er sich berufen fühlt, nein, seine eigene Frau wurde Opfer ihres eigenen Chefs, ist schwer traumatisiert und findet nicht mehr ins Leben und zu ihrem Mann zurück, kann sich nicht mehr berühren, nicht einmal die Haare kämmen lassen.
  • Da entwickelt der Mann ein posttraumatisches Wachstum. Seine Kräfte und sein Wille wachsen weit über das hinaus, lassen ihn Dinge tun, die er zuvor nie zuwege gebracht hätte. Dass der Begriff des PTW aber auch auf jemanden angewendet wird, der seine Kräfte zu Tötungshandlungen einsetzt, hat uns dann doch überrascht, denn normalerweise ist er mit positiver Selbsterweiterung nach einem traumatischen Ereignis (Neubestimmung von realistischen Zielen, mehr innere Sicherheit, mehr Beziehungsfähigkeit, mehr Spiritualität etc.) konnotiert. Und wie eindringlich das hier dargestellt wird. Der knuddelige Monot, der Hinterhof-Kleinunternehmer macht sich seine Technik-Kenntnisse zunutze und wird zu ebenjenem Rächer. Und wird dann wiederum von der Polizei manipuliert, die ihn fassen will. Der Trick klappt nicht, ihn zu ärgern, indem die einzelnen Morde als nicht zusammenhängend dargestellt werden, obwohl er doch auf alle Dumdum-Geschosse extra sein Paragrafenzeichen eingeritzt hat. Die Presse ist nicht lang genug zu kontrollieren. Einzig die Funktion des Freundes aus dem Jugoslawien-Bürgerkrieg wirkt ein wenig hergeholt, weswegen ihn sein Freund Simon, der Sniper, auch umbringen muss. Dieses Mal, um seine Taten zu verdecken. Simon, der Sniper? Ja, der jetzige Kleinunternehmer war auch in Jugoslawien und arbeitete als Scharfschütze im Häuserkampf. Somit ist seine Schusssicherheit erklärt. Und obwohl er nicht unbedingt soldatisch wirkt und wie jemand, der sich gewandt von Deckung zu Deckung schlängelt, spielt Antoine Monot den Mann eindringlich und glaubhaft.
  • Reto und Liz als desillusionierte Kämpfer für – was? Für den Staat natürlich. Für die Ordnung. Für eine Ordnung, die möglicherweise nicht in Ordnung ist, es nicht sein kann. Weil zum Beispiel jedes Gesetz, das die Parteienrechte stärkt, mehr Aufwand, mehr Zeit, mehr Hin und Her bedeutet. Weil Gerechtigkeit nicht nur wegen der Urteile selbst manchmal weit weg scheint, sondern schon wegen der Bürokratie. Es hat etwas Unheimliches, wie einer der rechtsstaatlichsten Rechtsstaaten der Welt, eine uralte Demokratie, unter die Rächer kommt, weil selbst den geduldigen Schweizern der ganze Aktenstau zu viel wird. Oder wenigstens einem von ihnen. Einer reicht aber schon, um Reto und Liz wieder ebenso fahl wie gefasst ihrer Arbeit nachgehen zu lassen. Das ist überhaupt keine Marotte, keine der in neudeutschen Tatorten so typischen Entgleisungen. Oh ja, doch. Reto rutscht die Hand aus, gegenüber einem arroganten Möchtegern-Zeugen, der außerdem Vergewaltiger ist. Und wieder die Manipulation: Ja, genau. Und damit ist er noch gut bedient. Das ist so effektvoll, weil Reto so ein in sich gekehrter Mensch ist, der jederzeit mit seinen Fällen lebt, ohne dass er einen großen Aufwasch draus macht. So ist er gefilmt, die Nahaufnahmen betonen mittlerweile das Verwitterte so stark und der Bart wird auch immer ungepflegter. Man möchte sagen, jetzt isses mal gut, bitte nicht noch mehr abgekämpft, denn Mitleid ist nicht die Basis, auf der wir uns den Ermittlern annähern wollen, sondern Identifikation mit ihrer Denke, ihren schwierigen Jobsituationen.
  • Bei Liz Ritschard wird ähnlich verfahren, zusammen sind sie beiden so realistisch wie kaum ein anderes aktuelles Tatort-Team. Die Zeit (t)schillert nicht, sie wird nicht karikaturistisch behandelt, sondern sie spiegelt sich in diesen ehrlichen, müden Gesichtern. Man möchte den beiden eine Erholung auf  der Insel spendieren, aber man braucht sie doch. Denn letztlich kann der Rachefeldzug nicht die Lösung sein, das wissen wir auf der rationalen Ebene sehr wohl. Nach unserer Ansicht gehören auch Waffen nicht in Privatbesitz. Das Küchenmesser und der Pflasterstein und das unkenntliche Giftgebräu sind ohnehin nicht zu bannen.
  • Ein Bravo für Mattmann.Dieses Mal steht der Chef nicht zwischen den Ermittlern und schießt ihnen nicht in den Rücken, sondern deckt diesen. Besonders in der Szene, in der Reto, siehe oben, die Contenance verliert. Der dritte Teil der Manipulation. Recht wird gebeugt und wir freuen uns drüber. Man merkt Jean-Pierre Cornu jederzeit an, dass er auch anders kann, aber wir sind froh, wir haben geradezu aufgeatmet, dass er sich hier als Chef einmal nicht diskreditiert, was wir in „Schutzlos“ noch kritisiert hatten, weil er dabei eher wie ein Abziehbild eines Vorgesetzten wirkt als wie jemand, der jetzt Sondereinheiten, Taskforces organisieren und den besten Profiler der westlichen Welt herbeischaffen kann, der, wo sonst, bei Scotland Yard ausgebildet wurde.
  • Die gesamte Einsatzzentrale wirkt vom Kopf her wie ein kühler, aber sicherer und kompetent besetzter Ort, wir kennen diese Räume auch von deutschen Tatorten, und wie sich Teams dort zusammenfinden, um das Verbrechen zu stoppen, wo Individuen ihr Tun verzahnen, um eines wichtigen Zieles willen, das ist immer wieder so schön exemplarisch. Solange es solche Ort gibt und Menschen darin, wie wir sie  hier sehen, ist noch Hoffnung.

Unsere Kritikpunkte:

  • Es wird langsam zur nervigen Attitüde, den Ton so zu gestalten, dass man bestimmte Stellen zurückspulen und mehrmals anhören muss, um sie zu verstehen. Führend sind da immer noch die Bremer, von seiner Tätigkeit beim RB und bei Lürsen hat Antoine Monot wohl auch dieses Nuscheln mitgebracht, das sich zum Glück nach wenigen Minuten verliert. Man muss die alten Jobs abschütteln, um dem aktuellen gerecht zu werden. Und, nein, wir haben keinen Hörschaden.
  • Die Musik ist zeitweise over the Top, da wäre weniger mehr gewesen. Die Szenen, in denen jedes Mal wieder die gleiche Hirnmasse zu sehen ist, sind ohnehin dramatisch und ekelig genug.

Finale

Wieder bestätigt sich, dass der Howcatchem der Plot der Wahl ist, wenn es darum geht, Täterfiguren differenziert und spannend zu machen. Der Thriller wird bei dieser Handlungsanlage bestenfalls mitgeliefert. Sicher hätte man den Spannungsbogen noch etwas höher ziehen können, aber irgendwann ist die Grenze zum Reißer überschritten, und die Schweizer sind keine Reißer, und das traurige Schicksal von Menschen wie Simons Frau würde durch mehr Effekte marginalisiert. Dafür ist „Ihr werdet gerichtet“ schnörkellos und spart sich jedes noch so kleine Mätzchen. Besser kein Humor als der falsche am falschen Platz. Ob da noch mehr geht? Vielleicht ein Neuner-Tatort? Wir sind mittlerweile richtig gespannt auf alles, was aus der Schweiz zur Reihe beigesteuert wird. Gar nicht so leicht, der Litz, dem Flückiger, dem ganzen Team zuzurufen: Weiter so! Denn es ist ja so schwer, in diesem Job, und oft so unbefriedigend. Aber trotzdem: Weiter so!

 8,5/10

(c) 2019, 2015 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Kommissar Reto Flückiger – Stefan Gubser
Kommissarin Liz Ritschard – Delia Mayer
Kriminaltechnikerin Corinna Haas – Fabienne Hadorn
Profiler Bollag – Michael Finger
Sniper Simon Amstad – Antoine Monot, Jr.
Karin Amstad – Sarah Hostettler
Elsa Giger – Suly Röthlisberger
Eugen Mattmann – Jean-Pierre Cornu
Fabio und Alessandro – Roberto Guerra
Simic – Misel Maticevic
Andy Denzler – Aaron Hitz
Verkäuferin – Martina Binz
Luc Seiler – Robert Rozic
Hürlimann – Andreas Matti
Anouk – Oona Wiederkehr
Enver – Artan Morina

Drehbuch – Urs Bühler
Regie – Florian Froschmayer
Kamera – Patrick-D. Kaethner
Musik – Adrian Frutiger


Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Hinterlasse einen Kommentar