Verdammt – Tatort 687 / Crimetime 398 // #Tatort #WDR #Köln #Ballauf Schenk #Verdammt #Tatort687

Crimetime 398 - Titelfoto © WDR, Uwe Stratmann

Verdammt schwierige Kiste

Vorwort 2019: Die Rezension wurde für die Ausstrahlung des Films am 25. Juli 2019 weitgehend unverändert aus dem Archiv des „ersten Wahlberliners“ übernommen und spiegelt den Kenntnisstand zur Reihe Tatort und zu seinem Thema im Sommer 2011, wenige Monate nach der Aufnahme der Arbeit an der „TatortAnthologie“.

Mit „Verdammt“ hat sich WDR-Flagschiff aus Köln – nicht zum ersten Mal – in schwere See begeben, in der zudem noch alle erdenklichen Untiefen unter der Oberfläche lauern.

Pädophilie im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch von Kindern, möglicherweise Mord an Kindern mit sexuellem Hintergrund, ist eines der kompliziertesten Sujets überhaupt. Die aktuelle Diskussion um die Sicherungsverwahrung, die nicht enden will, weil sich sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eingeschaltet hat, besagt, wie zäh das Ringen um eine gerechte und würdige Lösung für alle Beteiligten ist. Dazu und ausführlich zum Film äußern wir uns in der -> Rezension.

Handlung

Max Ballauf und Freddy Schenk müssen den Mord an einem pädophil veranlagten Ex-Häftling aufklären. Das Mitleid für Paul Keller hält sich in Grenzen: Nach zwölf Jahren in Haft war er, angeblich therapiert, nur wenige Stunden auf freiem Fuß. Jetzt wurde die Leiche des berüchtigten Kindermörders im Müllcontainer eines Wohngebiets gefunden – genauso wie damals der achtjährige Kevin, sein mutmaßliches Opfer.

Die Kommissare Ballauf und Schenk stehen vor einer schweren Aufgabe: Die Zahl der Tatverdächtigen ist groß, zumal die Bürgerinitiative „Child Protection“ öffentlich Stimmung gegen die Freilassung Kellers gemacht hatte. Nach amerikanischem Vorbild hatte die Organisation Kellers Identität und Wohnort im Internet veröffentlicht und überall in der Nachbarschaft Flugblätter mit seinem Foto verteilt.

Treibende Kraft bei „Child Protection“ ist Kevins Vater Stefan Maywald, ehemals ein sehr erfolgreicher Anwalt. Nach dem Tod seines Sohnes hat er sich ganz dem Kampf gegen die Pädophilen-Szene verschrieben. Doch Maywald ist nicht der einzige, den die Vergangenheit nicht loslässt. Auch bei Kellers Familie, seinen Eltern und seinem Stiefbruder haben die Vorkommnisse und die üble Nachrede der Nachbarn tiefe Spuren hinterlassen.

Rezension

Toll, wie man sich in Köln immer wieder an diese Dinge herantraut und dabei versucht, eine gewisse Balance zu wahren. Dafür hat man ein Team, in dem Freddy Schenk immer den Entrüsteten spielt, den emotional eingebundenen Typ, während Kollege Ballauf, der nicht nur keine Kinder, sondern eigentlich gar kein Privatleben hat, besser den objektiven, auch den Tatverdächtigen zugeneigten Ermittler geben darf.

Dieses Muster zieht sich durch viele Köln-Tatorte und zum Glück sind die Schauspieler gut und ihre Figuren interessant genug, damit dieses Muster funktionieren kann. Das tut es im Wesentlichen auch hier, trotzdem haben wir „Verdammt“ nicht als Spitzentatort empfunden. Er trägt zu schwer an seiner Thematik. Zudem wirft die Auflösung Fragen an die Vergangenheit auf, die an der Glaubwürdigkeit nagen.

Fakten, Fakten. Aufgrund seines brisanten Themas ist „Verdammt“ so gut rezensiert und dokumentiert wie nur wenige Tatorte, und das will etwas heißen, angesichts der mittlerweile breitgefächerten Rezeptionsplattformen.

Was „Verdammt“ zuweilen schwerfällig wirken lässt ist die erhebliche Anzahl von Fakten, die eingearbeitet werden muss, damit man einigermaßen Bescheid weiß. Zum Beispiel referiert der Gefängnispsychologe den beiden Kommissaren Schenk (Dietmar Bär) und Ballauf (Klaus J. Behrendt) die Zahl der in Deutschland vermuteten Pädophilen (200.000) ebenso wie den Stand der Wissenschaft, die sich uneinig ist, ob Pädophilie aus Kindheitserlebnissen und -traumata hervorgeht, oder ob sie angeboren ist oder sein kann.

Später sagt Katharina Keller (Barbara Schnitzler), die Mutter des zu Tode gekommenen Pädophilen Paul Keller (Thomas Arnold), sie wisse nicht, was sie falsch gemacht habe. Sie war offensichtlich eine liebe- und verständnisvolle Mutter und wirkt als Figur sensibel, ist die einzige, die sich nicht von ihrem Sohn abwendet. Auch wenn sie ihn im Gefängnis nur heimlich besucht, um dem Druck ihrer Umgebung zu entgehen, sie tut es.

Im Grunde rührt die Frage nach der genetisch oder umweltbedingt auftretenden Pädophilie an einem noch größeren Thema – nämlich daran, inwieweit Charaktereigenschaften überhaupt mehr durch das eine oder durch das andere generiert werden. Biogenetiker haben dafür mittlerweile eine reizvolle, eine Synthese bildende Erklärung: Im Grunde ist es in den Genen, aber wie diese aktiviert und sogar durch Umwelteinflüsse verändert werden können – das ist eben Sache der Umwelt.

Natürlich muss sich der Tatort auch der strafrechtlichen Seite von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen zuwenden und auch Tötungshandlungen in diesem  Zusammenhang beleuchten, das aber steht weniger im Zentrum als das Thema an sich.

Meinungen, Meinungen. Keine wesentliche Position zum Thema wird hier ausgelassen, das hat man sehr schön, geradezu dialektisch, mal wieder mit Max Ballauf und Freddy Schenk als argumentativen Gegenspielern inszeniert, dazu natürlich noch plumpe Hetzer und seichte Schwätzer, die auf der einen oder anderen Seite die Extrempositionen verkörpern.

Der Tatort „Verdammt“ verleugnet aber nicht, dass er auch eine Meinung hat. Die ganze Differenzierung wäre unnötig, wenn nicht ein gewisses Verständnis für Pädophile geweckt werden sollte, deswegen wird die Hetzjagd und manche Aussage wenig reflektierter Personen auch genau so einseitig dargestellt, wie viele Menschen auch über die Sache denken.

Andererseits gibt es Väter und Mütter, die berechtigterweise in Sorge sind, angesichts des Eiertanzes um Themen wie Sicherungsverwahrung offenbar nicht therapierbarer Täter. Dass Täter therapierbar sind, das wird im Film nicht generell verneint, sondern, so suggeriert die Argumentationslinie in „Verammt“, sei Sache der Einzelfallbetrachtung. Das ist eine unserer Rechtsordnung immanente Position, die immer das konkrete Rechtsgut im Blick hat. Sie kennt auch die Schaffung abstrakter Gefährdungslagen als sanktionswürdig an, aber nicht eine sexuelle Neigung als solche – zu weit ist mittlerweile die Toleranz in diesen Dingen fortgeschritten, als dass man Pädophile präventiv sanktionieren könnte.

Das Dilemma ist einn grundsätzliches, zwischen Freiheit und Schutzbedürfnis, zwischen Menschenwürde und der Sicherheit der Gemeinschaft und des Individuums vor Straftaten – das Dilemma, das jede Demokratie aushalten muss. Es bedarf immer wieder der Justierung, um einen vernünftigen Interessenausgleich der Rechtsgüter zu gewährleisten, neue Erkenntnisse müssen umgehend in die Rechtspflege eingehen. Irrtum nicht ausgeschlossen, wenn Erkenntnisse sich durch noch neuere Erkenntnisse als Irrweg herausstellen.

An einer Stelle sagt Ballauf, man müsse aufpassen, dass Väter noch mit ihren Kindern in die Badewanne dürfen (sinngemäß), der Pädophile Manfred Krüger (Hans-Jochen wagner) weist darauf hin, dass Pädophile mehr Liebe für diese Kinder empfinden als viele Eltern. Demgemäß wäre die zügellose Wut mancher Eltern auch ein Eingeständnis von Schuld und Unfähigkeit. Wer Pädophile nicht verstehen kann, kann auch seine Kinder nicht lieben. Das ist natürlich eine unzulässige Pointierung unsererseits.

Aber in ein Wespennest wird mit diesen Aussagen dennoch gestochen, auch wenn sie im Tatort „Verdammt“ nicht als quasi gültige Meinungen bestehen dürfen und sofort von einem wütenden Schenk gekontert werden, in seiner Doppelfunktion als Vater und Großvater. Einerseits, ja. Viele Kinder wachsen in sehr versachlichten Verhältnissen auf. Vielleicht nicht mehr so repressiv wie früher, aber dafür in einer Welt, die sehr funktionalistisch und projektorientiert ist. Wir beobachten zuweilen, dass Eltern sehr pädagogisch und mit viel Kopf und Programmatik mit ihre Kinder agieren, aber viel zu selten, dass Väter einfach nur mit ihren Kindern lachen und Schabernack treiben.

Andererseits kann man nicht behaupten, dass die Liebe von Pädophilen zu ihren Objekten eine Alternative darstellen darf für zu wenig Emotionen in den Häusern, in denen die Kinder aufwachsen; dass sie damit eine Rechtfertigung oder Entschuldigung erhielte. Würde man die sexuelle Ausfassung der Pädophilie als etwas zu Rechtfertigendes ansehen, dann müsste man dies auch bei Vätern tun, die ihre Töchter in dieser Richtung „lieb haben“. Es liegt auf der Hand, dass man diesem Argumentationsweg nicht folgen darf.

Dass Kinder, die noch nicht geschlechtsreif sind, aus freien Stücken sexuelle Handlungen an sich akzeptieren und dadurch keinen Schaden erleiden, ist viel zu sehr aus der Sicht des sich auch damit rechtfertigenden Pädophilen argumentiert. Die Schäden sind evident, die Schuldgefühle im Umfeld auf den ersten Blick vielleicht freiwillig wirkender Handlungen, die emotionale Bedrängnis, allgegenwärtig und die Scham über all das kann keinen guten Einfluss auf die Entwicklung solchermaßen geforderter und überforderter Kinder haben.

Paul Keller, der nicht gemordet hat und Daniel, der es tat. Gegen Ende von „Verdammt“ stellt sich heraus, dass der von der Meute gehetzte und vom eigenen Bruder getötete Paul Keller, der nach 12 Jahren aus dem Gefängnis kommt und vom Staat eine zweite Chance erhält, seinerzeit das Kind von Stefan Maywald (Bernhard Schütz) gar nicht ermordet hat. Ohne diese Annahme, ohne die Verurteilung, hätte es wohl nie die Organisation „Child Protection“ gegeben, mit der Maywald einen fanatischen Kampf gegen Kinderschänder und Kindesmörder führt.

Das macht es für den Zuschauer schwierig, sich einzunorden. Zumal der wirkliche Mörder Daniel Günter (Martin Kiefer) seinerzeit aus Eifersucht getötet hat. Er war der Junge, der vom Pädophilen Paul Keller lange Zeit „geliebt“ wurde – dann kam der jüngere, das Kind von Maywald, und Daniel wusste sich des Nebenbuhlers nicht anders zu erwehren als dadurch, ihn zu töten. Auf der einen Seite ein klassisches Eifersuchtsdrama. Man kann natürlich sagen, ohne die Pädophilie von Paul Keller wäre es dazu nicht gekommen, aber dann müsste man sagen, ohne irgendeine Liebe gäbe es auch keine Eifersucht und viel weniger Straftaten, die aus engen Beziehungen und Verstrickungen hervorgehen.

Dass Paul Keller den Jungen deckt, der noch gar nicht strafmündig war, als er tötete, und dafür 12 Jahre ins Gefängnis geht, ist das Element, das wir in der Kurzkritik ansprachen. Tat er das also aus Liebe für Daniel, damit dieser nicht als Opfer von Pädophilie und als kindlicher Mörder auch ohne strafrechtliche Verurteilung gebrandmarkt ist? Schwer vorstellbar, wenn auch nicht vollkommen unmöglich. Immerhin hat Keller sich erst während der Zeit im Gefängnis gewandelt, so sein Therapeut. Das Unrechtsbewusstsein entstand also erst hinter Gittern.

Dass der 12 Jahre alte Fall überhaupt noch aufgeklärt wird, ist übrigens wieder so ein Kölner Coup – immer, wenn sonst nichts geht, macht’s die DNA-Analyse (die es 2007 gab, 1995 offenbar noch nicht). Damit kann man den Themen wunderbar Raum lassen, weil die Ermittlungsarbeit in den Hintergrund tritt. Alles nur eine Frage der modernen Technik.

Zurück zur Figur des Daniel. Dieser ist offenbar nicht fähig, Liebe zu seiner Schwimmmeister-Kollegin Jennifer (Jytte-Merle Böhrnsen) zu empfinden und damit wendet sich das oben angerissene Szenario doch gegen den pädophilen Paul Keller. Es ist ganz eindeutig wahrzunehmen, dass Daniel ein zurückgenommener Mensch ist, der sich schwer tut mit den Emotionen, die ihm hier zweifelsfrei von einem hübschen Mädchen in etwa seinem Alter geschenkt werden. Und wie schwer es ihm erst fallen muss, seine Rolle als verdeckter Ermittler für Maywald im Pädophilenmilieu auszufüllen. Auch damit arbeitet er seine Kindheitserfahrungen ab, das scheint offensichtlich; dass ihm dies nicht guttut, ebenso.

Damit hat der Film auch seine Kernlinie gefunden: Die Hetze gegen Pädophile ist der Sache ebensowenig angemessen wie die Ansicht, Pädophilie sein unschädlich für die Kinder – Kinder, die damit in Kontakt kommen, dürfen also nach Meinung des Tatortes „Verdammt“ weiter als Opfer gelten, auch wenn sie nicht umgebracht wurden. Wir sehen’s genauso, gehen mit dieser Linie d’accord.

Man könnte Daniels Verhalten als Ausfluss seiner Schuld deuten, die auf ihm lastet, weil er den kleinen „Nebenbuhler“ getötet hat, aber so ist es sicher nicht gemeint. Der Druck hat sich erst aufgebaut, die Tat sich erst ergeben, weil er als Halbwüchsiger mit einer Situation nicht klarkam, die ihn emotional überfordert hat.

Die Ermittler mittendrin und außen vor. Freddy Schenks Privatleben eignet sich wieder einmal hervorragend, um Positionen bei einem Familienthema zu verdeutlichen und ihn gleichzeitig gegen den Kollegen Ballauf in Stellung zu bringen. Langsam wird das zu einem Ritual, von dem man nicht weiß, ob man es noch gut finden soll. Nicht nur, dass seine Tochter ein wenig nervig ist, diese Darstellung hat auch eine generelle Schattenseite: Durch die Emotionalisierung besteht die Gefahr der Simplifizierung.

Man kriegt immer noch gerade die Kurve, indem Ballauf das ausgleichende Element geben darf, aber unseren Geschmack trifft eher die Münchener Variante, in der beide Ermittler die moralischen Dinge des Lebens frei von persönlicher Involvierung diskutieren dürfen.

Gut ist diese Kölner Variante für die emotionale Bindung des Zuschauers an die Ermittlerfigur Schenk – sofern der Zuschauer diese Variante akzeptiert. Und gelingt das nicht immer hundertprozentig, aber den Schauspieler Dietmar Bär und seine Polizistenfigur sehen wir gerne.

In „Verdammt“ haben die beiden Typen, die immer wissen, dass sie sich an der Currywurstbude wiederfinden, falls sie sich mal verlieren, ausgeglichene Parts wie selten. Man hat nicht den Eindruck, dass einer von beiden stärker agiert oder den besseren Part halt als der andere, auch wenn Schenk mit seiner Riesengiraffe für die wenigen ansatzweise komischen Momente dieses Films sorgt.

Finale

Der Tatort „Verdammt“ wirkt sehr austariert, sehr gewichtig und Spannung und Ermittlungsarbeit ächzen deutlich unter der Last des Themas. Die Frage ist immer wieder, wie weit darf ein Tatort sich fortbewegen vom Genre Krimi bzw. dieses als Vorwand verwenden, um einem großen Publikum zur besten Sendezeit ein Stück Welt zu erklären? Für uns ist „Verdammt“ in dieser Hinsicht ein Grenzfall. Die Schauspielleistungen sind gut, die Dialoge manchmal hölzern, aufgrund des Akzentes auf Thema anstatt flotter Handlung und Unterhaltung, aber ein schlechter Tatort ist „Verdammt“ keinesfalls.

Man kann dieses Thema im gegebenen Format wohl nicht wesentlich besser zeigen, die Frage ist deshalb, ob es sich fürs Format eignet. Knappes Ja mit einigen Abstrichen, eine etwas über dem Durchschnitt liegende Bewertung von 7,5/10 scheint uns angemessen für viel Wichtiges und wenig Kriminalistisches.

© 2019, 2011 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Max Ballauf – Klaus J. Behrendt
Freddy Schenk – Dietmar Bär
Dr. Roth – Joe Bausch
Staatsanwalt von Prinz – Christian Tasche
Katharina Keller – Barbara Schnitzler
Martin Keller – Matthias Koeberlin
Daniel Günter – Martin Kiefer
Melanie Schenk – Karoline Schuch
Dr. Strachov – Oliver Nägele
Roland Keller – Günter Junghans
Manfred Krüger – Hans-Jochen Wagner
Paul Keller – Thomas Arnold
Stefan Maywald – Bernhard Schütz
Franziska – Tessa Mittelstaedt

Regie – Maris Pfeiffer
Kamera – Gunnar Fuß
Szenenbild – Frank Polosek
Buch – Jürgen Werner
Musik – Jörg Lemberg

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