Architektur eines Todes – Tatort 740 / Crimetime 408 // #Tatort #Frankfurt #HR #Sänger #Dellwo #Architekt #Architektur

Crimetime 408 - Titelfoto © HR, Bettina Müller

Herbststimmung in Bankfurt

Wie Fritz Dellwo und Charlotte Sänger in der letzten Szene in der Kantine sitzen und in den Herbstregen schauen, das wirkt aus dem Leben gegriffen, denn die beiden standen im Jahr 2009 im Herbst ihrer Tatortkarriere und es war, als deren drittlezter Film gedreht wurde, klar, dass dass bald Schluss sein würde.

Selbstverständlich passt der Herbst auch zum menschlichen Szenario. Niemand konnte die Wohlstandstristesse der Bankenstadt so gut auf den Bildschirm bringen wie der Hessische Rundfunk in der Zeit, in welcher der Rockmusik hörende Existanzialist und die ebenso spröde wie intuitive Elfe zusammen Dienst bei der Frankfurter Mordkommission schoben. Warum zwischen den Bankern nicht auch mal Architekten? Vielleicht doch und es steht alles in der -> Rezension.

Handlung

Sofia Martens, Star-Architektin und Besitzerin eines großen Architektur-Büros, bittet ihren alten Bekannten Staatsanwalt Scheer um Hilfe: Ihre Assistentin Anett Berger ist verschwunden. Scheer drückt den Fall Charlotte Sänger und Fritz Dellwo aufs Auge, die davon nicht gerade begeistert sind. Eigentlich gehört die Suche nach Vermissten nicht zu ihren Aufgaben.

Zunächst gehen sie die Recherche nach der verschwundenen Anett eher widerwillig an, doch zunehmend sind sie auch fasziniert von dieser ganz anderen Welt der Sofia Martens. Von ganz unten hat sie sich hochgearbeitet und eines der bedeutendsten Architektur-Büros aufgebaut. Sofia geht ganz in ihrer Arbeit auf und engagiert sich nebenbei noch in Frauennetzwerken. Ihr Mann Holger Martens hält ihr den Rücken frei – er sorgt für die Kinder und den Haushalt. Ihre Mitarbeiter bewundern sie, und Anett Berger war die ideale Assistentin. Sofias Leben scheint perfekt. Doch je tiefer die beiden Kommissare in die Welt von Sofia Martens eintauchen, um so mehr Risse zeigen sich in diesem scheinbar so perfekten Leben.

Sänger und Dellwo kommen Zweifel, ob Sofia Martens wirklich so sehr an ihrer Assistentin hängt – oder kommt ihr deren Verschwinden vielleicht gar nicht so ungelegen?

Rezension (enthalt Angaben zur Auflösung!)

In „Architektur eines Todes“ treiben sie es mit der elegischen Stimmung auf die Spitze. Nach dem Ende des Films fühlte sich auch unser Sein bleischwer an. Es hatte tatsächlich etwas Körperliches. Da gibt es eine tiefere Ebene, auf welcher er große Wirkung zeigt. Besonders, wenn man den vielen Details nachspürt. Der Plot ist mittelmäßig, aber sechs Jahre nach der Erstausstrahlung wissen wir, es kann viel, viel schlimmer kommen, als dass nur ein paar Handlungselemente und Motive nicht klar oder logisch sind.

Dass die Ermittlungen sich mehr oder weniger auf Beobachtungen und Befragungen vor Ort beschränken und der Spannungsbogen ziemlich flach ist, damit die miserable Stimmung im Spätherbst unseres Gesellschaftssystems nicht durch zu viel Aktion gestört wird, finden wir ganz in Ordnung, ebenso wie die schauspielerischen Darbietungen. Keine Frage, dass Sänger / Dellwo schon andere Kracher hingelegt haben, aber hier hat man ganz offen und kalkuliert auf die Atmosphäre gesetzt. Das zeichnet die Frankfurter Tatorte dieser Periode aus: Alles wirkt beabsichtigt und folgt einem Konzept, mag dessen Umsetzung auch wenig für die Seelenpflege bieten.

Am Standort Frankfurt hat das Nachfolgeduo Steier / Mey nie diese formale Geschlossenheit erreicht, auch wenn das Team Joachim Król und Nina Kunzendorf gewiss eine ebenso hohe Begabung mitbrachte wie Andrea Sawatzki und Jörg Schüttauf. Dafür waren die Nachfolger zu asymmetrisch und zu sehr auf Kontrast gebürstet – bezeichnenderweise waren die Allein-Fälle, die Steier am Ende seiner Dienstzeit noch gelöst hat, die intensiveren Filme, die allerdings auch eine maximal triste Stimmung vermittelten („Das Haus am Ende der Straße“, „Der Eskimo“).

Selbst Frauenpower kann etwas Tristes haben, dagegen wirken Männer, die Morde begehen, beinahe sympathisch. Charlotte Sänger mit dem Gespür fürs Zwischemenschliche fühlt sich deshalb beim schön ausstaffierten Frauen-Stammtisch auch nicht wohl. Sie passt zwar hin, wegen ihrer Unabhängigkeit und ihrer Optik, aber das ist Fassade. Wie so Vieles in Frankfurt. Immer, wenn dort der Kapitalismus inszeniert wird, merkt man, die wissen beim Hessischen Rundfunk, über was sie drehen.

Da sitzt jede Szene, anders als im Tatort-Glanzberlin, das es über weite Strecken der Ritter-Stark-Ära zu sehen gab und das manchmal den Eindruck erweckt, als wolle es der Mainmetropole nacheifern und dabei deutlich erkennen lässt, dass hier zu wenig Substanz ist, um die echten, schlechten Lebensentwürfe der Besserverdiener mit dieser tiefen und manchmal erschütternden Sinnlosigkeit auszustatten, wie das in „Architektur eines Todes“ gelungen ist. Architektur als Raumkonzept, nicht mehr nur als glatte Fassade.

Architektur als Lichtraum mit weiblichem Touch. Wie ehrlich waren da doch die Würfel und Quader der 70er oder 80er, als die Form der Funktion folgte und der schöne Schein noch nicht den Inhalt komplett ersetzen musste. Und wie ironisch. Sicher ist „Architektur eines Todes“ kein Jedermann-Tatort und hat kriminalistische Schwächen, aber für seine vielen Einsamkeitsmomente verdient er unsere Würdigung. Das ist nicht hingerotzt oder aus der Fasson geraten. Die Krise nach 2008 ist spürbar und man merkt auch, dass es nicht nur um Banken, Kredite, Schulden geht, sondern dass ein Lebensstil hinterfragt wird, der einen Anschein von Unabhängigkeit verleiht, während nur Charlotte Sänger wirklich unabhängig ist (auch wegen ihres Beamtenstatus), aber die einsetzende Krise hat noch nicht zu filmischer Verwirrung oder zum Durchdrehen angesichs einer unübersichtlichen Wirklichkeit geführt. Die Menschen in diesem Tatort mögen rast- und ratlos wirken, auf die Schauspieler und die Macher hinter der Kamera trifft das nicht zu.

Man traut sich sogar, Frauen durchgängig nicht als Opfer zu zeigen, sondern die Handelnden, also die Männer, als diejenigen hinzustellen, die emotional mit dieser kalten Frauenwelt nicht klarkommen. Das ist durchaus kein Abgesang auf die Weiblichkeit an sich, sondern auf die Adaptionsfähigkeit von Frauen. Sie setzen sich in Männerberufen durch und nehmen Männerattitüden an. Sie machen Stammtische und halten sich gleichgeschlechtliche und heterosexuelle Nebenpartnerschaften und bedienen sich auch der käuflichen Liebe. Die sinnleeren Rituale der Wohlstandswelt werden gerade dadurch offengelegt, dass Frauen sie ausführen wie Männer, das will uns dieser Tatort sagen.

Natürlich wird überzeichnet und selbstverständlich hat jeder das Recht, andere auszugrenzen, unabhängig vom Geschlecht, auch wenn es sich bei den Ausgegrenzten um das andere Geschlecht handelt. Es ist das System, nicht das Geschlecht, das die Menschen so formt, dass sie nicht mehr hinterfragen, ob es dafür steht, was sie tun. Zum Beispiel den Erfolg so über die Familie zu stellen, dass man sich dieser komplett entfremdet. Schöne Szene, wie der kleine Sohn der Architektin an die Scheibe des Esszimmers trommelt, um sich bei der Mutter bemerkbar zu machen und diese in Gedanken an die verlorene Gespielin draußen steht und es gar nicht mitbekommt. Etwas plakativ, wie auch die Szenen mit dem Callboy Charlie, aber darum geht es ja – in Bildern die Botschaft rüberzubringen.

Fazit

Mit Bildern, Andeutungen, Stimmungen zu arbeiten, das ist eine große Stärke des Mainkrimis aus dem Hessenland. Und da wir sehr aufs Filmische stehen gefällt uns das weitaus besser als die Moralpredigten, die Ermittler in manch anderer Stadt gerne ans Publikum loswerden. Ethik kann auch durch Handlung und Bildsprache transmittiert werden und den öffentlich-rechtlichen Volkserziehungsauftrag auf diese Weise zu erfüllen, beweist Geschick und Vertrauen in die Zuschauer. Dass nicht alle Krimifans dieses Vertrauen dadurch honorieren, dass sie begeisterte Rezensionen schreiben, nimmt man beim HR mit einem gewissen Selbstbewusstsein in Kauf.

Viele Zuschauer empfanden in ihrer aktiven Zeit die Figur Charlotte Sänger als polizei-unrealistisch, und das war sie gewiss. Aber sie war auch eine Vorreiterin. Eine Protagonistin für die Kommissare mit Schatten, die seitdem zahlreich in den Tatortstädten Einzug hielten. Und wenn man die Charlotte mit einigen heutigen Kollegen vergleicht, wirkt sie geradezu beängstigend „normal“. Außerdem lässt ihr mehr beobachtender als sich in den Vordergrund drängender Charakter Raum für die Figuren des jeweiligen Falles. Und der Raum wird meist genutzt – das trifft auch auf „Architektur eines Todes“ zu.

7,5/10

Charlotte Sänger – Andrea Sawatzki
Fritz Dellwo – Jörg Schüttauf
Dr. Scheer – Thomas Balou Martin
Sofia Martens – Nina Petri
Peter Kaufmann – Bastian Trost
Charlie – Thure Lindhardt
Josephine Peters – Catrin Striebeck
Clara Konrad – Maria Happel
Liebhaber – Sebastian Schindegger
Eva Kaufmann – Alwara Höfels
Anett Berger – Julia Dietze
Holger Martens – Stephan Bissmeier
Rudi Fromm – Peter Lerchbaumer

Regie – Titus Selge
Kamera – Frank Blau
Szenenbild – Károly Pákozdy
Buch – Judith Angerbauer
Musik – KAB Fischer


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