Wunschdenken – Tatort 806 / Crimetime 355 // #Tatort #Schweiz #SRF #Flückiger #Lanning #Milos #Wunschdenken

Crimetime 355 - Titelfoto © SRF, Toni Studhalter

Ein Zyklus endet – Vorwort 2019

Die Wiederveröffentlichung der Rezension, die wir infolge der Premiere des ersten Schweiz-Tatorts nach zehn Jahren geschrieben hatten findet anlässlich der Erstausstrahlung von „Ausgezählt“ bzw. der von uns dazu verfassten Kritik statt.

Wieder ein Einwort-Titel und wieder ein Film, der eher kritisch diskutiert wird, als von den Tatort-Fans geliebt. Für Schweizer Verhältnisse hat Reto Flückiger, dargestellt von Stefan Gubser, eine Ära geprägt, mit am Ende 18 Fällen – einer ist offen und wird wohl noch 2019 erstmals ausgestrahlt werden. Schade, dass viele Zuschauer mit dem Team nie warm wurden. Im ersten Fall spielt noch Sofia Milos als Partnerin von Flückiger mit, das änderte sich bereits ab Nr. 2, als Delia Mayer übernahm. Zum ersten Flückiger-Tatort mehr in der -> Rezension.

Handlung

Reto Flückiger ist gerade dabei, sein Segelboot auf dem Vierwaldstättersee einzuwassern, als sein Chef Schmidinger von der Kripo Luzern anruft: Ein Politiker wurde entführt, und die Luzerner Polizei muss sich um eine Wasserleiche kümmern…

Flückiger muss seine geplanten Ferien sausen lassen. Die Ehefrau des Entführten, Natalie Kreuzer (Stephanie Japp), zeigt der Polizei das Erpresservideo. Das Lösegeld soll noch am gleichen Tag im Bahnhof übergeben werden. Flückiger nutzt die verbleibenden Stunden, um sich vor Ort umzusehen. Er setzt die amerikanische Austauschpolizistin Abby Lanning (Sofia Milos) als Beobachterin für Natalie Kreuzer ein und übernimmt die Leitung des Einsatzkommandos. Punkt 18 Uhr ist alles parat. Aber nichts geschieht. Nach eineinhalb Stunden bricht Flückiger die Aktion ab. Die Ermittler stehen vor dem Nichts.

Die nächsten Tage verstreichen ohne Fortschritte. Während Reto der Möglichkeit nachgeht, dass Kreuzer aus politischen Gründen entführt wurde, kümmert sich Abby wieder um die Wasserleiche. Anton Widmer (Andreas Matti), der Tote, der aus der Reuss geborgen worden ist, saß immer wieder im Gefängnis Wauwilermoos. Erst als Abby und Reto darauf stoßen, dass Kreuzer genau dieses Gefängnis über Jahre geleitet hat, wird klar: Die beiden Fälle hängen zusammen. Aber: Wenn Widmer Kreuzer entführt hat, dann wartet der Politiker jetzt vergeblich auf die Freilassung. Plötzlich zählt jede Minute. 

Rezension

Nachdem wir zuletzt mangels häufigerer Tatort-Ausstrahlungen den Akzent auf die Rezension von älteren Topfilmen gelegt haben, ist es gar nicht so leicht, ausgerechnet zur 75. Rezension in die TatortAnthologie zurückzufinden – ohne bei den Maßstäben durcheinander zu kommen.

Die Tendenz, wir haben schonmal bei den wertenden Fans reingeschaut, ist sehr schlecht. Wir mussten viel lachen und schmunzeln und die Frage ist im Moment, ob das von den Machern so beabsichtigt war.

Anfangs wirkte die Folge 806 vor allem hölzern. Offenbar wurde das echte Schweizerdeutsch in eine abgemilderte und damit auch für uns verständliche Form gewandelt – aber nicht bei allen Schauspielern. Und da, wo man das unterlassen hat, wirkt es zwar weniger verständlich, aber auch weniger statisch.

Es wäre auch interessant, und das trauen wir den Schweizern durchaus zu, in Erfahrung zu bringen, ob der Tatort chronologisch gedreht wurde – zum Ende hin agieren die Schauspieler nämlich deutlich flüssiger, unabhängig von der Sprache. Sie wirken einfach etwas sicherer und wäre der Dreh chronologisch gelaufen, dann würde sich dieser Effekt von selbst erschließen und wir hätten in Zukunft ein deutlich besseres, weil eingespieltes Team zu erwarten.

Ein Anfängerbonus ist immer drin und wir verzeihen die vielen Ecken und Kanten des Films und denken uns, Tauben, die unter die aufliegende Bettdecke scheißen, die wird’s in der Schweiz vielleicht wirklich geben. Das ist ein Land, in dem möglicherweise nicht nur die Banker, sondern auch die Tiere mehr drauf haben als bei uns. Die Annäherung zwischen Flückiger und seiner Abby ist eine einmalige Mischung aus originell eingeleitet und klischeehaft zu Ende gebracht.

Die Handlung selbst hinterlässst gleich ein gewaltige Fragezeichen. Wer war es nun, der die zwei Millionen Franken gefordert hat, wenn der eigentliche Entführer bzw. Helfer und auch der pro Forma Entführte zum Übergabezeitpunkt längst tot waren und der Detektiv, der die Situation ausnutzte, mit 200.000 Franken zufrieden war?

Ein ganz neues Tatort-Feeling. Es ist nicht schwierig zuzugeben, dass „Wunschdenken“ der erste Schweizer Tatort ist, den wir rezensieren – es wurden schon ewig keine mehr gezeigt.

Reto Flückiger alias Stefan Gubser kennen wir flüchtig aus Konstanz, wo er allerdings schauspielerisch und was seine Einbindung in den Plot angeht, im Schatten von Klara Blum (Eva Mattes) steht.

Gewöhnungsbedürftig war für uns das sehr statisch wirkende Schweizerdeutsch, auch die sehr realistische, penible Darstellung von Szenen, die ein Gefühl von Langsamkeit vermittelt, an das wir uns dann aber gewöhnt haben, weil es doch zur ländlichen Schweiz passt. Keine Hektik! Und die Landschaft ist schön, kann man sich immer wieder anschauen.

Selbst etwas angestaubte Seevillen wie die des rechten Politikers Josef Ebnöter (Peter Wyssbord) haben einen mondänen Charme, versetzt mit etwas Patina.  Von den neuen Häusern in ähnlicher Lage, wie dem der Kreuzers, nicht zu reden. Aber es ist auch eine überraschend kühle Atmosphäre, die sich da zeigt, das Hotel, in denen sich Flückiger und Abigail Lanning näherkommen dürfen, eingeschlossen. Doch ein schöner Kontrast.

In einem gehen die Schweizer weiter als die Deutschen: Sie lassen neue Tatort-Teams direkt miteinander ins Bett hüpfen. Soweit erinnerlich, gab es das in hier noch nicht und auch die Fortentwicklung in diese Richtung wird eher selten gezeigt. Allenfalls verlieben sich Kommissare in Tatverdächtige und das geh in der Regel böse aus und wenn es keine Verdächtigen sind, sterben sie meist.

A strange affair. Wir meinen, die deutsche Variante ist spannender. Man wird uns glauben, dass das Mehr an Zurückhaltung nicht daher kommt, dass wir verklemmter wären, vielmehr hat sie plottechnische Vorteile. Sie hält die Balance aufrecht, auch wenn das manchmal manieriert wirkt, sie ist weniger amerikanisch angehaucht und weniger explizit.

Aber dann ist die Art, wie die erste Nacht der beiden zustande gekommen ist, wirklich süß. Null Glaubwürdigkeit, auch was dieses Duo als Sexpartner angeht, aber wir fanden es reizend. Eine Zeitlang haben wir gerätselt, warum die beiden Tauben auf dem Balkon von Retos Hotel-Appartement eingespielt wurden, später wussten wir es dann. Als Hinweis  auf das, was kommt, sind die beiden gurrenden Tauben niedlich, freilich kann man die Idee erst nach der folgenden Szene verstehen.

Beim zweiten mal ist das alles dann gespielt, und wieder geht’s zur Sache. Ja, warum eigentlich nicht, in der Schweiz hat man sich entschieden, in diesen Sachen eindeutig zu sein. Hier setzen wir aber eine Anmerkung aus 2019 rein: Ob die Arbeitskollegin gewechselt wurde, weil man sich hier verfahren hat, ist eine interessante Interpretation, mit der etwas herberen und vermutlich bisexuellen Nachfolgerin Liz Ritschard kam es bis jetzt nicht zum Sex.

Schade, dass so Vieles, auch die love affair, zu aufgesetzt wirkt, man mag Spaß daran haben, aber wir konnten uns den etwas plan wirkenden Figuren nicht annähern. Obwohl sie nicht unsympathisch sind. Aus der Figur Flückiger muss man nun deutlich mehr herausholen, ihr mehr Kraft und Intensität geben und, so schrieben wir 2011, obwohl wir beim Verfassen der Kritik darüber informiert waren, dass es einen Wechsel in der Arbeitsbeziehung von Flückiger geben wird, die Abby weniger amerikanisch wirken lassen. Dann würden die beiden auch als Liebespaar harmonischer wirken. So wirkt das Geschehen  zwischen ihnen auf uns seltsam parodistisch, aber: Allerdings ist offensichtlich schon beschlossen, dass Sofia Milos beim nächten Schweizer Tatort nicht mehr mitmachen wird, daher wird die nächste Folge ohnehin schon wieder ein halber Neustart nach dem heutigen kompletten Neustart werden.

Der Plot hat deutliche Schwächen. Wie auch in vielen deutschen Tatorten, fragen wir uns nach dem Anschauen von „Wunschdenken“ wieder, wieso bei x-maliger Revision in verschiedenen Instanzen bestimmte Dinge einfach nicht gesehen werden. Vielleicht ist es auch gar nicht so und man lässt sie drin, sofern man sie nicht herausschneiden kann, ohne dass alles durcheinander und der Faden verloren geht. Man müsste dann nachdrehen, um zu korrigieren, und das geben die Budgets wohl nicht her.

Nicht nur die bereits angesprochene Taubenszene wirkt im Detail und im Ganzen unlogisch, schon ganz am Anfang hatten wir das Gefühl, hier wird nicht nachgedacht. Die Art, wie der Widmer im See versenkt wird, ist viel zu auffällig. Offenbar geht das Täterpärchen davon aus, dass in einer Stadt wie Luzern die Bürgersteige sehr früh hochgeklappt werden und niemand diese von den Laternen auf der Uferpromenade sehr schön illuminierte Szene mitbekommt. Den Widmer beiseite zu schaffen, das hätte man anders lösen können, zumal der Verdacht eh auf die Frau fallen musste, mit der er zuletzt unterwegs bzw. in einer Bar zugange war. Irgendwer sollte die beiden gesehen haben.

Die Treppenhauszene am Ende zeigt die Ermittler zu dilettantisch, dafür gibt’s aber keinen Abzug in der B-Note, weil sich auch deutsche Tatort- Ermittler immer wieder diese Alleingänge erlauben, durch welche sie sich unnötig in Gefahr bringen und dann auch noch wild umherschießen, anstatt sich mal ihrer Trainings zu erinnern und ein wenig sparsamer mit sich und ihren Patronen umzugehen. Würde man solche Szenen bei jedem Tatort noch ernsthaft kritisieren, käme man selten auf hohe Bewertungen, aber wie einige andere Sequenzen in Wunschdenken, wirkt auch diese auffällig unprofessionell auch im Vergleich zu anderen Anwendungen des beliebten Handlungselements „unnötige Selbstgefährdung von Ermittlungspersonen“.

Der größte Fail ist aber wohl die Lösegeldaktion – zum einen als solche, zum anderen im Zusammenhang mit der übrigen Handlung. Sofia Milos hat recht, Flückiger bricht zu früh ab. Aber er hätte auf diese Weise gar nicht erst beginnen dürfen. Sage und schreibe fünfzig Personen werden auf dem Luzerner Bahnhof verteilt – der übrigens für eine solche Stadt doch recht groß wirkt – und das soll einem Entführer nicht auffallen, der sich jede Polizei-Einmischung verbeten hat. Das kommt uns ein wenig wie eine Dagobertiade vor, außerdem geschieht ja nichts. Da wäre weniger mehr gewesen.

Da die Entführung eine Fiktion ist, der eigentliche Entführer bereits tot, wer ist derjenige, der das Lösegeld erpressen will? Das gewalttätige Pärchen? Der Detektiv? Letzterer sicher nicht, wie bereits erläutert. Und das Pärchen hat doch den Politiker nicht umgebracht, weil die Lösegeldübergabe gescheitert ist, sondern, weil der Detektiv der betrogenen Ehefrau Kreuzer den Wunsch nach dem Tod ihres Mannes von den Augen abgelesen und auch gleich gehandelt hat.

Was glaubwürdige Konstellationen und Plotabläufe angeht, sind im Schweizer Krimikäse noch ein paar Löcher zu schließen, eine etwas schärfere Gangart bei der Inszenierung wünschen wir uns trotz des eidgenössischen Langsamkeits-Flairs, das hier transportiert wird, ebenfalls. Und dass man sich erst einmal auf die heute üblichen Effekte einspielen muss, ohne dass sie zum einen nicht besonders stark und zum anderen nicht sehr zwingend daherkommmen, das Gefühl hat man an mehreren Stellen.

Finale

Da ist noch viel Luft nach oben, aber es gibt keinen Grund, nicht weiterzumachen. Neun Jahre sind eine lange Pause und  Übung bringt in der Regel das Niveau voran. Die Grundkonstellation ist okay, Reto Flückiger in Person von Stefan Gubser wirkt zwar ein wenig schüchtern, zurückgenommen, aber daran kann man noch etwas tun. Aus 2019 heraus betrachtet: Aufgrund der vielen Freaks, die mittlerweile in deutschen Tatorten ermitteln, haben wir Retos ruhige Art als eine wohltuende Abwechslung für uns entdeckt.

Vielleicht wird die Abwesenheit der optisch dominanten Sofia Milos für Gubser / Flückiger mehr Raum lassen, vielleicht wird man bei den Drehbüchern sorgfältiger operieren, etwas schwungvollere Dialoge hineinschreiben und sich bei der Regie mehr Tempo und auch mal den einen oder anderen Trick zutrauen. Die Münster-Tatorte können, was die Figuren angeht, kein Vorbild für die Schweiz sein, aber man kann auch den ländlichen Raum ebenso stilsicher wie flott in Szene setzen.

Wir werten den ersten Schweizer Tatort der neuen Generation freundlich-vorsichtig mit 6,5/10 und hoffen auf eine Aufwärtsentwicklung!

© 2019, 2011 Der Wahlberliner, Thomas Hocke 

Kommissar Reto Flückiger – Stefan Gubser
Abigail Lanning – Sofia Milos
Eugen Mattmann – Jean-Pierre Cornu
Ernst Schmidinger [Kripochef] – Andrea Zogg
Kriminaltechnikerin Yvonne Veitli – Sabina Schneebeli
Natalie Kreuzer – Stephanie Japp
Josef Ebnöter – Peter Wyssbrod
Elisabeth Widmer – Ursina Lardi
Beat Bernet – Martin Hug
Marcel Küng – Martin Klaus
Birgit Bürki – Anna Schinz
Mathias Wagner – Christof Gaugler
Jessica – Mona Petri
Margrit Scherrer – Rebecca Burkhardt
Anton Widmer – Andreas Matti
Radu Pankiewicz – Ronnie Paul
Pascal Kreuzer – Marcello Montecchi
Ueli – Ulrich Blum
N.N – Suly Röthlisberger

Regie: Marcus Imboden
Drehbuch: Nils-Morten Osburg

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