Crimetime 333 - Titelfoto © Fernsehen der DDR / ARD
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Der 21. Film der Reihe Polizeiruf 110 ist erkennbar ein ambitioniertes Projekt. Nie zuvor und nie danach waren alle vier hauptamtlichen Ermittler_innen gemeinsam im Einsatz, es wurde schon in Farbe gedreht und „Per Anhalter“ kommt auf eine tatortgemäße Länge von 87 Minuten. Die Zahl der Mitwirkenden und Schauplätze ist ungewöhnlich hoch und die Szenen sind für die damaligen Verhältnisse der Reihe gut geschnitten und getimt. Was hat diesen sichtlich großen Aufwand ausgelöst? Es steht in der -> Rezension.
Handlung (Wikipedia)
Oberleutnant Peter Fuchs ist einer Gruppe von Halbstarken auf der Spur. Sie zerstörten zunächst Straßenschilder, später Telefonzellen und nun innerhalb von zwei Wochen zwei Straßenbahnwaggons. Vera Arndt wiederum geht der Anzeige eines Försters nach. Er traf in einer Schonung auf eine junge Frau, einen älteren Herrn und ein Auto. Der Mann wird vernommen und berichtet schließlich die ihm peinliche Angelegenheit: Er hat eine angebliche Studentin mit dem Auto mitgenommen, sie habe ihm Avancen gemacht, und so sei er schließlich mit ihr in den Wald gefahren. Dort habe sie sich geziert und sei davongelaufen. Als er zum Wagen zurückkam, fehlte seine Jacke, doch habe er seine Brieftasche immer im Auto versteckt.
Die Jugendbande wird von Rolf Schmitter, genannt „Rolle“, angeführt. Zu ihr gehören auch Puster, Spatz, Kralle, die alleinerziehende Mutter Emma sowie Henne, der neu zur Gruppe hinzugestoßen ist. Er konnte wegen schlechter Noten nicht den Berufsweg einschlagen, den er wollte. Nun sucht er die Schuldigen in der Gesellschaft. Er muss sich in der Gruppe zunächst beweisen und zerstört auf Anweisung von Rolle eine Telefonzelle. Anschließend gilt er als aufgenommen. Später zerstörte die Gruppe dann die Waggons, nachdem sie in einer Disko als bekannte Randalierer abgewiesen wurden. Rolle ist der Polizei bereits bekannt, da er einmal wegen Ruhestörung angezeigt wurde. Seine Mutter, die ihn nach zu spätem Heimkommen angeschrien hatte, deckte ihn jedoch in der Vernehmung und verschaffte ihm ein Alibi.
Rolle lernt während seiner Arbeit als Fensterputzer in einer Villa die 16-jährige, frühreife Susanne kennen. Sie flirtet mit ihm und lädt ihn schließlich ein, mit ihr den Urlaub auf der Datsche ihrer Eltern zu verbringen. Emma wird als Aufpasser mitgenommen. Susannes Eltern wiederum sind in Warna im Urlaub und auch sonst oft auf Reisen, sodass die pubertierende Susanne weitgehend sich selbst überlassen ist. Auf sie passt tagsüber eine schon ältere Tante auf.
Im Urlaub besorgen sich Susanne und Rolle mit einem Trick Geld. Susanne fährt bei älteren Herren per Anhalter mit, flirtet mit ihnen und lässt sie im Wald parken. Sie ziert sich anschließend und lässt am Ende Rolle als Beschützer erscheinen. Der wiederum macht den Männern klar, dass Susanne noch minderjährig ist. Die so erpressten Männer bezahlen ein Schweigegeld und verzichten auf eine Anzeige. Bei Walter Kraus jedoch eskaliert die Situation und Rolle schlägt ihn brutal zusammen. Walter Kraus erleidet eine Nierenkolik, doch Rolle lässt ihn im Straßengraben liegen. Erst über lange Befragungen kann Vera Arndt Walter Kraus den Tathergang entlocken. Die Beschreibung des Mannes erinnert Peter Fuchs an Rolle, der jedoch verschwunden ist und auch nicht mehr bei der Arbeit erscheint. Auch die Jugendbande ist bereits 14 Tage ohne ihren Anführer, als Puster den Überfall auf die an dem Tag geschlossene Diskothek vorschlägt, bei der sämtliche Bandenmitglieder Zutrittsverbot haben. Sie wollen die Kasse stehlen. Henne wird vorgeschickt. Es finden an dem Tag jedoch Proben in der Disko statt und Henne wird gestellt. Sein Bruder arbeitet gerade vor Ort und erkennt ihn, doch Henne gelingt die Flucht.
Die Polizei fahndet nun nach ihm, der zu Rolle, Susanne und Emma flieht. Rolle plant nun, mit Henne über Berlin in den Westen zu fliehen und überzeugt ihn mit der dortigen Freiheit selbst entscheiden zu können, ob er arbeiten oder rumgammeln will. Susanne hat von der Gruppe genug und lässt Henne den Wagen ihrer Eltern zurück zur Villa fahren. Rolle nutzt die Gelegenheit und stiehlt Wertsachen aus den Schränken der Familie. Als er sich mit Henne trifft, will der nicht mehr an ungesetzlichen Aktionen beteiligt sein und aussteigen. Rolle schlägt Henne zusammen. Puster, Spatz und Kralle werden unterdessen verhaftet, als sie aus Langeweile ein älteres Ehepaar zusammenschlagen und ausrauben.
Die Polizei hat sich von den Disko-Betreibern die Namen der Personen geben lassen, die Hausverbot in der Disko haben. So kommen sie Emma auf die Spur, die schließlich den Treffpunkt von Rolle und Henne nennt. Dort wird der verletzte Henne gefunden. Rolle wiederum wird gestellt, als seine Mutter aus seiner Wohnung Geld für ihn holen will. Susanne wird verhaftet, als sie zu ihren Eltern zurückkehrt. Alle Bandenmitglieder werden zu Haftstrafen bis zu acht Jahren verurteilt; Susanne muss die Schule kurz vor dem Abitur verlassen und eine Ausbildung beginnen. Das Kind der alleinerziehenden Emma wächst fortan im Heim auf.
Rezension
„Im Film sind verschiedene Lieder zu hören. Während des Urlaubs in der Datsche hören Rolle, Susanne und Emma Geh zu ihr von den Puhdys. In der Disko Sputnik laufen die Lieder Blues von Veronika Fischer und Panta Rhei, Der Witz von der Klaus Renft Combo und Mama Loo in einer Coverversion des Horst-Krüger-Septetts.
Jugendkriminalität war in der Filmreihe bisher eher am Rand behandelt worden. Per Anhalter sucht dem nun „durch eine Konzentration aller nur denkbaren Untaten jugendlicher Straftäter entgegenzuwirken.“[2] Gute Jugendliche werden dabei plakativ den schlechten gegenübergestellt, die Verantwortung für die Entwicklung der Kinder wird im Film ausschließlich den Eltern gegeben. Während die Kritik „die Milieuzeichnung der Jugendszene um die Mitte der siebziger Jahre [als] durchaus stimmig“ bezeichnete, wird Regisseur Hildebrandt als Vertreter der älteren Generation angesehen, der „nicht ideal für die Realisierung eines solchen Stoffes“ war.[3]“
Ohne Frage war „Mamma Loo“ damals ein Ohrwurm und die hier gespielte Version kommt dem Original zumindest so nah, dass wir dachten, es sei das Original – das wir aber schon viele Jahre nicht mehr gehört haben. Hingegen finden wir nicht, dass Hans-Joachim Hildebrandt den Film schlecht inszeniert hat. Seine Arbeiten sind sehr unterschiedlich, das wissen wir mittlerweile, einen Stil, der sie klammert, können wir bisher nicht herauslesen, aber er beherrschte ein breites Spektrum innerhalb des Genres und der Reihe, etwa den Klau in gehobenen Kreisen und Dimensionen in „Heiße Münzen“ zwei Jahre nach „Per Anhalter“ gut umgesetzt und er war, als er den Film mit den vielen Jungs und drei Mädels schuf, 44 Jahre alt. Ist das die ältere Generation? Oder war der Kritiker sauer wegen der Tendenz des Films? Letzteres könnten wir durchaus verstehen.
Unzweifelhaft stellt der Film hohe Anforderungen. Der Plot ist komplex, die Fallteile müssen gut zusammengefügt werden, sodass wirklich aus zwei Schienen eine wird, ohne dass es holpert, die jungen Darsteller_innen müssen gut geführt werden – und es darf an ideologischer Klarheit nicht mangeln. Denn dies ist der Hintergrund für diese Beinahe-Großproduktion im Polizeiruf-Format: Mit einem einzigen Film einen intensiven Blick auf die Jugendkultur und deren Fehlentwicklungen zu werfen. Zuletzt hatten wir in einem Film, in dem ein Heimkind die Hauptrolle spielt („Lass mich nicht im Stich“) das Gefühl, der Film muss bei seinem Erscheinen schon etwas veraltet gewirkt haben, ganz das Gegenteil kann man von „Per Anhalter“ sagen, den wir auf Entstehungsjahr 1975 oder 1976 geschätzt hätten, nicht 1973. Man kann es ja leider bei DDR-Produkten nicht so schön an neuen Automodellen oder bestimmten Mode-Entwicklungen festmachen. Ersteres gab es dort nicht jedes Jahr, Letzteres ist eher ein Verdacht, nämlich der, dass alles immer ein bisschen hinter dem letzten Schrei im Westen zurück ist. Man hat hier sowas von darauf geachtet, dass genau dies zumindest bei den Klamotten nicht der Fall ist und bei den Frisuren auch nicht, zumindest die Haarlängen betreffend. 1973 war auch das Jahr, in dem längeres Haupthaar bei Jungen offiziell nicht mehr als subversiv angesehen wurde, sodass auch die Guten ein bisschen mehr Wolle aufm Kopf haben durften.
Hingegen verliert Leutnant Vera Arndt ihren künstlichen Wuschelkopf der ganz frühen Filme und kommt wesentlich schlichter mit Dutt daher. Sie ist zu dem Zeitpunkt Rekordhalterin in Tatort und Polizeiruf zusammengenommen, denn der 21. Film der Reihe ist auch ihr 18. Fall. Damit liegt sie noch vor ihrem Stammpartner Fuchs, der auf 15 Polizeirufe kommt. Hier sehen wir auch wieder das, was uns an der Darstellerin fasziniert: Je nachdem, aus welcher Perspektive sie gefilmt wird, hat sie etwas leicht Dämonisches, was besonders gut kommt, wenn sie sehr streng agiert und bei den Befragungen, die hier, wie in allen bisher gesehenen Polizeirufen, eine wichtige Rolle spielen, mehr Druck entwickelt als der eher joviale Fuchs. Hübner spielt dieses Mal in etwa das, was in den frühen Tatorten der Anruf in einer andere Stadt war: Alle sollen mit ein paar Extra-Spielminuten ein wenig in Erinnerung gehalten werden (BRD) bzw. ein paar Mark zusätzlich verdienen können (DDR), schließlich gab es in beiden deutschen Staaten damals nur einen neuen Polizeiruf oder Tatort pro Monat. Trotzdem war es den wenigen, überregional einsetzbaren Ermittler_innen des Polizeiruf-Teams möglich, sehr viel schneller auf hohe Fallzahlen zu kommen als den zahlreicheren, in der Regel nur in einer Stadt oder Region operierenden Westkolleg_innen. Der Fuchs-Rekord von 84 Filmen der Reihe von 1971 bis 1991 steht immer noch, die Parallelreihe Tatort eingerechnet. Hübner war sogar 23 Jahre lang im Einsatz, das ist nach Odenthal und Batic / Leitmayr die drittlängste Dienstzeit bis heute.
Am Ende des Films wird die Botschaft sehr deutlich: Alles ist zu tun, um mit Härte gegen die kriminellen Tendenzen in der Jugend vorzugehen. Das klingt nun nicht sensationell, aber ein pädagogischer Ansatz ist nicht sichtbar, weil das Pädagogische in der Tat Sache der Eltern ist. Wenn diese versagen, kann ihnen ein Kind vergleichsweise schnell entzogen werden. Zu dieser Haltung haben wir uns kürzlich in der Rezension von „Lass mich nicht im Stich“ geäußert. Eine Nachbetrachtung gibt es in Krimis regelmäßig nicht, es sei denn, sie sind so aufgebaut, dass sie sich mit Strafgefangenen befassen, die entlassen werden oder entweichen. Vor allem regulär aus der Haft Entlassene sind sehr spannend und davon handeln auch Polizeirufe der ersten Jahre wie „Der Mann“ oder „Freunde“, ähnlich bei Heimkindern. Wie ist es da draußen jetzt? Werden sie sich bewähren?
Oder werden sie randalieren, klauen, Vandalismus ausüben, was man als jugendliches Gangmitglied eben so tut, in einem Staat, in dem es offenbar kein florierendes Drogenbusiness gibt. Dass es damals im Osten zu Zerstörungen von Straßenbahnwagen gekommen ist, hat uns eben doch überrascht, aber so ein Typ wie Rolle, der bringt das und stiftet andere an. Die Jugendlichen sind laut, faul, berlinern wie die Weltmeister, „Puster“, der mit Oberlippenbart und dem unfassbaren blauen Netz-T-Shirt, dargestellt vom heute noch viel eingesetzten Hansjürgen Hürrig, so stark, dass wir trotz zwölf Jahren in Berlin nicht alles einwandfrei verstanden haben. Das Milieu weist eine beeindruckende Schnodderigkeit auf, die uns recht authentisch erscheint, jedenfalls waren wir in den ersten Jahren verblüfft, um wieviel schneller man hier mit dem Reden gegenüber dem Denken ist. Rolle, der Anführer des Ganzen, ist ein schmallippiger, finsterer Typ, der Mädchen mit finsteren Gedanken anzieht und, besonders finster, versucht, einen noch formbaren Banden-Eleben zum Abhauen in den finsteren Westen zu überreden, nachdem man sich in der Situation heillos verfangen hat. Er bekommt das höchste Strafmaß von acht Jahren, alle anderen fahren ebenfalls ein, nur die kleine Schlange Susi kommt glimpflich davon, sie muss nicht mehr fürs Abi büffeln, sondern darf etwas Anständiges lernen.
Finale
Ideologisch einer der strammsten Polizeirufe aus der DDR-Ära, die wir bisher gesehen haben, er lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig und sieht es nicht als seine Aufgabe an, Hintergründe, die zum Fehlverhalten Jugendlicher führen, näher zu beleuchten. Es ist ein bisschen umgekehrt wie heute, wo Gewinne privatisiert und die Kosten des Raubtierkapitalismus sozialisiert werden. Damals wurden die Ursachen aller Probleme, die Jugendliche hatten oder verursachen konnten, privatisiert, die Folgen aber waren heftig und es gab sogar Delikte wie Arbeitsbummelei, heute Hartz IV genannt. Spaß, muss auch mal sein, aber selbstverständlich stellt dieses Regime eine Art von Kriminalisierung dar. Dass es in der DDR tatsächlich Jugendbanden gab, ist erwiesen und daher belegt ja gerade deren im Film gezeigte Existenz, dass sehr kleine Freiräume nicht besser sein müssen als (zu) große. Es ist schon entlarvend, dass in fast allen Polizeirufen dieser Ära, die wir bisher gesehen haben, die Sehnsucht nach mehr so wichtig ist. Um kapitalistische, große Gier geht es dabei nie, sondern bloß darum, sich ein wenig von der Masse abheben oder Schulden bezahlen zu können. Letztere gibt es dieses Mal nicht, nach bisherigen Sichtungen geradezu eine Ausnahme.
„Per Anhalter“ ist ein ganz wichtiger, gut gemachter Polizeiruf, technisch vermutlich der beste bis dahin, die Farben sind auch heute noch okay und es flimmert nirgends, die lange Spielzeit mit vielen Akteuren und Handlungselementen lässt das Gefühl aufkommen, ein fülliges, an Details reiches Werk angeschaut zu haben, das sich deutlich von anderen, eher sparsam wirkenden Polizeiruf-Produktionen jener Jahre abhebt. Nur, wie werten wir, angesichts dieser ideologischen Enge und überbordenden Volkserziehungsabsicht, die der Film ausstrahlt? Wir mögen dieses ständige Erheben des Zeigefingers ja auch in Tatorten nicht besonders. Abzug muss es geben, aber wir sind nicht bei den Vorbehaltsfilmen aus der NS-Zeit und „Per Anhalter“ ist trotz allem eine interessante Produktion. Der Titel und die ersten Szenen lassen Roadmovie-Feeling aufkommen, aber die Sequenz mit dem Auflieger ist nur der Aufhänger.
7/10
© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
| Regie | Hans Joachim Hildebrandt |
| Drehbuch | Hans Joachim Hildebrandt |
| Produktion | Hans Reichel |
| Musik | Peter Gotthardt |
| Kamera | Walter Laaß |
| Schnitt | Brigitte Bergmann |
| Besetzung | |
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