Crimetime 342 - Titelfoto © WDR, Michael Böhme
Mit dem Lasso gefangen
Wir haben wieder einen Thiel / Boerne eingefangen, es geht zügig voran mit den beiden. Damit ist auch ein Missing Link gefunden und wir müssten eigentlich mehrere vorherige Rezensionen ändern – nämlich bezüglich Thiels Führerschein, den er irgendwann plötzlich wieder hatte. Jetzt wissen wir, wie’s kam. Thiel hat den Idiotentest und die Nachprüfung erfolgreich bestanden. Es ist alles logisch. Sorry, nichts für ungut! Bemerkung für die Wiederveröffentlichung 2019: Die vorherige Anmerkung bezieht sich auf die Rezensionsabfolge im „alten“ Wahlberliner und später hatte Thiel ja dann den Führerschein unbegründet – wieder nicht.
Wir hatten im Folgenden angemerkt, dass die Münster-Schiene ansonsten in der „permanenten Gegenwart“ spielt, also sich nichts Wesentliches ändert und es an dem Beispiel festgemacht, dass Nadeshda Krustenstern ewig Polizeianwärterin bleibt – inzwischen hat man sie aber zur Kommissarin befördert. Seitdem steht wieder alles still, es gibt keine Figuren-Weiterentwicklung. Ob das logisch ist? Zum Fall steht mehr in der -> Rezension.
Handlung
War es tatsächlich Selbstmord? Doris Röttger ist überzeugt, dass der Reitlehrer Markus Hoffschulte ihren Mann auf dem Gewissen hat. Tatsächlich bestreitet der Frauenschwarm Hoffschulte bei seiner Vernehmung durch Kommissar Frank Thiel nicht, sich mit dem Restaurantbesitzer Röttger kurz vor dessen Tod heftig gestritten zu haben. Angeblich ging es um Geld. Tatsächlich hat der Reitlehrer den Ehemann seiner ehemaligen Geliebten bei dieser Gelegenheit wohl mit Wahrheiten konfrontiert, die dieser besser nicht hätte wissen sollen.
Ganz andere Probleme beschäftigen Rechtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boerne. Seine knapp 18-jährige Nichte Betty tanzt ihm auf der Nase herum. Entsprechend positiv überrascht ist er, als sie auf dem angesehenen Reiterhof von Hoffschulte und seiner Frau Miriam einen Ferienjob annimmt. Sie soll sich unter anderem um das wertvolle schwarze Zuchtpferd Rasputin kümmern.
Doch ausgerechnet Rasputin wird kurz darauf entführt. Als er wieder auftaucht, ist er als Deckhengst nicht mehr zu gebrauchen – er wurde kastriert, und Hoffschulte ist finanziell ruiniert. Doch außer Betty scheint niemand wirklich Mitleid mit dem Reitlehrer zu haben. Im Gegenteil: Überall, wo Boerne und Thiel sich umhören, stoßen sie auf Schadenfreude. Anscheinend war Doris Röttger nicht die Einzige, die mit dem Herzensbrecher noch eine Rechnung offen hat. Ein Drohbrief an der Stalltür spricht eine deutliche Sprache: „Das war nur der Anfang. Du bist ein toter Mann.“ Wenig später gibt es auf dem Reiterhof eine Explosion.
Rezension
Logisch ist wiederum der Fall konstruiert. Wir sahen ihn jetzt zum zweiten Mal und können den Eindruck von vor zwei oder drei Jahren bestätigen. Wir lassen aber nicht unerwähnt, dass die Ermittlungsarbeit zu wünschen übrig lässt. Der möglichen Selbstmord, der eingang so effektvoll qua Fall aus dem 2. OG auf ein Autodach gezeigt wird, den legen Thiel und Boerne als solchen ad acta, ohne dass die KTU alle Register zieht, um zu überprüfen, ob das auch stimmt.
Ein weiterer Eindruck hat sich verfestigt: Es gibt witzigere und originellere Folgen mit den beiden Münster-Stars. Ein drittes Mal werden wir uns die Nr. 594 sicher nicht reinziehen. „Der Frauenflüsterer“ ist zwar erst sechs Jahre alt, aber er wirkt ein wenig angestaubt.
Im Grunde kann man die Thiel-Boerne-Tatorte in zwei Epochen unterteilen. Diejenigen, in denen Vattern noch das W 123-Taxi fuhr und die, in denen er zum Nachfolger, der E-Klasse W 124, gewechselt ist. Jeder weiß, der W 123 war der letzte echte Mercedes – aus dem Vollen geschnitzt und qualitativ unantastbar. Ein wenig spiegelt sich das in den Münster-Tatorten – und doch: Man ahnt hier schon, dass es zu Verschleißerscheinungen kommen wird, obwohl der W 123 in „Der Frauenflüsterer“ noch im Einsatz ist.
Der Grund liegt vor allem darin, dass viele der hochkarätigen Schauspieler hier unter Wert agiert haben. Jan Josef Liefers Frau im realen Leben, Anna Loos, hat eine wichtige Rolle, bleibt jedoch ein wenig statisch, Nora von Waldstätten hat mehr drauf als eine Göre zu spielen, die zehn Jahre jünger ist als sie selbst zu dem Zeitpunkt des Drehs war (bewiesen hat sie das u. a. in dem von uns bereits rezensierten „Herz aus Eis“, in dem sie, ausgestattet mit ihrer echten Haarfarbe, eine hervorragende Leistung zeigte).
Die Welt der blonden Mähnen – von Frauen und Pferden und Typen, die mit Pferden arbeiten. Als „Der Frauenflüsterer“ gedreht wurde, war 9/11 schon geschehen, aber es gab noch keine Bankenkrise und nicht die sich immer mehr abzeichnende Systemkrise. Die Welt war in gewisser Weise blond, und (in einem Fall echt, im anderen nicht) blond sind auch die beiden wichtigen Frauenfiguren in diesem Krimi – wichtig ist natürlich auch Thiels Assistentin Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter), die ist ebenfalls blond, steht aber nicht fürs namensgleiche Prinzip.
Die Frage stellt sich: Wie blond muss man sein, um auf einen Typ reinzufallen, nur, weil er Pferden was flüstert? Wenn man so will, ist „Der Frauenflüsterer“ subtil frauenfeindlich und nimmt das Filmvorbild „Der Pferdeflüsterer“ aufs Korn und die Liebe vieler Frauen zu allem, was diesen Paarhufern zu tun hat, auf die Schippe. Ein Pferd, ein Deckhengst, verliert seine Hoden. Eine Katastrophe. Ein Symbol. Der Pferdeflüsterer wird dadurch finanziell stark geschädigt. Es ist beinahe, als ob man ihm den eigenen Sack abgeschnitten hätte.
Alle Frauen in diesem Film – bis auf Boernes unschuldige Nichte Betty (Nora von Waldstätten) – können sich gehörnt fühlen, aber alle fielen irgendwann im Verlauf ihres Dorflebens auf diesen Typ herein. Dabei geht ihm der Charme, der Robert Redford im persiflierten Kinovorbild und auch allgemein auszeichnet, völlig ab. Okay, er ist groß und sieht auch ganz gut aus. Mehr aber nicht. Die Crux ist, dass er mit Pferden arbeitet. Und da kommt die Verkehrung der Hodensymbolik ins Spiel: Viele Frauen legen in Pferde Phantasien hinein und haben eine Art erotisches Verhältnis zu ihnen, ohne dass dabei der Frust entstehen kann, den Männer neben dem Spaß allemal zu bereiten in der Lage sind. Es ist sexuell-platonisch und daher weniger gefährlich, mit den Pferden.
Pferde sind stark, aber treu und man kann ihnen unendlich viel Aufmerksamkeit widmen, sie zicken wohl auch mal, aber sie sind hervorragende Substitute für alle möglichen emotionalen Defizite. Für Hunde und Katzen gilt im Grunde nichts anderes, aber sie haben eben nicht diese Stärke, man kann sich an sie nicht anlehnen. Man kann sich nicht von ihnen tragen lassen – es kann ja auch erregend sein, sich von einem Wesen durchs Leben tragen zu lassen, das stärker ist als man selbst. Für diesen heiklen Aspekt des Verhältnisses von Menschen zu Pferden zeigt „Der Frauenflüsterer“ ein gutes Gespür – aber er ist auch makaber und stellenweise einfach geschmacklos, durch die Art, wie dies alles ausgespielt wird. Der „Club der Teufelinnen“, der ein Tier, das nichts für seinen Besitzer kann, dermaßen ruiniert, ist nicht witzig, nicht mal in einem Münster-Tatort.
Tiere sind, in Gegensatz zu einer Bemerkung im Film, schon lange keine Sachen mehr. §90a BGB stellt dies klar. Tiere werden lediglich besitz- und eigentumsrechtlich aus praktischen Gründen wie Sachen behandelt und daher diesbezüglich weiter im Bürgerlichen Gesetzbuch verortet.
Auch sonst hat sich einiges verändert. Diese unbekümmerte Reiterhofparodie wirkt heute schon wie aus einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit zwar höher war als gerade im Moment, aber die Naivität war’s wohl auch. Zumindest in Münster. Dass reihenweise Frauen einem Typ wie Markus Hoffschulte (Kai Wiesinger) zum Opfer fallen bzw. sich ihm hingeben, wirkt auch als Parodie irgendwie sinnleer. Es geschieht einfach, wird auch damit zu tun haben, dass die übrigen Männer im Dorf nicht gerade die hellsten Exemplare sind – wie im Grunde auch der Frauenflüsterer. Ob er als Täter besonders vorhersehbar ist? Da wir den Film schon einmal gesehen haben, sind wir etwas vorsichtig: Kann schon sein.
Es ist ein wenig schade, dass die Figuren in „Der Frauenflüsterer“ so flach geraten sind. Niemand reicht über eine Dimension wesentlich hinaus, außer natürlich das dauerhaft agierende, gut eingespielte Team Thiel, Boerne, Krusenstern, Klemm, Vaddern – das sich seine Vielschichtigkeit, gleichermaßen seine eindeuige Positionierung durch viele Tatorte hindurch erarbeiten konnte. Der verflixte siebente Tatort hat aber auch diesen Figuren nichts Neues beigegeben, außer, dass Boerne schon wieder ein anderes Auto fährt und Thiel den Lappen zurückgewinnt. Immerhin, das ist beinahe die größte Entwicklung, die er durch alle bisherigen Folgen hindurch nimmt, weil – siehe oben.
Manches in dem Film wie das Wortspiel „bodenlos / hodenlos“ wirkt echt albern, ein Vorbote einiger etwas niveauarmer Thiel /Boerne-Taorte.In „Der“Frauenflüsterer“ ist einiges an Wortgefechten ziemlich platt geraten. Dagegen ist die gezeigte Kneipenschlägerei geradezu ein Highlight.
Vielleicht Spannung? Wenn aber ein Thiel / Boerne keine sehr gute Komödie ist – dann müsste er durch Spannung glänzen, das wäre tatortgerecht. Normalerweise legt man bei den Folgen dieses Duos gar nicht so viel Wert auf die Spannung, die würde nur beim Schenkelklopfen über die genialen Pointen stören. Hier sind die Pointen nicht so gut, am besten fanden wir noch, dass Thiel, noch ohne Führerschein, am Steuer von Vadderns Taxi vor der Polizei in den Wald flüchtet. Die sucht aber den entführten Hengst und hat gar keine Augen für Verkehrsdelikte. Der Hengst, jetzt Wallach, wird aber ausgerechnet von Hauptkommissar Thiel entdeckt, weil er sich mitsamt W 123 buchstäblich dort in jenen Busch schlägt, in dem das verstümmelte Pferd versteckt ist.
Das ist aber nicht spannend, sondern einer von den Zufällen, die man mit Augenzwinkern genießen kann. Man muss es also für den ganzen Tatort feststellen: Spannend ist er auch nicht. Er wird tatsächlich ganz und gar von seinen beiden Hauptdarstellern Frank Thiel und Karl-Friedrich Boerne beherrscht. Dass die beiden das schaffen, obwohl man ihnen schon bessere Dialoge geschrieben hat, spricht für sie und für sich – besonders für Jan Josef Liefers, ohne den „Der Frauenflüsterer“ nicht funktionieren würde, obwohl er nach wie vor Gerichtsmediziner ist, nicht Frauen- oder Pferdeflüsterer. Kaum ein Tatort ist so sehr davon abhängig, ob ein einziger Schauspieler gut in Form ist oder gut eingesetzt wird, wie der aus Münster. Glücklicherweise ist Jan Losef Liefers selbst dann gut in Form, wenn man ihn Sätze sagen lässt, die dem Schauspieler hinter der Figur bestimmt nicht immer leicht über die Lippen kommen. Hut ab vor dem Profi!
Fazit
Da wir an vielen Tatorten Logikfehler und Drehbuchschwächen zu bemängeln hatten, können wir nicht übergehen, dass „Der Frauenflüsterer“ weitgehend fehlerfrei konstruiert ist, abzüglich etwas lascher Ermittlungsarbeit.
Dass sein Thema ganz deutlich auf Kosten von Tieren und Frauen ausgearbeitet wird, dass es keine Spannung und dieeseits und jenseits des Themenbezugs nicht immer den wirklich guten Humor gibt, stellen wir dagegen, ebenso die Tatsache, dass die meisten Schauspieler unter ihren Möglichkeiten agieren.
Man ahnt es, dabei kommt eine knapp durchschnittliche Wertung heraus. Es ist aber etwas Seltsames mit diesem magischen Zwiegespann Thiel & Boerne: Es rutscht bis jetzt nie ganz runter. Dennoch sind 6,5/10 die bisher schwächste Wertung für einen Film der beiden Komödianten unter den Tatort-Ermittlern (bezogen wiederum auf die ursprüngliche Reihenfolge der Rezensionen Ende mit Stand Ende 2011).
Dabei ist aber mindestens ein halber Punkt dafür inkludiert, dass dieser Tausendsassa namens Boerne seine Versiertheit in allen gesellschaftlich wichtigen Dingen aufs Neue beweisen konnte: Reiten geht auch.
© 2019, 2014, 2012, 2011 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Frank Thiel – Axel Prahl
Prof. Karl Friedrich Boerne – Jan Josef Liefers
Nadeshda Krusenstern – Friederike Kempter
Silke Haller (alias „Alberich„) – ChrisTine Urspruch
Wilhelmine Klemm – Mechthild Großmann
Herbert Thiel – Claus D. Clausnitzer
Markus Hoffschulte – Kai Wiesinger
Miriam Hoffschulte – Alexandra von Schwerin
Doris Röttger – Anna Loos
Betty – Nora von Waldstätten
Ewald Ottensen – Christian Kahrmann
Dr. Birte Peters – Tersa Harder
Heike Lutter – Sabine Orléons
Christiane Stagge – Jana Thies
Franjo – Rade Radovic
u. a.
Musik – Arno Steffen
Kamera – Clemens Messow
Buch – Jan Hinter
Buch – Stefan Cantz
Regie – Kaspar Heidelbach
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