Kinderparadies – Polizeiruf 110 Fall 338 / Crimetime 419 // #Polizeiruf110 #Polizeiruf #München #BR #VonMeuffels #Kinder #Paradies #Kita

Crimetime 419 - Titelfoto © BR

Kein Paradies für niemand

Regisseur Leander Haußmann hat nur einmal für die Reihe Polizeiruf gearbeitet und auch nie einen Tatort inszeniert. Die Ausnahme ist „Kinderparadies“. Darin lässt er seine ehemalige Lebensgefährtin Annika Kuhl von der bösen Ella als graue Maus bezeichnen. Kein Wunder, dass auch diese Beziehung aus dem Showbusiness nicht halten konnte. Haußmann hat nicht nur inszeniert, sondern ebenfalls das Drehbuch verfasst. Und Matthias Brandt hat als Hans von Meuffels in der Welt der Helikoptereltern ermittelt. Wie das ausging und wie es auf uns gewirkt hat, steht in der -> Rezension

Handlung

Wie viel Fürsorge brauchen Kinder für eine schöne Kindheit? Kriminalhauptkommissar Hanns von Meuffels muss in seinem sechsten Fall in einem Elite-Kindergarten ermitteln.

Ella Werken, die Mutter der kleinen Lara, wird ermordet aufgefunden. Erste Ermittlungen führen Kommissar Hanns von Meuffels in den neu gegründeten elitären Kindergarten, den der Lebensgefährte der getöteten Frau, Joachim Grand, mit viel Geld und Engagement aufbaut.

Die Elternschaft ist gerade dabei, sich wegen der Probleme mit dem aggressiven zweijährigen Bruno zu zerstreiten, der anderen Kindern der Einrichtung angeblich regelmäßig schwere Bissverletzungen zufügt. Die Mutter von Bruno, Valeska Steier, wird als Kindergartenleiterin doppelt zur Verantwortung gezogen.

Das Mordopfer war Teil dieses Konfliktes, der im Verlauf der Ermittlungen groteske Züge annimmt. Kommissar von Meuffels ermittelt an einem Ort, der ziemlich schnell den Schein der heilen und perfekten Welt verliert.

Rezension

Einen humorvollen Moment gibt es schon: Als von Meuffels herausfindet, dass die Frau, die den Kindern von Kindesbeinen an die neue Weltsprache Chinesisch beibringen soll, Koreanerin ist. Kulturkenner von Meuffels hat sie anhand einer bestimmten Geste enttarnt, die in Korea üblich ist, in China aber nicht. Chinesisch hat sie aber wohl trotzdem mit den Kleinen gesprochen. Einen Gag wie den, dass Eltern und Kinder später merken, dass die Kinder gar kein Chinesisch können, sondern nur Koreanisch, wäre für diese Art von Film etwas zu viel gewesen.

Ob Matthias Brandt als Schauspieler eine große Bandbreite hat, wissen wir noch nicht, wir haben ihn bisher nur als August Benda in „Babylon Berlin“ und in seiner Rolle als Kommissar von Meuffels gesehen und können bisher bestätigen, dass er die noblen Gesten, die leisen Töne perfekt beherrscht. Im Film reflektiert Brandt sogar als von Meuffels über die eigene Kindheit und den Vater, welcher Politiker war und den er fast nur im Fernsehen anschauen konnte. Schon bevor wir wussten, dass Matthias Brandt der Sohn von Willy Brandt ist, fanden wir seine dezente und Spielweise sehr attraktiv, aber seit dieser Erkenntnis sind die Filme mit ihm geradezu ein Sehnsuchtsort geworden – weil die Abstammung von Brandt an die letzten Jahre erinnert, in denen in Westdeutschland alles möglich schien, sogar echte Demokratie. Heute müssen wir uns daran festhalten, dass aus dieser Zeit wenigstens ein Mensch mit guten Manieren in unsere Epoche gesendet wurde.

In die Welt der Elitekinder passt er natürlich perfekt – und doch nicht. Weil er sich auch von sozialen Aufsteigern mit ihrem überdrehten Getue deutlich abhebt. Es gibt fast nichts Schlimmeres als die heutige Generation Heli-Eltern. Christian Buß hat im SPIEGEL geschrieben, Kinder seien für solche Menschen die neue Ersatzreligion. So gesehen, ist das Bedürfnis nach Spiriutalität, vermittelt eben durch Kinder, noch steigerungsfähig, denn einen gigantischen Kinderüberschuss gibt es in Deutschland bekanntlich nicht. Aber vielleicht sind Kinder auch zu kostbar, um allzu viel davon in die Welt zu setzen. Ihre Seltenheit macht sie noch wertvoller und schützenswerter. Mit dem SUV bis ins Klassenzimmer und auf demselben Weg zurück nach Hause, wenn’s geht. Die Werkens fahren einen SUV, fällt uns gerade ein. Doch die arme Lara hat keine Mutter mehr. Und die Mutter von Bruno Beißer muss einsitzen. So schnell kann das Helikoptieren zum Ende kommen. Im Film jedenfalls, wo Menschen für die Inszenierung zuständig sind, denen dieses mittlerweile kaum noch auszuhaltende Gehabe sichtlich auf die Nerven geht. Wir schließen uns an. Vor allem, weil trotzdem verdeckte familiäre Gewalt im Spiel ist, die hinter Hochglanzfassaden bestens versteckt wird und weil wir davon überzeugt sind, dass physische und vor allem psychische Gewalt und Fehlverhalten aller Art Kindern gegenüber längt nicht erledigt sind – schon deswegen nicht, weil es immer neue Arten von Fehlern gibt, die dem jeweils herrschenden Zeitgeist geschuldet sind.

Wir haben heute erfahren, dass ein uns aus dem Schreibumfeld bekannter Wissenschaftler, der in den USA forscht, mittlerweile auch von seiner promovierten Frau und von seinen beiden hochintelligenten Söhnen getrennt lebt. Und zwar hinter Gittern. Es wurde festgestellt, dass er führendes Mitglied eines Pädophilenrings war und versteckte Kameras in sein Haus einbaute, um zum Beispiel Studentinnen, die bei ihm zu Gast waren, unerkannt filmen zu können.

Wir müssen also nicht den gehobenen Mittelstand verlassen, um die Abgründe dieser Tage zu beschreiben. Die Freundin, die uns telefonisch davon berichtete, war schockiert. Wir auch. Wir fanden seine technokratische und biologistische Art, auf die Welt zu blicken, immer ein wenig einseitig, aber gerade gerade deshalb – das? Niemals. Ja, er war ziemlich offensiv beim Einstellen von privaten Bildern auf Facebook. Was, wenn sich Menschen solche Kenntnisse zunutze machen, die z. B. passende Kinder zum Entführen suchen?, fragten wir uns. Aber niemals hätten wir eine solche Neigung, so ausgelebt, vermutet – nein. Was hatte dieser Mensch doch immer für einen Auftrieb um seine Familie inszeniert.

Wir wollen hier nicht Vernachlässigung und Ignoranz das Wort reden, sicher nicht, aber in unserer Zeit gehen die Relationen zunehmend verloren und das fängt „Kinderparadies“ gut ein. Das, was Drehbuchautor Haußmann geschrieben hat, wäre ohne die flirrende Inszenierung des Regisseurs Haußmann vielleicht sogar etwas langweilig oder dünn gewesen, aber diese Unruhe im Bild, die angespannten DIaloge, Gesten, die hyperaktive Kamera, das Hastige, das Flüchtige, das unterschwellig Aggressive, das passt schon sehr gut in unsere Welt, in unsere Zeit, in der niemand mehr von sich selbst ein Stück zurücktreten und sich fragen kann, was er da eigentlich macht, mit sich, mit den Seinen, mit anderen. Und was es mit ihm macht, diese Art, wie er sich einbringt.

Wir haben nun oben auch etwas mit Schreiben verarbeitet, was uns heute morgen entsetzt hat, aber es passt zufällig in diese Rezension hinein. Wir haben es nicht erfunden, weil es gerade so gut passt, das versichern wir. Und wir fahren nicht den Megaspin von privaten Fassadenwelten hin zur Fassadendemokratie, die den in der Fassadenwelt Gefangenen als solche gar nicht mehr auffällt, nicht mehr auffallen kann.

Es ist schon vieles sehr anders, als es scheint. Das hat mit dem Bildungsaufschwung der letzten Jahrzehnte und mit einer Sprache zu tun, mit der man alles perfekt kaschieren kann oder zu können glaubt. Dass Großstadtmenschen sich durch falsches Wording verraten, kommt kaum noch vor, dazu sind sie alle zu gut eduziert. Aber wie wir an der täglichen Gewalt in der Welt sehen und an der immer weiter zunehmenden Ungleichheit: Nichts wird weniger aggressiv, nichts wird gleicher und nichts wird empathischer nur durch Sprache.

Wenn wir Kinder und Eltern in unserer Umgebung wahrnehmen, fragen wir uns manchmal, ob die Väter jemals mit ihren Kindern lachen, Witze machen, vielleicht auch wilde Abenteuer bestehen, die vielleicht sozialpädagogisch nicht der Hammer sind, aber einen enormen Erlebniswert bieten. Wo auch mal was schiefgehen kann, wo es mal zu inneren oder äußeren Verletzungen kommen kann, des Risikos wegen – natürlich nie zu schweren, dauerhaften, das haben Eltern schon im Gefühl. Oder trauen sie sich dieses Gefühl heute nicht mehr zu?

Diese hermetische, abgezirkelte Welt des Kindergartens, den wir im Film sehen, kam uns seltsamerweise normal und realistisch vor. Auch, dass bestimmte Kinder den anderen Probleme machen und niemand so richtig weiß, wie damit umgegangen werden soll, der Inklusion wegen, des Schutzes wegen, des Narrativs vom Allerbesten fürs Kind und alle Kinder wegen. Dabei sind Kinder doch auch nur Menschen. Und sie sind nicht per se unschuldig, dieses Modell lehnen erfahrene Psychologen ab, die eher auf dem Standpunkt stehen, dass wir alle recht ambivalent sind, von Beginn an. Natürlich obliegt es den Eltern, das Gute zu fördern. Aber wie tut man das am besten? Durch Fasttrack-Kindergärten mit Chinesisch ab dem 2. Lebensjahr? Und noch drei Sprachen, die so nebenbei erlernt werden, weil Kinder ja so leichtlernend sind? Oder dadurch, dass man Kinder auch mal Kinder sein und sich austoben lässt? Ihre natürlichen Aggressionen ins Freie befördert, wo sie möglicherweise auch hingehören?

Nun können wir uns gut vorstellen, welche Diskussionen es um Bruno gibt, nachdem klar ist, dass die leicht hysterische Mutter auch austicken und eine Nebenbuhlerin umbringen kann, die, zugegeben, ein wenig bösartig daherkommt. Hat die Mutter das Mördergen doch irgendwoher geerbt? Und zeigt Bruno schon Anzeichen dafür, dass es auf ihn übergegangen ist und übt mit Armbissen? Gibt es das Mördergen überhaupt? Serienmörder haben doch fast immer eine so miserable Kindheit vorzuweisen. Welches Fasttrackkind heißt bitte Bruno? Aber Bruno, der Beißer ist eine bösartige Anspielung auf zwei James-Bond-Filme.

Wir müssen noch einen Credit vergeben. An Lara. Das Mädchen ist so wunderbar -wie bringt man ein Kind dieses Alters dazu, in einer Situation so passend zu sprechen und so zauberhaft zu sein? Wie viele Takes waren dazu notwendig? Und wie gut interagiert Matthias Brandt mit der Kleinen. Vielleicht überbewerten wir das auch etwas, weil es im Film so gekonnt und immer genau richtig wirkt, aber es hat Spaß gemacht und für den notwendigen Relief gesorgt, in einem Drama, in dem Menschen vorkommen, die – ja, die wir alle eigentlich nicht kennen möchten, aber wir kennen ja doch welche, die irgendwie so sind, siehe u. a. oben.

Finale

„Kinderparadies“ ist schon ein guter Film und packt manches am richtigen Ende an, aber irgendwas war uns dann doch zu durchgestylt und wir hätten gerne mehr Tiefe drin gehabt. Die Eltern sind zwar nicht stereotyp im engeren Sinn, aber ihre Individualität wird vor allem durch ein paar kräftige Charakterpinselstriche hergestellt, die ein ekennbares Bild vermitteln. Da hätten wir gerne durchgeguckt. Nun gut, was soll schon hinter einem Bild sein. Ein Safe ohne Schlüssel, die Blackbox Familie? Vielleicht hat eben alles eine gewisse Grundoberflächlichkeit und daraus erwächst mit einem Mal Hass und Gewalt. Man kann sich nicht immer zurücknehmen. Das merken wir täglich daran, wie besonders elaborierte Gesellschaftslinksliberale über andere herziehen, die nicht ihrem Milieu angehören. Irgendwo muss sie hin, die in diesem System nicht zu bändigende Aggression. Haben wir für einen Von-Meuffels-Polizeiruf eigentlich schon weniger als 8/10 vergeben?

8/10

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Playlist, Besetzung, Stab

TitelKomponistInterpret
Walking Down The LineBob DylanBob Dylan
Mit FingerchenDetlev JöckerSchauspieler
The Never read LetterApples in Space (Julie Mehlum; Phil Haussmann)Apples in Space
Heile Heile Gänschen CrazyMaike Rosa VogelMaike Rosa Vogel Klavier
The Never Read Letter (acapella)Apples in SpaceApples in Space
You’re a big girl nowBob DylanApples in Space
Peter und der WolfNürnberger Symphoniker
Love is Stronger Than JusticeSting
Golden SlumbersLennon / McCartneyeatles

Die Mundharmonika-Musik spielt der Regisseur Leander Haußmann selbst.

Die übrige Filmmusik wurde eigens für den Polizeiruf 110 von Richard Pappik komponiert und ist nicht im Handel erhältlich. Die Vor- und Abspannmusik stammt von Freddy Gigele.

Hanns von MeuffelsMatthias Brandt
Joachim GrandJohannes Zeiler
Valeska SteierAnnika Kuhl
Tobias SteierMarkus Brandl
Ella WerkenLisa Wagner
Lara WerkenDoris Marianne Müller
Maria WerkenWiebke Puls
Frau WalterSteffi Kühnert
Bruno SteierVincent Brosig
JanaAlina Bauer
IsabellKatja Bürkle
XiaoxuSoogi Kang
SpurensichererMoritz Katzmair
Musik:Richard Pappik
Maike Rosa Vogel
Sven Regener
Kamera:Philipp Kirsamer
Buch:Daniel Nocke
Regie:Leander Haußmann

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