Umfrage & Ergebnis 65
Am 15.12.2018 schrieben wir: „Dieses Mal haben wir eine recht lange Zeit verstreichen lassen, bis wir uns wieder mit der Frage befasst haben, wie beliebt die Parteien in Berlin sind.“
Der vorausgehende Beitrag dieser Rubrik stammte vom 7. November. Nun aber sind mehr als sechs Monate vergangen, seit wir zuletzt einen Blick auf die politische Stimmung in Berlin geworfen haben – anhand von Umfragewerten. Damals war der Landesparteitag von DIE LINKE der Anlass, auf die Sitmmung in der Stadt zu schauen. Wir erinnern uns: Dort wurde beschlossen, „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ zu unterstützen. Der heutige Anlass, uns mit den aktuellen Werten zu befassen, ist der gestern beschlossene Mietendeckel, über den landauf, landab heiß diskutiert wird. Derweil wurde in der vergangenen Woche das Volksbegehren „Deutsche Wohnen enteignen“ auf die zweite Stufe gehoben – am Ende der ersten Runde wurden über 70.000 gültige Unterschriften dafür abgegeben, 20.000 wären notwendig gewesen.
Wir haben also vorhin den Civey-Check gemacht:

Entfernt haben wir ein Ergebnis vom 7.11.2018, dafür ist versehentlich der 15.12. zweimal abgebildet, das müssen wir jetzt aus Zeitgründen aber so stehen lassen und bitten dafür um Entschuldigung, ebenso wie für die falsche Jahreszahl bei der heutigen Erhebung, die wir bei der 2. Revision gerade entdeckt haben.
Was wir sehen, ist durchaus dramatisch. Die CDU kommt zu Recht nur noch auf 14 Prozent, sackt also auf immer neue historische Tiefststände. Warum zu Recht? Weil sie gegen die weit überwiegender Mehrheit der Menschen in der Stadt agitiert, als sei sie das Sprachrohr der Immobilienlobby. Eine solche Partei hat bei den nächsten Wahlen in Berlin kein einziges Mandat mehr verdient. Wer jetzt glaubt, wir hätten bei diesem Satz konkrete Personen im Kopf gehabt, der liegt richtig, wir können die Kapsel aber auch öffnen: In unserem Bezirk hat bei der Bundestagswahl 2017 der Wirtschaftsanwalt und Immobilienspezialist Dr. Jan-Marco Luczak das Direktmandat für die CDU geholt, dank des erzkonservativen Südens (Lichtenrade etc., auch der AfD-Anteil war dort zweistellig), sodass wir im Bezirksteil Schöneberg leider majorisiert wurden.
Wir halten ohnehin die Zusammenlegung von gewachsenen Quartieren, die voneinander sehr verschieden sind, zu zwölf Großbezirken für problematisch. Beleg ist uns dafür u. a. der höchst dissonante Bezirk Mitte, in dem die riesigen sozialen Unterschiede zwischen einzelnen Stadtteilen für die Politik kaum zu bewältigen sind und zudem statistisch eingeebnet werden, wenn man soziografische Daten auf dieser Gliederungsebene betrachtet.
Wir schreiben heute über die Wahlen zum Abgeordnetenhaus. In Berlin wird dabei jedoch nicht exakt votiert wie bei Bundestagswahlen, aber wir sind uns sicher, dass sich dieser Schlag ins Gesicht aller Mieter_innen im Bezirk nicht wiederholen würde, der uns eine Repräsentanz verschafft hat, die uns nicht repräsentiert.
Obwohl wir seit dem letzten Civey-Check ein halbes Jahr verstreichen ließen, ist gerade in den letzten Tagen mehr in Bewegung als über Monate hinweg zuvor. Allein im Verlauf des heutigen Morgens haben sich einige Zehntelwerte verändert – und zwar zulasten der CDU und der FDP. Hingegen erzielt 2RG das beste Ergebnis seit dem Beginn unserer Erhebungen, gewinnt gegenüber der AGH-Wahl 2016 sechs Prozent hinzu und strebt die 60-Prozent-Marke an. Leider wird die Stadtregierung unpräzise gerne R2G genannt; wären jetzt Wahlen, würde daraus mit ziemlicher Sicherheit G2R werden. Die Grünen ziehen auch in Berlin den anderen Parteien langsam und unwiderstehlich davon.
DIE LINKE kann sich immerhin halten, die SPD hingegen folgt in der Hauptstadt ihrem Bundestrend, nämlich abwärts. Auch dies weist darauf hin, dass AGH-Wahlen durchaus nicht als etwas ganz anderes gesehen werden – zumal der gestern beschlossene Mietendeckel eine SPD-Idee ist und unter der Federführung des links geführten Stadtbausenats entwickelt wurde. Die Grünen haben mit diesem Instrument von allen drei Regierungsparteien am wenigsten zu tun. Aber es ist ein Metatrend, der hier wirkt und der dazu geführt hat, dass in unserem Wahlkiez und den umgebenden Wahlkreisen die Grünen bei der Europawahl zwischen 45 und 50 Prozent erzielten. Das dürfte bei einer AGH-Wahl, fände sie jetzt statt, nicht wesentlich anders sein.
Warum kommt der Mietendeckel aber der SPD nicht wenigstens ein bisschen zugute? Vielleicht, weil die Mensche spüren, dass mit dieser Partei etwas nicht stimmt. Auf unseren Kenntnisstand übertragen: Sie gestaltet im Bund eine Politik mit, die für immer weitere Verwerfungen auf den Kapitalmärkten sorgt, mithin dafür, dass alles in die Immobilien strömt und macht dann in Berlin Notstandspolitik, indem nach jahrelanger Untätigkeit die schlimmsten Folgen ihres eigenen Handelns auf höherer Ebene zu mildern versucht.
Nicht nur Konservative, sondern auch systemkritisch eingestellte Menschen können argumentieren, dass dieser Regulierungsdeckel nicht so recht auf den neoliberalen Wirtschaftstopf passt, den die Partei in Deutschland und in der EU unterstützt. Die Liberalkonservativen fürchten, dass es zu Störungen der Kapitalströme kommen könnte, vor allem, wenn dieses Instrument weiter um sich greift. Wir fürchten das nicht, sondern sehen es als Beschleunigung des notwendigen Wandels, aber wir wissen, dass auch die Berliner Regierungsparteien nicht wirklich progressive Antworten auf die Frage der wirtschaftlichen Transformation haben.
Zu dieser Transformation zählt unausweichlich das Ende der nun seit zehn Jahren andauernden Krisenwirtschaft auf EU-Ebene, die überkommene, intern und in den Beziehungen zu weiteren Ländern asymmetrische Strukturen aufgebaut oder verstärkt hat und immer mehr ein fantasieloses Beharren zementiert, anstatt Kräfte für den beherzten Umbau der Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit freizusetzen. Man hat den Kapitalismus-Fail von 2008 nicht als Chance begriffen. Alle deutschen „Systemparteien“ haben daran ihre Anteile, auch diejenigen, die nicht an der Bundesregierung beteiligt sind – diese freilich die größten. Und die Grünen müssen auf dieser Ebene im Moment nicht zeigen, was sie wirklich drauf haben, das ist angesichts der wachsenden Ungeduld vieler mit den Regierenden ein großer Vorteil.
In Berlin kommt den Grünen außerdem zugute, dass sie auf lokaler Ebene von allen Parteien den besten Zugriff auf die Zivilgesellschaft haben und deren Themen – auf teilweise eine sehr findige Weise den Mietenwahnsinn – bespielen. Zumindest entsteht durch den Hotspot Kreuzberg dieser Eindruck.
Dass in vielen anderen Bezirken grüne Kommunalpolitiker_innen genauso einfallslos wirken wie die der anderen Parteien, wird dadurch überstrahlt – zumindest, wenn man die Perspektive der „Szene“ einnimmt.
Selbstverständlich gibt es weiterhin andere Themen in der Stadt, zum Beispiel die Verkehrspolitik, bei der die Grünen auf Senatsebene jedoch alles andere als trittsicher wirken. Gesellschaftspolitisch und bezüglich der Umwelt- und Klimapolitik sieht es besser aus, aber auch da könnte man berlinweit mehr Zeichen setzen, als dies gegenwärtig geschieht – Stichwort Emissionsreduzierung.
Bei einer Podiumsdiskussion vor der Bundestagswahl 2017, bei welcher der erwähnte Dr. Luczak von der CDU zugange war, aber auch Renate Künast von den Grünen, deren Direktkandidatin in unserem Bezirk, wirkte Künast angesichts des gewünschten Vorrangs von Bezirksthemen zu allgemein, als sie vor allem über Klimaschutz sprach und wir erinnern uns, dass die Grünen mit 8,9 Prozent bei der BTW 17 ein eher moderates Ergebnis einfuhren. Heute und auf jedwede Art von Wahl bezogen, wäre ihre den Bezirk nachrangig behandelnde Ansprache genau richtig, denn über allem steht dieses Thema und beeinflusst auch die Stimmung bezüglich der AGH-Wahlen.
Nach unserer Ansicht hat der gegenwärtige Trend gute Chancen, sich zu verfestigen und tatsächlich eine tektonische Verschiebung im Parteiengefüge auszulösen, die bisher trotz schrumpfender SPD und CDU ausblieb. Die Grünen müssen einfach weiter das tun, was sie seit der Wahl von Baerbock und Habeck tun. Keine größeren Fehler machen. Und nicht auf Bundesebene der sinkenden CDU durch Jamaika ein Weiter so ermöglichen – derzeit wäre nach den meisten Umfragen „Sonntagsfrage Bund“ sogar eine Zweierkoalition schwarz-grün machbar. Die CDU aber wird nicht durch Rezo-Videos zerstört, er hat ja nur aufgegriffen, was ohnehin jeder politische denkende Mensch sehen kann – ihre für Zeiten des Wandels zu beharrende Realpolitik und ihre Entfernung vom Sound der Zeit im Raketentempo.
Auch die strukturkonservativen Wähler_innern jedweder Couleur, die vor allem in der Generation Ü 60 angesiedelt sind, können diesen Verfall nicht aufhalten, der von wechselbereiten, experimentierfreudigen jüngeren Menschen vorangetrieben wird.
Einen Sonderfall stellt in diesem Panel DIE LINKE dar. Im Grunde müsste vieles auf sie zulaufen. Sie hat zwar keine Führungsrolle in Bezug aufs Ökologische gewinnen können, jedoch vor allem deswegen nicht, weil sie es nicht schafft, Ökologie und Soziales als die Einheit zu präsentieren, die es wirklich darstellt – auf dem Gebiet lassen die Grünen mit ihrem auf Bundesebene teilliberalen Anstrich nämlich eine recht große Lücke. Bezogen auf die letzte Europawahl: Es fällt schon auf, dass auch Teile von Zehlendorf immer grüner werden und eines können wir aus eigener Anschauung mit großer Sicherheit sagen: Deren dortiges neues Klientel ist nicht mit einem sehr maßvollem ökologischem Fußabdruck unterwegs.
Da DIE LINKE aber den Systemveränderungsanspruch und damit die Fähigkeit, Widersprüche im jetzigen System inklusive grünem Deckmäntelchen aufzuzeigen – ebenfalls im Eiltempo – aufgibt und außerdem in Personalfragen und mancher Sachfrage nicht weniger dissonant rüberkommt als die CDU oder die SPD, kann sie nicht von der für sie eigentlich wie gemachten Lage profitieren, sondern stagniert in Berlin und ist im Bund umfrageseitig auf dem Rückzug, ebenso wie zuletzt bei den Europawahlen.
Die Lage jedoch ist durch die Tatsache gekennzeichnet, dass immer deutlicher wird: Wir brauchen eine Vision für das Wirtschaften nach dem Finanzkapitalismus, der die Erde – ebenfalls im Rekordtempo – zerstört. Hoffentlich nicht so schnell, wie sich einige deutsche Parteien derzeit selbst zerstören.
Kommentar © Der Wahlberliner, Thomas Hocke
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