Anne und der Tod – Tatort 1095 / Crimetime 316 // #Tatort #Stuttgart #SWR #Lannert #Bootz #Tod #Anne #Tatort1095 #Pflegenotstand

Crimetime 316 - Titelfoto © SWR, Maor Weisburd

Innerer und äußerer Pflegenotstand

Sie sind es wirklich, Lannert und Bootz. Die Könige des Verhörs. Das war schon mehrfach, am besten in „Der Mann, der lügt“ zu sehen. Alles kam in etwa, wie wir es in der Vorschau (siehe unten) vermutet haben. Und doch wieder nicht. Und alles hinterlässt Zwiespalt. Warum? Das steht in der -> Rezension.

Handlung

Paul Fuchs war alt, bettlägerig, pflegebedürftig. Trotzdem war sein Tod nicht unmittelbar zu erwarten. Seine sorgfältig arbeitende Hausärztin hält eine Tötung für möglich und benachrichtigt die Polizei, die den Fall jedoch einstellt, weil es keinen Nachweis für ein bewusstes Weglassen von Medikamenten gibt.

Auch Christian Hinderer war alt, bettlägerig, pflegebedürftig. Als er am Fuß einer Treppe tot gefunden wird, beschuldigt seine Witwe Gundula die Altenpflegerin Anne Werner, ihn hinuntergestoßen zu haben. Wieder werden Thorsten Lannert und Sebastian Bootz gerufen. Wieder lässt sich kein Nachweis finden. Diesmal aber stellen sie die Ermittlungen nicht ein, denn: Auch Paul Fuchs war ein Patient Anne Werners. Es ist also schon der zweite zweifelhafte Tod unter den Patienten des mobilen Pflegedienstes innerhalb kurzer Zeit.

Doch wen die Ermittler auch befragen, von Gundula Hinderer abgesehen sind alle voll des Lobs für Anne Werner. Sie sei freundlich, kompetent und einschränkungslos korrekt, und das in einem Beruf, dessen Bedingungen alles andere als einfach sind. Anne Werner selbst streitet den Verdacht ruhig, aber nachdrücklich ab. Trotzdem: Thorsten Lannert und Sebastian Bootz durchleuchten das gesamte Leben der Altenpflegerin, befragen sie immer wieder, lassen nicht locker. Keinesfalls wollen sie ein zweites Mal zu früh aufgeben.

In dem von Wolfgang Stauch geschriebenen und von Jens Wischnewski inszenierten doppelbödigen „Tatort: Anne und der Tod“ wenden die Stuttgarter Kommissare Thorsten Lannert und Sebastian Bootz ihre ganze Vernehmungskunst auf, sie durchleuchten Tagesabläufe und Patientenleben. Während sie mit der Frage kämpfen, ob ihre Ermittlungen überhaupt angemessen sind, wird ihnen gleichzeitig klar, was das Wort Pflegenotstand in der Realität bedeutet (ARD-Werbetext).

Rezension

Es ist selten geworden, dass wir einen neuen Tatort direkt nach der Ausstrahlung rezensieren, aber wir wollten sehen, wie der Pflegenotstand filmisch behandelt wird und ob Lannert und Bootz wieder mal einen raushauen bzw. mit ihnen wieder ein super Film inszeniert wird. Ja, doch, kann man sagen. Muss man sagen. Von den beiden Darstellern Richy Müller und Felix Klare und von Katharina Maria Schubert, die Anne spielt. Staatsanwältin Alvarez bekommt einige Szenen, die alten Herren, die Chefin des Pflegedienstes, Angehörige – aber im Wesentlichen ist „Anne und der Tod“ ein Kammerspiel mit drei herausragenden Akteuren. Man sieht unter anderem, dass es Fälle gibt, in denen jede DNA-Analyse sich offenbar erübrigt und Zwischenmenschliches, das unmenschlich ist, selbst wenn alle nur das Beste wollen. So wäre es aber nicht denkbar, wenn die Pflegeberufe ordentlich bezahlt würden. Wenn Pflege endlich als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge erobert oder zurückerobert würde und nicht selbst aus der Versorgung alter und kranker Menschen eine Teil der Profitmaschine würde. Wer es  nicht aushält, hat Pech gehabt: Wir wollen keine Politik, die das alles nicht nur zulässt, sondern fördert oder gar verlangt. Es ist billig, sowas zu schreiben, aber schwer für viele, daraus abzuleiten, was nächste Woche an der Wahlurne daraus zu folgen hat. Niemand hat in Deutschland ernsthaft vor, diese Ökonomisierung von wirklich allem abzuschaffen. Oder? Es liegt eben doch an uns. Auch an denen, die es betrifft, denn auch sie sind Wähler_innen. Wir steuern auf den Zwiespalt zu.

Darf man Pflegerinnen unterstellen, dass sie sich prostituieren oder, sagen wir, nackt zeigen – und damit etwas, woran vielleicht noch kaum jemand gedacht hat? Und wie ist es mit den alten Männern? Vielleicht sind einige noch so drauf wie der Hotelier, der immer alles bekam oder wollen nochmal Abschied nehmen vom Weiblichen durch Anschauen, wie der andere Patient – im Film werden die Patienten Kunden genannt. Nennen Pflegekräfte die zu pflegenden Menschen so? Gab es wirklich schon Fälle wie diese? Darf man sie herbeischreiben, um darauf hinzuweisen, dass Pflege unterbezahlt ist – und manch anderer Job weit überbezahlt, fügen wir hinzu, aber diese Art von Gegenüberstellung gibt es eher nicht, die großbürgerliche Welt und ihre Doppelmoral wird lediglich anhand der Hoteliersfamilie Fuchs kommentiert.

Und was halten wir eigentlich von Lannert und Bootz, die teilweise mit Tricks und Erpressung eine Frau unter Druck setzen, um – einen dritten Todesfall zu verhindern, wie sie sagen. Mal will der eine Schluss mit dem Fall machen, mal der andere, mal die Staatsanwältin, aber Anne bleibt in den Fängen der Polizei, bis sie letztlich etwas gesteht, was so gar nicht stattgefunden hat – von den Motiven her betrachtet. In einem Fall war es unterlassene Hilfeleistung, ja, mit Todesfolge. Im anderen ein aktives Handeln, um einer Erpressung ein Ende zu setzen – der Alte macht Handyfotos von Anne, die sie in Unterwäsche zeigen, schickt sie ihr sofort, damit klar ist, dass er sie in der Hand  hat – es gibt eben doch Stellen, an denen die Glaubwürdigkeit auf dünnem Eis geht. Im möglichen dritten Fall hingegen passiert – nichts.

Ob Annes Schamhaftigkeit und ihr Bemühen, immer die Fassade zu wahren, glaubwürdig sind, ist die nächste Frage, die wir uns gestellt haben. Vielleicht muss man  den Berliner Blickwinkel für ein paar Minuten aufgeben, um die Antwort zu finden. Wir haben hier innerhalb kurzer Zeit gelernt, dass es hier kaum etwas gibt, was in irgendeinem Zusammenhang zu peinlich sein könnte, um es auszusprechen und nicht nur dies, sondern auch möglichst viel Krawall damit zu machen.

Aber wir haben ja auch mal woanders gelebt, vor langer Zeit, und wir erinnern uns an Menschen, die dezent waren und ein Schamgefühl hatten. Einfach so, aus traditionellen Gründen, aus Bescheidenheit oder eben aus Angst, das Gesicht zu verlieren. Wir glauben, dass diese größere und eine pietistische Haltung sehr wohl dazu führen können, dass man so handelt und sich auch in einer so extremen Situaiton wie diesem Dauerverhör mit Lannert und Bootz so verhält, wie Anne es getan hat. Es ist für uns zutiefst menschlich, ist eine Grundeigenschaft, die in unserer marktschreierischen Welt leider immer mehr verloren geht – und hat uns während des Films immer wieder berührt. Es ist eben old School, schon klar.

Wer andere pflegt, wer sich diese psychisch und physisch so anspruchsvolle Leistung zum Lebensinhalt macht, der ist aber auch in der Regel keine politische Person, die den lieben langen Tag darüber redet, was man tun müsste, um alles zu verbessern, sondern tut, was sie zu tun  hat, Tag für Tag ,ohne Aufhebens und unter großem Zeitdruck. So jemand kann vielleicht Scham empfinden, wenn seine Situation unzulänglich ist und er eine schlechte Gelegenheit geradezu aufgedrängt bekommt, um sie ein wenig zu verbessern. Den Sohn von Anne fanden wir schrecklich, obwohl wir verstehen, was er symbolisiert. Gut, er hat Chefarzt-Gene und die Ärzt_innen sind die Lieblingsgegner_innen von Tatort-Autor_innen, dicht gefolgt von den Jurist_innen.

Eine deutlich wahrnehmbare Panne ist dem Film allerdings unterlaufen, gerade wegen des Zeitdrucks, der so in den Vordergrund gestellt wird: Wo soll Anne denn die zusätzlichen Minuten für ihre Körperdarbietung herausgeholt und wie dokumentiert haben, bei dem engen Plan und der minutiösen, wenn nicht sekundengenauen Erfassung? Und wo doch die Pflegekräfte sogar per GPS geortet werden? Gemeint sind wohl eher deren Autos, aber ob die Firmeninhaber_innen darauf Zugriff haben und tatsächlich immer genau wissen, wo ihre Mitarbeitenden gerade sind, ist uns nicht bekannt. Bei Paketdiensten und je größer ein Frachttransport ist, desto genauer, gibt es die Erfassung aber – aus logistischen ebenso wie aus Überwachungsgründen, sonst könnten Kunden nicht verfolgen, wo ihre Sendung gerade ist.

Neben der unfassbar  niedrigen Wertschätzung für eine der wichtigsten Aufgaben in dieser Gesellschaft gibt es ein Thema, das vielleicht damit zusammenhängt – und damit, wie andererseits mit alten Menschen umgegangen wird. Wir glauben der Hausärztin jedes Wort. Wir sind ganz sicher, dass viele unnatürliche Todesfälle unentdeckt bleiben, weil bei der Ausstellung von Totenscheinen geschlampt oder sogar manipuliert wird. Das würde der Geringschätzung älterer Menschen in diesem Land entsprechen, die ähnlich entlarvend ist wie die Geringschätzung derer, die sie pflegen – und selbstverständlich hängt beides miteinander zusammen, denn im Medizinbereich Tätige sind ja nicht generell unterbezahlt. Vielmehr fällt auf: Je karitativer ausgerichtet, desto schlechter der Lohn der Arbeit.

Finale

Ja, da kann man sich auch als Polizist Gedanken machen, wenn man in die Jahre kommt. Dass Richy Müller nächstes Jahr aufhören müsste, wenn das reale Pensions-Eintrittsalter der Maßstab wäre, hat uns allerdings überrascht, wir hatten ihn einige Jahre jünger geschätzt. Die Sache mit der Prostata ist also kein Gag, sowas kommt mit über 60 schon mal vor. Obwohl die beiden hier einige Grenzen überschritten haben, die Verhörmethoden betreffend, plädieren wir aber dafür, Fiktion Fiktion sein zu lassen, denn sie sind vielleicht das einzige Duo, das im Moment in der Lage ist, Tatorte wie diesen zu stemmen und bei denen das ewige Befragen nicht lähmend oder peinlich wirkt oder zu viele falsche Töne reinkommen. Und das ist ja gerade das Realistische an den  heutigen Filmen der Reihe, dass so viel geredet wird.

Allerdings hat man das durch den Kunstgriff aufgelockert, sehr viele Zeitebenen mit immer genau passenden Dialoganschlüssen zu zeigen. Das wirkt vielleicht stellenweise etwas künstlich, aber es ist auch eine Kunst, sowas hinzukriegen. Unsere Leser_innen wissen, wie kritisch wir besonders den Drehbüchern gegenüberstehen, deshalb mit besonderer Betonung: Hier ist wieder was gelungen. Es ist provokant, es ist nicht einfach, man kann manches, was man sieht, aus ethischen Gründen bemängeln und ein paar Fragwürdigkeiten oder Fehler gibt es auch, aber die Stuttgarter halten das hohe Niveau, schauspielerisch und technisch passt fast alles. Wir freuen uns wirklich, sowas auch mal wieder schreiben zu dürfen. Es ist wichtig für die Reihe Tatort, dass es Teams gibt, denen man schwierige Themen noch anvertrauen kann, ohne dass sie ins Lächerliche gezogen oder exploitiert werden.

8,5/10

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Vorschau

Morgen Abend steigen die Champions in den Ring, um uns für den Pflegenotstand in Deutschland zu sensibilisieren oder uns über ihn zum Nachdenken oder zum Nicken oder zum Kopfschütteln zu bringen.

Ja, Thorsten Lannert und Sebastian Bootz sind laut Rangliste des Tatort-Fundus derzeit die Nummer eins – mit einigem Abstand zu Klaus Borowski aus Kiel, der seine frühere Spitzenstellung durch eine Reihe mittelmäßiger Fälle verloren hat.*

Die hohe Reputation haben sich Lannert und Bootz sich über 12 Jahre und 22 Fälle hinweg mit einem für heutige Verhältnisse außergewöhnlichen Maß an Seriosität und Zurückhaltung erarbeitet Auch der letzte Fall der beiden, „Der Mann, der lügt“ hat zum Auftrieb beigetragen, erstmal haben Lannert und Bootz jetzt das, was wir jahrelang vermisst haben, einen Fall in den Top 20 von fast 1100 Tatorten, ihnen wird woh lder Vorzug zuteil, vom SWR die besten Drehbücher zu bekommen, die beim Sender eingereicht werden. 

Diese Ausrichtung geht insbesondere zulasten der Ludwigshafen-Schiene, aber die beiden in Stuttgart – Schwaben sind sie ja nicht – können eben jedes Thema. Sozialtatorte, wie „Anne und der Tod“ einer sein dürfte, kann man ihnen und den übrigen Teammitgliedern ebenso anvertrauen wie sie in Thrillern oder ungewöhnlich aufgebauten Filmen wie zuletzt „Der Mann, der lügt“ einsetzen. Sie können dezidiertm, vage und zweifelnd, sind geduldig und verlieren beim Ermitteln nie die Spur, auch wenn’s unübersichtlich oder frustrierend wird. Es ist das große Spektrum, das die beiden abdecken, welches ihnen einen Vorsprung vor jenen Kolleg_innen gibt, die auf bestimmte Schemata und Muster festgelegt sind und aus diesen nicht so leicht ausbrechen können.

Anscheinend gibt es, im Trend der Zeit, viel adaptierte Musik zu hören, jedenfalls schaut die Playlist recht interessant aus. Ob der 23. Lannert-Bootz-Tatort auch interessant ist, darüber werden wir nach dem Anschauen unsere Meinung kundtun.

TH

Musik im Tatort

Titel Komponist Interpret
White Wedding Billy Idol
Tausend und eine Nacht Walger Göran Klaus Lage
Ohne Dich Zauner, Stefan / Strobel , Aron Münchner Freiheit
Dein ist ein ganzes Herz Lürig, Heider Heinz Rudolf Kunze
Westerland Urlaub, Farin Die Ärzte
Bye Bye Bye Lundin, Kristian / Schulze, Jake / Carlsson, Andreas N-Sync
Partyopfer Krouzilek, Jan / Wessendorf, Judith usw SXTN
Von Party zu Party Krouzilek, Jan / Wessendorf, Judith usw SXTN
Dancing on my own Ahlund, Klas Robyn
Everybody Pop, Denniz Backstreat Boys
Forever Young Gold, Marian / Mertens Frank / Lloyd, Bernhard Alphaville
I wish I knew how it would feel to be free Taylor, Billy / Lamb Richard Nina Simone
Hawaiian Wedding Song King, Charles E. Elvis
One Tangerine GÜnther Illi, Markus Brandall THE BRANDALLS
In The Line Of Fashion Günther Illi, Markus Brandall THE BRANDALLS
MCY Günther Illi, Markus Brandall THE BRANDALLS
Jesus Took A Rain Check Günther Illi, Markus Brandall THE BRANDALLS
My Reality Günther Illi, Markus Brandall THE BRANDALLS
Human Time Günther Illi, Markus Brandall THE BRANDALLS
Solid Rain Günther Illi, Markus Brandall THE BRANDALLS

Besetzung und Stab

Sebastian Bootz Felix Klare
Anne Werner Katharina Marie Schubert
Emilia Alvarez Carolina Vera
Daniel Voigt Jürgen Hartmann
Svenja Fuchs Julischka Eichel
Joachim Fuchs Felix Eitner
Musik: Peter Thomas Gromer
Kamera: Stefan Sommer
Buch: Wolfgang Stauch
Regie: Jens Wischnewski

*Anders als früher geben wir die Liste hier wieder, da sie sich stets verändert und auf diese Weise auch etwas wie ein „Einfrieren“, eine Dokumentation zu einem bestimmten Zeitpunkt, entsteht. Wir vermissen auf der Liste übrigens Karin Gorniak aus Dresden, die auf Rang 9 oder 10 liegen müsste – möglicherweise ist sie nicht gelistet, weil die aktuellen Dresden-Tatorte früher als „Sieland“ gelabelt waren – bis Henni Sieland (Alwara Höfels) aufhörte und die Kollegin mit einer neuen Partnerin weitermachen ließ.

Nr Ermittler Bewertung
1 Lannert (mit Bootz) 7.10052
2 Borowski 6.91137
3 Batic 6.82686
4 Ballauf 6.79555
5 Murot 6.76163
6 Faber 6.73731
7 Thiel 6.69626
8 Eisner 6.65285
9 Voss 6.57169
10 Lindholm 6.44385
11 Lürsen 6.35853
12 Karow 6.28351
13 Falke 6.18119
14 Odenthal 6.12689
15 Berg 6.09150
16 Flückiger 6.02235
17 Brix 5.83447
18 Lessing 5.72949
19 Stellbrink 5.65855
20 Berlinger 5.08259
21 Tschiller 4.91004

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