Die Grünen ein Jahr nach der Sommertour – sicher Volkspartei?

Wir mussten erst einmal nachschauen, ob wir nicht bereits einen ähnlichen Beitrag geschrieben haben, auf dem wir hätten aufbauen können – nämlich vor einem Jahr, als die Sommertour „Des Glückes Unterpfand“ der damals neuen Führung der Grünen lief. Einen solchen Beitrag gibt es nicht, also wird es Zeit dafür.

Und genau vor einem Jahr kam die FAZ mit einem sehr freundlichen Artikel heraus, der stellvertretend für viele andere steht. Die Sommertouren 2018 des Spitzenduos Annalena Baerbock und Robert Habeck, die getrennt unterwegs waren, aber unter einheitlichem Label, wird ausführlich gewürdigt und erinnert an einen Wendepunkt, der damals schon ein halbes Jahr zurücklag: Das Auswechseln der Grünen-Spitze. Unter anderem hebt die FAZ die nunmehr erreichte Anschlussfähigkeit nach allen Seiten als eine offenbar beruhigende Tatsache hervor. Sehr schön sind die persönlich gehaltenen Beschreibungen der Interna und der Arbeitsweise der grünen Doppelspitze Baerbock-Habeck herausgestellt. Es wirkt so plastisch und sympathisch, wie die Grünen seitdem rüberkommen und in Wahlumfragen und bei Wahlen immer weiter zulegen. In Berlin wären sie gegenwärtig die mit Abstand die stärkste Partei, stünden Wahlen zum Abgeordnetenhaus an.

Die guten Umfragewerte haben also dieses Mal die Wahltests bestanden und gegenwärtig wären die Grünen nach der Union die Nummer zwei im Bund. Auf die Klimapolitik zu setzen, war vorausschauend, dagegen lässt sich nun wirklich nichts sagen. Aber kann eine Partei, die nach allen Seiten anschlussfähig ist, links stehen? Da gibt es nach rechts nämlich keinen Anschluss, weil zwischen dort und rechts noch einige andere stehen müssten, wie die FDP oder die SPD.

Aber vielleicht darf man sich das Ganze nicht wie einen Zug darstellen mit Wagen, die für bestimmte Richtungen stehen und deren Kupplungen miteinander funktionieren oder nicht. Sondern als ein neuronales Netz systemtragender Elemente, die alle miteinander so gut verknüpft sind, dass nichts passieren kann. Dadurch, dass Jamaika im Bund gescheitert ist haben die Grünen außerdem einen Riesenvorteil: Sie können nicht für die schmächtige Klimaschutzpolitik einer Regierung verantwortlich gemacht werden, der sie nicht angehören.

Die Umfragewerte von 15, 16, 17 Prozent, von denen vor einem Jahr die Rede war, sind längst Geschichte – mittlerweile ist auf Bundesebene regelmäßig von über 20 die Rede. In Berlin aktuell 27. Im Osten klappt es nicht ganz so, aber der hat zum Glück nicht so viele Einwohner. Außerdem: Zum Ausgleich gibt es Städte wie eben Berlin.

Damit kurz zu Berlin. Die Grünen sind die einzige Partei, die einen Zugriff auf die sogenannte Zivilgesellschaft haben. Die Einstellungen der Beteiligten und die Aktionsformen sind generisch grün, abzüglich allerdings des Pazifismus der Anfangsjahre und der sozialen Ausprägung des linken Flügels, den es wohl noch gibt, der in Berlin auch recht stark ist, der aber nicht dafür sorgt, dass die Grünen z. B. nicht mit der CDU zusammengehen können. Auch deren Landesverbände sind nicht alle gleich ausgerichtet, aber daraus allein lässt sich Jamaika in Schleswig-Holstein nicht erklären – die erste solche Konstellation gab es übrigens vor längerer Zeit im Saarland.

Und nun kommt Kenia. In Brandenburg. Weil die Mehrheit im Landtag etwas sicherer ist, als wenn man in die bisherige rot-rote Regierung eingestiegen wäre? Es ist im Grunde egal, in Brandenburg hat keine Partei ein Gespräge, das irgendeine Anschlussfähigkeit verhindern würde. Bis auf die AfD vielleicht. Die wird aber irgendwann bei der CDU andocken, vor allem, wenn sie weiterhin stärker wird. Bzw. dann umgekehrt.

Bei der letzten EU-Wahl im Mai 2019 hat sich gezeigt, dass die Zeichen gar nicht so sehr auf grün stehen, wie man das aus deutscher Perspektive wahrnehmen möchte; die in mehrere Gruppen aufgeteilte grüne Fraktion im EU-Parlament hat relativ wenig zugelegt, hingegen wurde der rechtsnationale Block weiterhin gestärkt. Auch etwas geringer als befürchtet, aber deutlicher als die Grünen. Dass eine Deutsche die grüne Fraktion führt, ist angesichts der Übermacht der hiesigen Grünen gegenüber jenen in allen anderen EU-Ländern nur logisch. Wenn aber nicht auf europäischer Ebene ein richtig grüner Wind weht, das sollten gerade die vielen EU-Philen unter den Grünwähler*innen wissen, wird es schwierig, grün als Exportmodell in die Welt zu tragen. Die deutsche Politik könnte sich, selbst wenn sie auf Bundesebene viel grüner wäre als jetzt, auf höherer Ebene nicht durchsetzen. Schon die bisherigen grünen Ansätze, etwa die Energiewende, haben andere Staaten nicht gerade überzeugt.

Anders wäre das, wenn Grün und Links wieder mehr als Einheit betrachtet würden. Denn die Zeit für linkes Denken wird kommen, es ist zu offensichtlich, dass es einer Systemkorrektur bedarf. Nachdem die meisten linken Parteien sich von systemkritischen Ansätzen und von den meisten ihrer Wähler*innen befreit haben, stehen die Grünen allerdings vor einem Dilemma. Ihr Klientel ist mittlerweile im Status der Besitzstandswahrung angekommen. Der Aufbruch bei den Umfragen bedeutet nicht, dass auch die Wähler*innen in einem sozialpolitischen Aufbruch begriffen sind. Man hat sich glänzend damit eingerichtet, migrationsethisch wertvoller zu sein als die anderen, zudem vegan, aber wenn das System, auf dem auch diese Verortung aufbaut, immer mehr Risse bekommt – was dann? Die Grünen, wie sie derzeit mehrheitlich aufgestellt sind, haben darauf keine Antwort. Es gibt deshalb gerade von konservativer oder liberaler Seite Politiker*innen, die den Grünen Unehrlichkeit vorwerfen.

Das ist nachvollziehbar, denn eine FDP beispielsweise kann nicht hingehen und grün werden, dazu ist sie zu eng und zu offensichtlich mit dem Kapitalismus verbandelt. Die Grünen aber können unzählige neoliberale Mechanismen, von den Wähler*innen nicht hinterfragt, mit ihrem umweltpolitischen Weltbild vereinbaren. Sie sind bisher nicht in der Position, sich den Widersprüchen stellen zu müssen. Die Zeit, in der sie im Bund mitregierten, ist uns allen noch als diejenige des bisher größten Sozialabbaus der Nachkriegsgeschichte in Erinnerung. Und das alles haben sie ohne soziales Gewissen mitgetragen, weil Kanzler Schröder ihnen den Atomausstieg zugesichert hatte. Das war ein Kuhhandel der besonderen Art, wenn man bedenkt, was ab 2005 passiert ist und dann 2011, ohne Mitwirkung der Grünen und aufgrund eines Einzelereignisses, das sich weitab von Deutschland zugetragen hatte, erneut revidiert wurde.

Unsere Befürchtung ist, dass die Grünen, hätten sie das mitzubestimmen, auch heute ohne Probleme den Klimaschutz so organisieren wollten, dass der gehobene Mittelstand sein Narrativ, ethisch das Beste zu sein, was Deutschland zu bieten hat, weiter pflegen kann und die Ärmeren die Lasten zu tragen hätten. So sind in den letzten Jahrzehnten eigentlich alle Veränderungen gelaufen. Der Test wird sein, ob die Grünen sich endlich dafür stark machen, dass auch die Reichen mal etwas beitragen und auch das eigene Klientel stärker mit Umweltabgaben belastet wird. Bisher hört man dazu nicht viel. Weniger als aus der LINKEn, die ihre Programmhefte dafür nicht umschreiben muss und sogar in der SPD machen sich Stimmen bemerkbar, die endlich die Vermögensteuer wieder erheben lassen wollen. Auch das ist während Rot-Grün von 1998 bis 2005 geflissentlich unterblieben.

Es gibt auch viele, welche die Grünen wegen ihrer liberalistischen Einstellung in Sozialfragen sogar im Verdacht haben, dass sie auf Bundesebene eher eine Jamaika-Koalition eingehen würden als, wenn es denn rechnerisch möglich wäre, ein grün-rotes Projekt starten. Die Logik liegt auf der Hand: Es wäre die Fortsetzung der Koalition mit Kanzler Schröder und seiner damals neoliberal ausgerichteten SPD. Derweil könnte sich das Kapital für ein paar Jahre und in Maßen aus seinen Akkumulationsschwierigkeiten befreien, denn sich grün labeln heißt ja auch, unter fast gleichen Bedingungen weitermachen zu können wie bisher, nur zu höheren Preisen. Damit wäre dem konservativen Establishment gedient, selbst wenn die Autoindustrie einige Arbeitsplätze abschaffen sollte. Die Produktion wandert anteilig sowieso immer mehr ins Ausland ab, das wissen Zahlenkenner. Die BIP-Rückgänge angesichts einer mehr energetisch etwas mehr grün ausgerichteten Industrie, die trotzdem kaum weniger Ressourcen verbraucht, wären moderat. Aber gedient wäre nicht dem Klima, nicht der Umwelt und auch nicht der Mehrheit der Menschen, die Opfer bringen dürfen, aber weiterhin nicht an den Erträgen der Produktion teilhaben werden.

So ist das, wenn man als nach allen Seiten anschlussfähig gilt und das auch mit unterschiedlichsten Koalitionen demonstriert: Der Verdacht, dass man gar keinen progressiven Kern hat, kommt bei politischen Beobachtern immer wieder auf. Das flauschige aktuelle Führungspersonal passt dazu perfekt. Vielleicht werden die Grünen trotzdem – Bevölkerungspartei. Die Bevölkerung ist politisch volatil, zu abrupten Kurswechseln bereit und weist eine niedrigere Frusttoleranz auf, seit sie nicht mehr Volk heißt. Manchmal entstehen aus ihr heraus Ideen, die gar nicht so leicht parteipolitisch zu kanalisieren sind.

Fridays for Future steht den Grünen sicher näher als irgendeiner anderen Partei. Zivilgesellschaft eben. Dort demonstrieren Schüler*innen, die noch gar nicht klar darüber sind, was nachhaltiges und damit notwendigerweise systemkorrigierendes Wirtschaften bedeuten würde – sogar für sie selbst. In gar nicht so vielen Jahren. Wir werden dann sehen, ob sich alles, was wir schon von der ersten Generation von Grünwähler*innen kennen, wiederholt. Dann wäre eine solidarische Zukunft endgültig verspielt.

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke


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