Todesschütze – Tatort 852 / Crimetime 417 // #Tatort #MDR #Leipzig #Saalfeld #Keppler #Tod #Schuetze #Schütze #Tatort852 #Zivilcourage #UBahnGewalt

Crimetime 417 - Titelfoto © MDR, Junghans 

Im Verlauf geht die Bodenhaftung verloren

Das Thema war überfällig und warum nicht Leipzig? Ob es dort Todesfälle durch Gewaltattacken in und im Umfeld von öffentlichen Verkehrsmitteln gibt oder in Berlin, spielt keine Rolle: Es gibt sie.

Der Anfang von „Todesschütze“ ist gelungen. Die prekäre Situation, die randalierende Jugendliche für andere Fahrgäste schaffen, das Bedrückende eines solchen Moments wird in diesem Film gut rübergebracht. Ob diese Typen wirklich so hohl sind wie z. B. Robin, der Idiot unter den drei Schlägern, lassen wir dahingestellt, roh und dumm passt halt irgendwie. Mehr zum Film steht in der -> Rezension.

Handlung

Das Ehepaar Anne und René Winkler, beide als Lehrer tätig, sitzt in der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause. Drei Jugendliche pöbeln herum und belästigen die übrigen Fahrgäste. Als sie einem offensichtlich Obdachlosen ein Bier über den Kopf schütten, beweist Frau Winkler Zivilcourage und schreitet beherzt ein. Kurze Zeit später an der nächsten Haltestelle steigt das Ehepaar aus. Die drei jungen Männer folgen. Draußen fallen sie wie die Bestien über die Winklers her, schlagen sie zusammen und treten noch auf ihre Opfer ein, als sie schon am Boden liegen.

Zwei Streifenpolizisten, Phillip Rahn und Peter Maurer, die sich zufällig in der Nähe befinden, bekommen den Überfall mit und eilen herbei. Sie kümmern sich um das Ehepaar, während die Täter unerkannt fliehen können. Saalfeld und Keppler nehmen im Tatort „Todesschütze“ erste Ermittlungen auf. Anhand der Beschreibungen von René Winkler können die Jugendlichen nach relativ kurzer Zeit identifiziert werden. Zur Überraschung der Kommissare ist einer von ihnen der Sohn des Polizisten Rahn, Tobias.

Saalfeld und Keppler hegen nun große Zweifel an den Aussagen der uniformierten Kollegen. Sie haben Verständnis dafür, dass Rahn seinen Sohn decken will. Aber sie glauben nun nicht mehr, dass die Aussage von Maurer der Wahrheit entspricht. Der Dienststellenleiter verbürgt sich allerdings vehement für seine Kollegen. Und die drei jungen Männer haben sich in Bezug auf ihre Alibis perfekt abgesprochen. Ansonsten schweigen sie hartnäckig.

Eine entscheidende Wende nimmt der Tatort „Todesschütze“, als Anne Winkler an den schweren Verletzungen des Überfalls stirbt – samt ihrem Baby, denn sie war im fünften Monat schwanger. Ihr Mann fühlt sich von der Polizei allein und im Stich gelassen und versucht, sein Recht auf eigene Faust zu bekommen.

Auch Phillip Rahn ist voller Zweifel und Wut. Als Vater will er seinen Sohn schützen und dessen Zukunft nicht ruinieren, als Polizist müsste er aussagen. Kollege Maurer will genau das tun: aussagen. Er hält den Stress nicht mehr aus. Doch bevor es dazu kommt, wird er erschossen. Alle wesentlichen Beteiligten an dem Fall sind nun dieses Mordes verdächtig. der Polizist Rahn, die drei Jugendlichen Tobias, Marcel und Robin – und natürlich René Winkler. Saalfeld und Keppler haben alle Hände voll zu tun, um den Fall zu lösen.

Rezension

Doch bereits in den Anfangsminuten schwingt etwas mit, was uns fragwürdig erscheint. Anne Winkler zeigt Zivilcourage und zieht damit den dumpfen Hass der drei Looser auf sich. Ihr Mann hingegen versucht (sie, nicht die Jugendlichen) zu beschwichtigen und später, als die Frau zunächst ihr ungeborenes Kind verliert und dann im Krankenhaus verstirbt, stellt er die drei zunächst, verletzt einen, später schießt er Robin ins Bein. Welches Statement? Aufwachen? Wohl eher nicht, Selbstjustiz, erklärt Keppler, ist nicht der richtige Weg, und damit hat er trotz aller Wut, die man schon beim Zuschauen auf solche Typen wie Tobias, Marcel und Robin bekommt, Recht.

Zivilcourage kann hingegen das Leben kosten, das zeigt der Film unkommentiert. Wäre der Verlauf der Gewaltattacke anders gewesen, wenn auch Herr Winkler schon in der Straßenbahn so dagegengehalten hätte wie seine Frau? Vermutlich nicht, aber man kann es nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht wäre die psychische Lage zwischen den drei jugendlichen Säufern und Randalierern und den späteren Opfern um das entscheidende Quäntchen anders gewesen.

Leider bleibt das Spekulation und leider ist trotz eines guten Themas und einer konzentrierten Arbeit an „Todesschütze“ einiges nicht so recht gelungen. Das heißt, wir nehmen’s vorweg, nicht, dass der Film schwach ist, aber da ist etwas Unbefriedigendes drin.

Eva Saalfeld ermittelt in ihrem 15. Fall, so gut es die Möglichkeiten ihrer Darstellerin Simone Thomalla zulassen, Andreas Keppler ermittelt in etwa so, wie man es von seinem Darsteller Martin Wuttke erwarten darf. Das reicht insgesamt für eine konzentrierte Leistung ohne Schlenker, denn eines kann man dem Drehbuch hier schon zugestehen: Dass es straff und geradlinig ist.

Zumindest gilt das für die ersten beiden Drittel des Filmes. Ein recht klarer Howcatchem, denn die Eingangsfragestellung an die Ermittler, wer die drei Gewalttäter waren, welche die Eheleute Winkler zusammengetreten und zwei Leben vernichtet, ein drittes zerstört oder doch stark beschädigt haben, ist eher rhetorisch. Später aber wird anhand des tödlichen Anschlages auf den Polizisten Maurer noch ein Whodunnit hineinkonstriert, der in einem dramatischen SEK-Einsatz aufgelöst wird, nebst dem geplanten, aber nicht ausgeführen Rachefeldzug, zu dem sich Herr Winkler entschließt.

Nicht, dass „Todesschütze“ generell eine zu komplexe Handlung hat, bis zum Mord an Maurer ist sie sogar von überragender Schlichtheit. Aber danach zieht es ruckartig an mit der Anzahl an Möglichkeiten zur Auflösung und es wird eine mit viel Effekt, aber wenig Wahrscheinichkeit gewählt. Das ist schade, weil es verhindert, dass „Todesschütze“ ein echtes Drama werden kann. Klar, wenn man von der Unausgeglichenheit des Plots im  Zeitablauf absieht, ist er ein ganz passabler Krimi, aber dafür kommt die Welt der Täter und die der Opfer zu kurz.

Die Hintergründe werden zwar ein wenig angerissen – Robin kommt aus schlimmen sozialen Verhältnissen, Marcel ist ein gescheiterter Soldat, der trotz Parkinson noch gut schießen kann, wenn die Krankheit ihn gerade mal in Ruhe lässt, Tobias ist ein Bullensöhnchen, dessen Vater selbst etwas Gewalttätiges an sich hat, auch wenn das Leben in dieser Beamtenfamilie geordnet erscheint. Soweit alles klar und einigen Klischees im Zusammenhang mit gewalttätigen jungen Menschen entsprechend.

Es ist selbstverständlich eine subjektive Ansicht, aber wir hätten diesen Tatort anders aufgebaut. Nämlich als echten Whodunnit. Dass die Täter nicht so schnell zu ermitteln gewesen wären – irgendeine technische Panne bei der Straßenbahn-Videoüberwachung oder Maskierung der Täter wäre doch mindestens so wahrscheinlich gewesen wie die schräge Konstruktion, dass Marcel Degner den Polizisten Philip Rahn in der Hand hat aufgrund eines Vergewaltigungsvideos, das er zufällig an irgendeinem zufällig wirkenden Ort gedreht hat. Aber auch unter der Annahme, dass die Täter schnell ermittelbar sind, ist noch genug zu tun. Die Identifizierung nur aufgrund von künstlerisch wertvollen Phantombildern dürfte nicht ausreichen,  zumal, wenn diese aufgrund von Vermummung so nicht möglich gewesen wäre. Und dann gibt es eben keinen zweiten Mord, sondern überall Schutz und so eine Art Welt von Verbindlichkeiten, die eine Schweigemauer erzeugt. Natürlich kann so etwas über 90 Minuten nur tragen, wenn in den Tätern und Opfern so viel Spannung liegt, dass man dabei bleibt.

So, dass man bleibt und doch das Gefühl hat, hier trägt sich etwas so zu, wie es leider in Berlin in den letzten Jahren mehrfach vorgekommen ist. Vielleicht wäre es auch eine gute Idee gewesen, das Verhalten der Justiz einzubeziehen, die z. B. in Berlin Urteile fällt, die auf eine unglaubliche Weise die Rechtsgüter der Opfer missachten.

Es wird zwar gezeigt, was geschieht, aber einen genauen Blick hinter die Fassaden und auf die weitere Handhabe des Staatsapparates, auf Ursachen und Folgen, spart sich der Film denn doch – dabei beweisen viele gut gemachte Tatorte über brisante Themen, dass man mehr Wucht mit weniger Blaulichteinsatz erzielen kann. Der massive Showdown stört die Balance zwischen Thema und Action, auch wenn Keppler dadurch endlich eine Fahrstunde unter forcierten Bedingungen nehmen kann.

Finale

Dieser Drops ist noch nicht gelutscht. Das Thema „Sponti-Gewalt im Bereich von öffentlichen Verkehrsmitteln“ noch nicht auserzählt. Zum einen wird in „Todesschütze“ Vieles, was wirklich bedrückend an dieser zunehmend auftretenden Form von Gefahr für ÖPNV-Nutzer ist, kommt nur kurz oder wird nicht dargestellt. Anmerkung 2019: Wenig später schuf der RBB den Tatort „Gegen den Kopf“ mit Ritter und Stark, der aktuell als die beste Darstellung dieses Themas gilt.

Wie entsteht eine Gewaltszene? Eine präzise und genau beobachtete Entwicklung bis hin zum Totschlag oder gar Mord hat uns gefehlt. Die Analyse der Hintergründe der handelnden Jugendlichen ebenso. Wir sind zwar nicht der Meinung, dass volldidaktische Lehrstücke heute die allein mögliche Darstellung eines realen und viele Menschen betreffenden Themas sein kann, aber die Zahl der Abhängigkeiten und Verstrickungen wären auch ohne das seltsame Ding zwischen Degner und Rahn sen. hinreichend gewesen. Auch der Seitenhieb auf die Sensationspresse war so plakativ und wenig hilfreich nicht nur für die Ermittlungen der Mordkommission sondern auch für die Anbindung des Zuschauers ans Drama der Winklers, dass man ihn getrost hätte weglassen können.

Anstatt eine klassische Tragödie zu zeigen, fasert „Todesschütze“ zum Ende hin aus und verliert so den drängenden Realismus, den die Anfangszenen noch rüberbrachten, obwohl auch in ihnen anstatt einer überzeugenden Kausalkette, die zur Gewaltspirale wird, zu viel Beliebiges drin ist. Das Exemplarische, das man einer solchen Situation mitgeben kann, gelingt nicht vollständig; letztlich fehlt das genaue Hinschauen auf Handlungsprozesse und Figuren, das sich bei einem Thema anbietet, das enorme innere Spannung Dramatik jenseits der Effekthascherei anbietet, die man der Presse vorwirft, welcher der Film leider ebenfalls erliegt. Gerade wenn man in einer Stadt lebt, in der Verbrechen wie die hier gezeigten tatsächlich stattfinden und bei denen so viele Fragen offen bleiben. Auch wenn die Täter ermittelt werden, spürt man dieses Defizit an seriöser Konzentration, das sich gerade angesichts der sehr einfachen und zu einfachen Gefühlen verleitenden Tatbestände anbietet.

„Todesschütze“ ist zwar kein schlechter Tatort, einige Mängel deklarieren wir gerne als subjektives Empfinden und lassen sie nicht zu stark in die Bewertung einfließen, dennoch reicht es nur zu einer knapp durchschnittlichen Bewertung von 7,0/10.

© 2019, 2012 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Hauptkommissarin Eva Saalfeld – Simone Thomalla
Hauptkommissar Andreas Keppler – Martin Wuttke
Kriminaltechniker Wolfgang Menzel – Maxim Mehmet
René Winkler – Stefan Kurt
Anne Winkler – Natascha Paulick
Phillip Rahn – Wotan Wilke Möhring
Tobias Rahn – Jonas Nay
Ulrike Rahn – Carina Wiese
Marcel Degner – Antonio Wannek
Robin Franke – Vincent Krüger
Peter Maurer – Rainer Piwek
Frauke Maurer – Winnie Böwe
Werner Schubert – Hasko Weber
Robins Mutter – Anne-Kathrin Gummich
u. a.

Drehbuch Mario Giordano, Andreas Schlüter
Regie Johannes Grieser
Kamera Wolf Siegelmann
Musik Jens Langbein und Robert Schulte Hemming


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