Ein Fall ohne Zeugen – Polizeiruf 110 Fall 32 / Crimetime 369 // #Polizeiruf #Polizeiruf110 #Hübner #Arndt #Subras #Berlin #Ostberlin #DDR

Crimetime 369 - Titelfoto © Fernsehen der DDR / ARD

Bindung ohne Kinder und Bindung durch Kinder

Dies ist der einzige Film der Krimireihe Polizeiruf 110, den Ralf Oehme inszeniert hat, der vor allem Liebhabern von in der DDR entstandenen Komödien ein Begriff sein dürfte („Der Mann, der nach der Oma kam“ mit Rolf Herricht und „Blumen aufs Dach“, die beide in den 1970ern entstanden). Dass der Regisseur fünf Jahre bei der Volksarmee gedient hat, drückt sich darin aus, dass er die VP, die Volkspolizei, hier einsetzt, als sei sie die Volksarmee, nämlich in ganzen Hundertschaften und militärischem Gepräge nach einen verschwundenen Kind suchen lässt. Zu diesem und weiteren Aspekten des Films in der -> Rezension.

Handlung (Wikipedia)

Die 35-jährige Maria Sander wird mit Wehen ins Krankenhaus gebracht. Es ist ihr erstes Kind. Kindsvater ist der verheiratete Wolfgang Pressler. Er will seine Frau Gisela verlassen, um mit Maria und dem Kind eine Familie zu gründen. Gisela nahm die Seitensprünge ihres Mannes stets großzügig hin, ahnt jedoch, dass es ihm aufgrund des Kindes diesmal ernst ist. Sie beginnt, um ihren Mann zu kämpfen.

Mit Maria im Zimmer liegt auch Hannelore Jentsch, die in der Klinik ihren vierten Sohn zur Welt gebracht hat. Ihr Mann Harald reagiert auf die Nachricht nach einem weiteren Sohn enttäuscht, hat er sich doch ein Mädchen gewünscht. Zehn Tage nach der Geburt geht Hannelore mit Kinderwagen einkaufen, parkt den Wagen mit Kind Uwe kurz vor einem Tapetenladen und stellt nach ihrem wenige Minuten dauernden Einkauf fest, dass der Wagen verschwunden ist. Zunächst glauben die anderen Kunden an einen Scherz, doch wird bald deutlich, dass das Kind entführt worden ist. Die Kriminalpolizei wird alarmiert und Oberleutnant Jürgen Hübner und Unterleutnant Lutz Subras beginnen mit den Ermittlungen. Auch Leutnant Vera Arndt wird für die Ermittlungen hinzugezogen, obwohl sie eigentlich gerade mit Mann und Kindern in den Urlaub fahren wollte. Sie verspricht ihrer Familie, in wenigen Tagen nachzukommen.

Die Ermittler finden keinerlei Zeugen der Entführung. Der blaue Kinderwagen ist ein oft benutztes Modell, die Familie hat keine Feinde und auch kein Vermögen, das Grund für eine Erpressung sein könnte. Lutz Subras verdächtigt eine aus der Psychiatrie entflohene Patientin, die unweit des Hauses der Familie Jentsch lebte, das Kind entführt zu haben. Die Frau bleibt jedoch verschwunden. Vera Arndt glaubt, dass das Kind bald auftauchen muss, weil es noch gestillt wird und daher bald Hunger haben und schreiend auf sich aufmerksam machen wird. Die Bevölkerung wird auf den Fall aufmerksam gemacht, VP-Helfer aus der Bevölkerung halten die Augen offen und Mütter mit Kinderwagen müssen sich verstärkt ausweisen. Auch Maria Sander wird so angehalten, als sie Wolfgang Pressler vom Bahnhof abholt. Sie weist sich mit ihrem Schwangerschaftspass aus.

Maria Sander erhält Besuch von Gisela Pressler, die mit ihr über die bessere Zukunft für Wolfgang diskutieren will. Maria wirft sie hinaus. Gisela diskutiert später mit Wolfgang über die Möglichkeit ein eigenes Kind zu haben, so wisse sie von einem Neugeborenen, das sie adoptieren könnte. Wolfgang weiß um den Entführungsfall und wird misstrauisch. Spielende Kinder finden wenig später den verwaisten Kinderwagen von Hannelore. Die Ermittler können ein braunes Perückenhaar in den Sachen sicherstellen. Tatsächlich besitzt die aus der Psychiatrie entflohene Frau eine solche Perücke. Die Babymütze des kleinen Uwe wird wenig später in einem Kanal gefunden, was zur verstärkten, aber ergebnislosen Suche führt.

Vera Arndt beginnt nun, sämtliche Kliniken der Stadt nach Fällen von Totgeburten oder kurz nach der Geburt verstorbenen Säuglingen zu durchsuchen. Jürgen Hübner wiederum erhält einen Anruf von einem Zeugen. Totengräber Harri Knopp erinnert sich an eine Frau, die vor kurzem ihr neugeborenes Kind bestatten musste. Sie sei in ihrem Verhalten vollkommen aus dem normalen Rahmen gefallen. Vor wenigen Tagen habe er sie jedoch mit Kinderwagen und anderer Haarfarbe wiedergesehen. Über die Totenbücher kann Jürgen Hübner den Namen der Frau ausfindig machen. Auch Vera Arndt ist fündig geworden, und so treffen beide Ermittler am selben Haus ein. Es handelt sich um die Wohnung von Maria Sander, die ihr Kind drei Tage nach der Geburt verloren hatte. Sie entführte das Kind ihrer Zimmernachbarin Hannelore, um so ihren Freund an sich zu binden. Maria, die auch eine braune Perücke besaß und sie kurz nach der Entführung wegwarf, wird verhaftet. Vera Arndt wiederum kann zu ihrer Familie in den Urlaub fahren.

Rezension

Es gibt eine auffällige Gemeinsamkeit in den Krimis der 1960er und 1970er Jahre in Ost und West. Die Polizei versucht jedem Verbrechen mit maximalem Aufwand, mit hohem Einsatz nachzugehen. Die rechtlosen Zeiten der NS-Herrschaft sind vorbei, das einzelne Menschenleben zählt wieder sehr viel. Das ist eine Erklärung dafür, warum ein so enormer Aufwand im Fall eines gerade erst verschwundenen Kindes betrieben wird, wie wir ihn in „Fall ohne Zeugen“ sehen.

Man hat das Gefühl, die Polizei von ganz Ost-Berlin ist auf den Beinen um Baby Jentsch zu finden. Selbstverständlich ist das auch Systempropaganda in beiden deutschen Staaten gewesen. Wenn man es satirisch sehen mag, kann man sagen, in de DDR war es absolut nicht angängig, dass irgendein Kind verloren ging, angesichts der Abwanderungstendenzen aus dem Sozialismus, obwohl der Aderlass durch den Mauerbau doch sehr gebremst wurde. Aber 1975 waren die bis 1962 anhaltenden Fluchtbewegungen noch nicht ausgeglichen. Es wird dem Zuschauer auch darüber berichtet, wie sehr man sich bemüht, die Kindersterblichkeit zu senken. Es ist in jeder Hinsicht klar: Im Arbeiter-  und Bauernstaat darf kein Humankapital verschenkt werden.

Kurios hingegen ist, dass eine Frau beim vierten Kind todunglücklich ist, weil es schon wieder ein Junge wurde und der Mann sich doch so gerne mal ein Mädchen gewünscht hätte. Vielleicht sollte das auch eine humorvolle Anspielung darauf sein, dass Jungen früher häufig mehr zählten oder als größerer Nachwuchserfolg galten („Namensträger“) und das hatte handfeste ökonomische Gründe. Aber zumindest an der Oberfläche verkneift sich Ralf Oehme hier jeden humoristischen Ton, der Film ist einem ernsten Thema, der Kindesentführung, gewidmet, also wird darin kein Spaß gemacht, wie man ihn in Polizeiruf-Folgen mit dem wohl am häufigsten bearbeiteten Thema Diebstahl an sozialistischem Eigentum durchaus antreffen kann.

Na gut, ein bisschen was geht, es darf aber nicht inhaltlich mit den Ermittlungen zu tun haben. „Ein Fall ohne Zeugen“ ist der erste frühe Polizeiruf, den wir bisher gesehen haben, in dem es zu einer Einlassung über die Privatverhältnisse bei der „K“ kommt, was offenbar schlicht Kripo heißt. Vera Arndt wird gezeigt, wie sie in Urlaub fahren wollte und es mal wieder nicht klappt, weil ein Fall zu bearbeiten ist. Am Ende schafft sie es aber noch, ihrem Mann und ihren beiden Kindern hinterherzureisen. Kommt uns das bekannt vor? Vielleicht ist es die Blaupause für alle verhinderten Urlaube von Polizist_innen mit ihren Partner_innen im deutschen Fernsehkrimi. Bei Tatort-Kommissar Ernst Bienzle und seiner Hannelore wurde dieses Leid zu einem filmübergrifenden Running Gag ausgebaut.

Mit diesem Einblick in Vera Arndts Privatleben ist allerdings auch eine Festlegung getroffen. Dienst ist Dienst und privat ist privat. Vielleicht gab es vorher zu viele Spekulationen darüber, was sich zwischen der hübschen Polizistin und ihren Vorgesetzten entwickeln könnte, vor allem wohl zwischen ihr und Oberleutnant Fuchs, der hier allerdings nicht mitspielt; es ist sein Kollege Hübner, der Arndt anfordert, weil es zwar Hundertschaften von bereitstehenden Einsatzpolizisten gibt, aber offenbar nur wenige versierte Kriminaler_innen. Anfangs wirkt es gar nicht so, als ob  man ein großes Aufgebot einsetzen könnte, aber ziemlich plötzlich werden ungeahnte Ressourcen frei.

Wenn man vom Vorgänger „Heiße Münzen“, den wir hier rezensiert haben, zu „Ein Fall ohne Zeugen“ kommt, muss man eine stilistische Rückentwicklung konstatieren, nicht nur, weil wieder in Schwarz-Weiß gefilmt wird – man kann aber auch sagen, das hier ist traditionelles Krimifernsehen, das wir für Ost und West gerne mit der Stahlnetz-Reihe aus den 1960ern vergleichen, deren Produktionen, wie die Polizeirufe, ebenfalls oft keine Morde beinhalten. Das Ideologische hat man dieses Mal eher aus der Art, wie von den Staatsorganen mit dem Fall ungegangen wird als aus dem Fall, seiner Begehung  generiert.

Dieser nämlich hat eine überzeitliche Komponente, auch wenn sich darin kaum jemand untadelig verhält, der doch eigentlich der sozialistischen Gesellschaft angehört: Zwei Frauen kämpfen um einen Mann. Die eine verliert ihn, weil sie die Karriere dem Kinderwunsch übergeordnet hat, die andere will ihn durch ein Kind gewinnen, es dient ihr als Klammer.

Dann gibt es noch die Frau Jentsch, die wegen ihrer Kinder nicht arbeiten kann. Wir lernen noch etwas: Die Versorgung der Kinder in Horten und Kindergärten war offenbar nicht so lückenlos, wie sie im Nachhinein gerne dargestellt wird, sonst hätte es diesen Konflikt von Frau Pressler, Kind oder Karriere, nicht in der geben müssen. Nachtrag während der Überarbeitung des Entwurfs: Mittlerweile haben wir weitere Filme der Reihe aus der „Ära DDR“ gesehen, in denen dieser Konflikt thematisiert wurde – ohne, dass auch nur einmal ein Lösungsansatz erwähnt worden wäre. In der DDR war ja angeblich alles miteinander perfekt vereinbar, es wirkt in diesen Filmen aber nicht so.

Es wird auch sichtbar, dass Frau Pressler als Disponentin in ihrem Betrieb eine Führungsposition einnimmt und um eine solche zu erlangen, musste man wohl auch im Osten private Bedürfnisse zurückstellen. Ihr Mann wird tatsächlich als Datenmechaniker bezeichnet und gilt als Arbeiter, ihr sozial  nicht gleichgestellt, obwohl er den Zukunftsberuf an sich ausübt und in einer sanften, etwas weltfremden Art auch leicht nerdig wirkt. Dass ein damals eher seltener IT-Fachmann so eingegliedert wird und nicht als Angehöriger einer Leuchtturmbrigade herausgehoben wird, ist wiederum sehr interessant. Immerhin ist dies der erste unter den bisher angeschauten DDR-Polizeiruf-Filmen, in dem wir in ein paar Szenen einen wirklich modernen Betrieb gezeigt bekommen. Leider auf eine sehr beiläufig Art, das hätte man etwas mehr ausbauen können.

Es kommt wohl vor, dass Frauen durch Kinder versuchen, Männer an sich zu binden und zerbrechen Beziehungen an Kinderlosigkeit, aber dass ein Kind Mittel zum Zweck sein kann, ist doch recht mutig dargestellt. Zum Ausgleich gibt es den warnenden Wink an die Karrierefrau und mehr als aufgrund ihrer Position an sich kommen wir dadurch eben doch wieder zum Subtext: Bei Männern ist es kein Problem, aber auch in der DDR für Frauen möglicherweise eher, wenn sie sehr ehrgeizig sind.

Denn Ehrgeiz ist etwas Individuelles, Persönliches, kommt aus der eigenen Veranlagung und dient keinem höheren gesellschaftlichen Zweck. Hätte man Frau Pressler auch als Heldin der Arbeit gezeigt, wäre es richtig verzwickt geworden, aber das hat man nicht getan und daher ist die Deutung zulässig, dass man Frauen hier einen Hinweis geben wollte, nicht zu zu hohe berufliche Ambitionen die Zuneigung der von Kinderwünschen geplagten Männer zu gefährden.

Dieses hoch hinaus wollen wird nicht gerade positiv dargestellt. Schauen wir aber nochmal etwas genauer hin: Ist es besser, dass ein Mann sich zufrieden gibt mit einer immerhin auskömmlichen Stellung, die ihm keine wesentliche körperliche Arbeit abverlangt und trotzdem zwei Frauen auf Trab hält? Da kommen wir leider ins Vage, denn ob der Film die Absicht hatte, eine neue Generation von Technokraten vorzuführen, welche zielsicher zwischen Null und Eins pendeln, sich jedoch nicht gleichermaßen versiert im eigenen Beziehungsraum bewegen können, wollen wir hier nicht entscheiden.

Finale

Es gibt durch den Beruf von Herrn Pressler etwas wie Modernität, die Machart von „Ein Fall ohne Zeugen“ ist aber traditionell und recht strikt, wenn man von den kurzen Einblicken in Vera Arndts Privatleben absieht, die im Vergleich zu den bisher gesehenen frühen Filmen der Reihe geradezu sensationell sind. Außerdem spielt Materialismus ausnahmsweise keine tatauslösende Rolle: Keine Verschuldung, kein Streben nach verwerflichem Besitz über das normale sozialistische Maß hinaus, auch Alkoholismus kommt dieses Mal nicht vor. Vielmehr ist der Wunsch von Frauen, nicht allein zurückzubleiben, ein zentrales Motiv. Daher ist dies ein recht trauriger und stellenweise berührender Film mit einem Dreieck im Mittelpunkt, das Defizite gegenüber einer funktionierenden Zweierbeziehung mit sich bringt. Dass moderne Lebensentwürfe so viele Spielarten kennen, die alle als legitim angesehen werden, heißt nicht, dass sie keine emotionalen Schieflagen verursachen.

Haben wir gerade beim Durcharbeiten der Besetzung gesehen: Winfried Glatzeder spielt den vorbestraften Paketler, der Leutnant Arndt anmacht. Hatten wir wegen des Bartes nicht erkannt. Die Szene ist so kurz gewesen, dass wir sie hier nicht erwähnt haben und wir müssen uns korrigieren: Da war doch etwas Humor drin, jenseits des verschobenen, nicht verhinderten Urlaubs der Frau Leutnant.

7/10

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke


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