Titelfoto © NDR, Christine Schroeder
Kiel goes West
Im Grunde ist es ungerecht, auf eine andere Tatort-Schiene Bezug zu nehmen, nur, weil dort die Sozialdrama-Krimis zuhause sind, während Kiel in der Regel andere Akzente setzt. Es wirkt aber tatsächlich so, als habe der WDR dem NDR Amtshilfe geleistet, damit Klaus Borowski mal einen klassischen Whodunit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen bekommt, einfach so, als Abwechslung zu den herrlichen Psychopathen-Howcatchems und den Wölfen im Nebel und anderen Sujets, die in einer geradezu mystischen Atmosphäre umgesetzt werden.
Auch an einige Frankfurt-Tatorte mit Sänger/Dellwo denken wir bei Nr. 941. Es gab schon gute Kieler Sozialkrimis wie „Borowski und das Mädchen im Moor“, die lebten von der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die zu Morden führen kann. In Gaarden ist die Wirklichkeit fern von Aufstiegs-Ansprüchen, das Überleben als solches steht im Mittelpunkt.
Alles weitere zum Film steht in der -> Rezension.
Handlung
In dem Kieler Brennpunktbezirk Gaarden wird der 60-jährige Onno Steinhaus erschlagen aufgefunden. Außer einer Gruppe Kinder scheint niemand Kontakt zu dem verwahrlosten Mann gehabt zu haben. Klaus Borowski und Sarah Brandt schauen bei ihren Ermittlungen im Umfeld des Toten in einen Abgrund aus Armut und Gleichgültigkeit.
Steinhaus war vorbestraft wegen Pädophilie. Von den Nachbarn will niemand gemerkt haben, dass bei ihm ständig Kinder ein und aus gingen und wilde Partys feierten.
Der für den Bezirk zuständige Polizeibeamte Torsten Rausch hat angesichts der sozialen Verwahrlosung des Viertels längst kapituliert. Brandts Ermittlungen fördern ein Video zu Tage, das den Jungen Timo Scholz in einer verfänglichen Situation mit Onno Steinhaus zeigt und außerdem eine Szene, in der Steinhaus von den Kindern getreten und verlacht wird. Wurde Steinhaus Opfer gewalttätiger Jugendlicher? Der 15-jährige Timo bestreitet vehement, missbraucht worden zu sein.
Noch jemand hat ein Geheimnis: Sarah Brandt sucht auffällig häufig die Nähe zu ihrem Kollegen Torsten Rausch.
Rezension
„In Gaarden-Ost leben viele verschiedene Nationalitäten nebeneinander. Dies bringt neben einem vielfältigen Kulturmix mit kleinen Geschäften und Restaurants auch Konflikte mit sich. Deshalb gilt Gaarden-Ost nach wie vor als ein sozialer Brennpunkt. Die Mieten sind trotz der Nähe zum Zentrum sehr gering. Der Anteil an Arbeitslosen und Menschen mit niedrigem Einkommen ist im 16. Ortsteil von Kiel sehr hoch. Die Arbeitslosenquote lag im ersten Quartal 2011 bei 15,2 %; rund 42 % der Gaardener erhalten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II und SGB III) [10]. Ferner ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund mit 44,4 % in Gaarden überdurchschnittlich hoch[11]; dies spiegelt sich insbesondere in den dortigen Schulen am sehr hohen Anteil der Kinder ausländischer Herkunft wider.[12]
Im Jahre 2006 wurde bekannt, dass der in Hamburg festgenommene Al-Qaida-Terrorismusverdächtige Redouane El-H. in Gaarden ein Internetcafé betrieb. Die Moschee der Kieler Islamischen Gemeinde in Gaarden wurde auch von dem in Projensdorf wohnhaften Kofferbomben-Attentäter regelmäßig besucht.[13] Bei der Oberbürgermeisterwahl am 15. März 2009 lag die Wahlbeteiligung in Gaarden unter 20 %.[14]“
(Information zu Gaarden: Wikipedia)
Rezension
Es ist ungewöhnlich, dass ein realer Stadtteil als sozialer Brennpunkt in einem Tatort auftritt, allerdings zielt eine neuere Tendenz in genau diese Richtung. Wir halten das nicht für unproblematisch, weil das Stigma eines solchen Viertels dadurch einen Bekanntheitsgrad weit über die betreffende Stadt hinaus erhält und damit auch die Menschen, die von dort stammen. Eine gezielte Stadtteilarbeit, die auch auf Ent-Gettoisierung hinauslaufen würde, wird durch Filme wie „Borowski und die Kinder von Gaarden“ erschwert. Und ob man heute noch tatsächlich darauf aufmerksam machen muss, dass es soziale Verwahrlosung gibt und dafür ein reales Viertel zwecks Steigerung der Authentizität benennen muss, wagen wir zu bezweifeln.
Gerade die Ansiedlung in einem echten Kieler Stadtteil verstärkt die Klischeebildung, weil auch dort wohl nicht ein Sozial-Häuserblock neben dem anderen steht und nicht alle Kids so drauf sind wie die im Film gezeigten. Würden wir in einem solchen Viertel wohnen, so, wie wir sind, und warum auch immer, würden wir uns vermutlich über diese einseitige Darstellung ärgern. Im Film-Gaarden allerdings sind die Leute so abgestumpft, dass es ihnen wurscht sein dürfte, ob sie genau so dargestellt werden. Nur der Kiez-Cop ist eine Ausnahme und will deshalb ebenso weg, wie am Ende der misshandelte Hund des Mordopfers vor einem miesen Hier und Jetzt ins Irgendwo davonläuft. Wer noch kann, flieht diese Gegend. Oder etwa nicht?
Wir sind also ein wenig kritisch hinsichtlich der Gaarden-Inszenierung und insgesamt zwiespältig. Es mag daran liegen, dass wir diese Art von Tatort gut kennen und es Schienen gibt, die in der Tat hervorragend darauf spezialisiert sind und viel dafür getan haben, dass in Deutschland das Bewusstsein für soziale Probleme gestärkt wurde, weil sie sich an ein Massenpublikum wenden, das durch sozialkritische Fernsehspiele nicht erreicht würde. Die erwähnten Kölner Sympathie-Cops Ballauf und Schenk mit ihrer Art, alles zu diskutieren und von allen Seiten darzustellen, sind die Idealbesetzung für Betroffenheit und Relativierung gleichermaßen, für Einfühlung und robusten Umgang mit der Welt. Einige solche Typen mehr als Sozialarbeiter in Berlin, und wir wären schon ein Stück weiter mit den eigenen Problemen, die etwas andere Dimensionen aufweisen als die in Kiel-Gaarden.
Borowski ist bisher nicht als Gettokids-Versteher hervorgetreten, macht seinen Job aber recht gut. Dass er ein traditioneller Typ ist, der eben nicht soziale Arbeit quasi nebenbei studiert oder das Verständnis für dies und jenes und alles mit der Muttermilch aufgesogen hat, macht der Film deutlich, und das finden wir gut. Dass er Kinder nicht anfassen mag, sei es aus natürlicher Zurückhaltung oder weil er keinesfalls pädophile Neigungen unterstellt bekommen möchte, ist ebenso realistisch wie seine manchmal kernige Ansprache an die Kinder aus Hilflosigkeit. Dem Ironiker und feinen Humoristen fehlen bei den Kindern erst einmal die richtigen Worte, weil sein Stil nicht ins Getto passt, er sich aber auch nicht anbiedern will, weil er weiß, es würde falsch klingen. Und für falsche Töne haben Kinder aller sozialen Schichten ein gutes Ohr.
Wenn wir als Erwachsene versuchen, genau hinzuhören, ist es nicht so leicht, einen Tenor des Films zu ermitteln. Es gibt eine Meinung, aber keine Botschaft. Es gibt Verständnis, aber keine wohlfeilen Entschuldigungen. So in etwa kann man die Linie vage beschreiben. Eine Anklage, wie sie in Köln oder Frankfurt zu Dellwo- / Sänger-Zeiten gerne mehr oder weniger offen formuliert wurde, sehen wir nicht. Wo es nur Opfer gibt, versagen die klassischen Muster, und dies wiederum ist in Tatorten schon länger zu beobachten: Dass im Zweifel entweder alle, also wir alle, mitschuldig sind an den Verhältnissen, oder dass man niemandem eine spezifische Form von Schuld zuweisen kann, wo Menschen nicht in der Lage sind, Verantwortung für ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder zu übernehmen.
Fazit
Wenn man so will, beschreibt „Borowski und die Kinder von Gaarden“ einen Status Quo ohne erkennbaren Ausweg, der über ein trotz Unglück geglücktes Einzelschicksal hinausgehen könnte. Die düstere Postmoderne schleicht sich nun also auch in den Kiel-Tatort ein, der uns lange Zeit mit feinem Humor, exzentrischen Figuren und manchmal auch mit einem Herzschlag-Finale verwöhnt hat. Die Handlung des 941. Tatorts hingegen ist konventionell und ähnelt der aller anderen Tatorte, die in benachteiligten Milieus spielen – es bewahrheitet sich etwas, das für Filme allgemein gilt: Je weniger Menschen zeigen können, je weniger interessant ihre Welt und ihre Jobs nach außen erscheinen, desto schwieriger ist es, eindrucksvolle Filme über sie zu machen.
Die Heile-Welt-Filme spielen sowieso seit Generationen in den immer gleichen, hoch angesiedelten Milieus. Und wenn dort einmal die Welt aus den Fugen gerät, dann kommt garantiert ein patentes Wesen daher und renkt alles wieder ein. Dass die Zuschauer diesen Quatsch nie satt haben und die ARD ihre Tatorte trotz der Versuchung, Quote mit exorbitanten Lebensentwürfen und etwas Crime zu machen, genau so eben nicht oder nicht immer aufstellt, ist ihr zugute zu halten. Das gilt auch für Kiel, obwohl wir nicht glauben, dass der Ostsee-Tatort sich zu einem Zentrum für Sozialforschung entwickeln wird. Vielleicht wollte man komplett sein und zeigen, dass man auch diese Variante kann.
Auf Figurenebene merken wir an: Borowski spielt dezent und mit einer Mischung aus Desillusioniertheit und sanftem Humor, die ihn nach wie vor einzig unter den Tatortkommissaren macht. Die Kinder von Gaarden machen ihre Sache alle sehr ordentlich und es gab ein, zwei Situationen, die haben uns getriggert, weil die Jugendlichen, die hier gezeigt werden, ganz so sind, wie wir sie in Berlin manchmal sehen. Abzüglich der Tatsache, dass wir noch keinen konkreten Streit mit solchen Jungs hatten. Aber die Art passt recht gut, und die Interaktion in der Gruppe ist lebensecht. Weniger trifft das auf die Aktion Fußball zu, die mit Borowski inzseniert wird und natürlich auch nicht auf die Art, wie Sarah Brandt ihre Ermittlungen per Kartenspiel vorantreibt und ihr Gegenüber, der Revierpolizist, ihr zwar nicht den Gefallen tut, alles preiszugeben, aber das fürs Drehbuch wichtige natürlich doch. Die Dienstvorschriften sollten aber dahingehend geändert werden, dass Keksdosen, wenn schon illegal, dringend mit dem Blick zur Tür zu durchsuchen sind. Dadurch wäre die schnellere Erfassung einer sich ändernden Situation möglich. Ebenso sollte das Ausforschen von persönlichen Daten per Passwörter knacken endlich freigegeben werden, das ist ja eh so einfach, wenn man Sarah Brandt heißt.
Ansonsten hat Brandt erkennbar einen Sprung nach vorne verordnet bekommen. Sie hat ihre eigene Handlungslinie, sie darf ein wenig frivol und sexy sein und nicht Borowski, der Meister, sondern sie hat bei uns für den emotionalsten Moment des Films gesorgt, als Polizist Rausch in Schwierigkeiten kommt und sie so traurig darauf reagiert. Insgesamt hat es lange gedauert, bis wir in „Borowski und die Kinder von Gaarden“ hineingefunden haben, aber das Team richtet es bei uns immer irgendwie und die Nebendarsteller riefen keine Irritationen hervor. Außerdem weiß seit diesem Fall der Borowski, dass er ein Arschloch ist. Sehr kokett.
7/10
© 2019, 2015 Der Wahberliner, Thomas Hocke
| Klaus Borowski | Axel Milberg |
| Sarah Brandt | Sibel Kekilli |
| Thorsten Rausch | Tom Wlaschiha |
| Timo Scholz | Bruno Alexander |
| Leon Scholz | Amar Saaifan |
| Inga Scholz | Julia Brendler |
| Yilmaz Sahin | Samy Abdel Fattah |
| Bojan | Mert Dincer |
| Roland Schladitz | Thomas Kügel |
| Rechtsmedizinerin | Anja Antonowicz |
| Musik: | Birger Clausen |
| Kamera: | Gunnar Fuß |
| Buch: | Eva und Volker A. Zahn |
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