Crimetime 422 - Titelfoto © NDR, Christine Schroeder
Zwei bis drei Städte und epischer Zeitraum
„Wendemanöver“ ist der Gigant unter den Filmen der Reihe Polizeiruf 110, deswegen hat er auch zwei Fallnummern. Diese stehen für zwei Teile, die insgesamt drei Stunden dauern, das Ganze spielt in zwei Städten, eigentlich in dreien und zeigt das größte Team im Einsatz, das bisher in einem Tatort oder Polizeiruf zusammengeführt wurde. Auch die Zeit von 1980 bis 2015, die er umfasst, ist episch.
Ist mehr von fast allem auch besser? Das klären wir in der -> Rezension.
Handlung
Bei einem Brandanschlag auf ein Unternehmen in Magdeburg kommt die Frau des Juniorchefs ums Leben. Nur wenige Stunden später wird in einem Hotel in Rostock die Leiche eines Wirtschaftsprüfers entdeckt.
Zu Beginn der Ermittlungen ahnen die Kommissare in Magdeburg und Rostock nicht, dass es zwischen beiden Taten einen Zusammenhang gibt und dass vor ihnen die Aufklärung eines komplizierten Falls liegt, dessen Anfänge bis in die Zeit der politischen und wirtschaftlichen Umbrüche Anfang der 90er Jahre in Ostdeutschland zurückreichen.
Die Kommissare aus Magdeburg und Rostock stehen bei ihren Ermittlungen skrupellosen Tätern gegenüber, die alles unternehmen, damit ihre kriminellen Machenschaften aus der Vergangenheit genauso verborgen bleiben, wie ihre dubiosen und einträglichen Geschäfte in der Gegenwart.
Rezension
Mit „Kindeswohl„, dem derzeit neuesten Poliizeiruf, und mit „Liebeswahn“ haben wir immerhin schon zwei Filme mit Buckow und König gesehen, aber bisher noch keinen mit Brasch und Drexler.* Die vier kann man sehr gut auseinanderhalten, schwierig wurde es mit den übrigen Teammitgliedern. Pöschel ging noch ganz gut, aber die anderen sind einander zu ähnlich, um sie innerhalb eines Films oder Zweiteilers von Beginn an zu lernen. Am Ende ging es dann. Angesichts des Umfangs dieses Werks gehen wir heute nach langer Zeit wieder einmal sektional vor, wie wir’s in unserer Schreibgruppe vor vielen Jahren entwickelt haben.
Wir beginnen mit den Figuren. Dadurch, dass alle doppelt so viel Spielzeit bekommen, können sie gut entwickelt werden; das ist vor allem für die Episodenrollen wichtig. Die Ermittler_innen sind den meisten Zuschauern als Charaktere aber schon bekannt. Alle vier Ankerfiguren sind sehr individuell und in diesem Film gibt es zwei, die besonders herausstechen: Anneke Kim Sarnau vom Team Rostock und Sylvester Groth vom Team Magdeburg. Man muss die Spielweise von Sarnau mögen. Regisseur Eoin Moore hat den Darstellern vermutlich viel Lauf gelassen und ihren Fähigkeiten vertraut. Bei Sarnau gibt es geniale Momente wie die Garagenszene, dafür war uns dieses plötzliche Ab- oder Auflachen in ihrer Spielweise zu dominant. Sylvester Groth wird dadurch besonders herausgehoben, dass er zu den „involvierten Ermittlern“ zählt, dazu mehr im Abschnitt „Handlung“. Er spielt aber nicht nur sehr eindringlich und leise, sondern mit ihm erleben wir die erste und bisher einzige schwule Liebesszene in einem Film der beiden Reihen Tatort und Polizeiruf. Es gab vor einiger Zeit eine angedeutete Szene mit dem bisexuellen Tatort-Ermittler Karow aus Berlin, aber sie war eben nur angedeutet.
Charly Hübner als Buckow ist wohl der sympahtischste unter den vier Hauptermittlern und hat schwere Momente zu überstehen, weil sein Vater und ein Boxschüler des Vaters im Fall eine Rolle spiele – und weil er suspendiert ist und die Polizeipsychologin bestechen muss, um endlich wieder für diensttauglich erklärt zu werden. Dass er unbedingt mitmachen will, bringt ihm Begegnungen mit Elektroschockern ein und er hat insgesamt die meiste physische Action. Claudia Michelsen spielt die Magdeburger Kommissarin mit dem auf die Ostherkunft hinweisenden Vornamen Doreen Brasch dezenter als Anneke Kim Sarnau das Rostocker Pendant, aber sie wirkt, als würde sie hier etwas mehr aus sich herausgehen als üblich, um eine den anderen drei Ankerfiguren gleichwertige Präsenz zu erzielen und hat, wie König, eine Kussszene. Man hat wirklich sehr darauf geachtet, jedem dieser wichtigen Charaktere gerecht zu werden.
Der präpotente Rostocker Zwischen-Chefermittler Pöschel, dargestellt von Andreas Guenther, ist auf jeden Fall ein weiterer Polizist, den man sich merken kann, der einen modernen Typ verkörpert. Die Dienststellenleiter in den beiden Städten, die Kriminalräte sein müssten, stehen, wie auch in den Tatorten, hinter den Fallermittler_innen zurück, wirken aber glaubwürdig. Unter den Episodenrollen ragt Jörg Gudzuhn als Herbert Richter heraus, der einen typischen Patriarchen, einen Familienunternehmer spielt, der sowohl in der Vergangenheit wie in der Gegenwart an Wirtschaftsverbrechen beteiligt war bzw. ist.
Die Handlung ist kompliziert. Wie auch nicht, bei einem so langen Film, der als Krimi mit Tiefgang, angesiedelt in den Tiefen der Zeit, glänzen möchte. Wir müssen zugeben, dass wir gestern den zweiten Anlauf zu diesem Zweiteiler nehmen mussten, um ihn auf die Reihe zu bekommen. Beim ersten Anschauen war uns das Ganze zu undurchsichtig. Wir brauchen derzeit bsonders gute bzw. ruhige Abende, um einen Dreistundenfilm so aufzunehmen, dass wir darüber schreiben können. So war also „Wendemanöver“ etwa zwei Monate auf dem Media-Receiver geparkt und hat mit dafür gesorgt, dass wir zuletzt ziemlich unter Druck kamen, weil das Gerät ständig kurz vorm Überlaufen bzw. vor der Zwangslöschung von Filmen war.
Es gibt aber eine weitere Erklärung für die Notwendigkeit, nochmal ranzugehen: Im April hatten wir gerade erst beschlossen, die Reihe Polizeiruf nun auch zu rezensieren und „Wendemanöver“ war der erste aufgezeichnete Film dieser Reihe. Das heißt auch, wir waren sofort mit diesem Großprojekt konfrontiert, dessen Figuren wir alle nicht kannten und das wir nicht in einen Rahmen einordnen konnten – was mittlerweile schon etwas besser funktioniert. So hatten wir uns nach dem Anschauen des ersten Teils entschlossen, den zweiten erst einmal ruhen zu lassen und das Ganze auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen. Das war eine gute Entscheidung.
Sie hat aber nicht dazu geführt, dass wir nun das Meiste anders bewerten würden, was uns beim ersten Teil schon im April aufgefallen war. Wir kamen am Ende ganz gut mit der komplizierten Handlung zurecht, das soll man als Zuschauer auch erst am Ende können. Wir stellen uns gerade vor, wie die Drehbuchautor_innen ein Riesen-Schaubild vor sich hatten, ähnlich den Wandtafeln, die wir auf Polizeidienststellen immer wieder sehen, so auch hier – in Magdeburg. Es war so viel zu bedenken und über kreuz zu konstruieren. Die beiden Kommissarinnen, die sich ein wenig verknallen, die Familienaufstellungen in Rostock / Hamburg und Magdeburg, die große Ähnlichkeiten aufweisen mussten, das involviert sein des jeweiligen männlichen Hauptermittlers durch persönliche Beziehungen zu Tatverdächtigen, die gemeinsame Vergangenheit der älteren Charaktere aufgrund verschlungener Geschäftsbeziehungen zwischen Ost und West und nach der Wende im Osten, die Stasi, die Treuhand als deren Quasi-Fortsetzung bzw. das Austarieren von Fehlern des Ostsystems von einst und des Westsystems nach der Wende, für die jene beiden Institutionen stehen. Ganz hübsch schwierig, das so hinzubekommen, dass es ausgeglichen wirkt. Das ist den Machern gelungen, wir haben selten eine solchermaßen perfekte Matrix von Handlungselementen in einem deutschen Fernsehkrimi gesehen.
Dafür aber gibt es ein anderes Problem. Regisseur Eion Moore, dessen Tochter offenbar die Jenny Richter spielt und dem man große Verdienste bei der Modernisierung der Reihe Polizeiruf nachsagt – wir können das noch nicht beurteilen – schafft es, die einzelnen Szenen überwiegend gut zu gestalten, die Schauspieler_innen wirken, siehe oben, recht frei in der Art, wie sie ihre Rollen interpretieren, das läuft auch meist gut. Manchmal ist es bei jenen, die eine überragend lebendige und ausdrucksstarke, von sehr viel Mimik geprägte Art haben, auch mal too much. Im Ganzen aber halten die Darsteller den Zuschauer bei der Stange. Das müssen sie auch.
Denn der Handlung mangelt es an Rhythmus; sie ist fast durchgängig auf einem angestrengt mittelplusspannenden Niveau durchgefilmt, dadurch werden ruhige Momente zu wenig genutzt, Action-Highlights und auch dramatische, erschütternde Szenen wirken zu beiläufig. Gut möglich, dass man noch eine halbe Stunde zusätzliche Spielzeit gebraucht hätte, um „Wendemanöver“ mit seinen zahlreichen Wendungen mehr dramaturgische Struktur zu geben, aber der Plot ist so ausgefuchst, dass man wohl glaubte, nichts streichen zu können. Die Verständlichkeit, die letztlich erzielt wird und durch zuweilen künstlich wirkende Talking Heads erzielt wird – wie etwa die Zusammenfassung des Ermittlungsstandes in Magdeburg zu Beginn des zweiten Teils -, geht zulasten emotional mitnehmender Aufs und Abs. Das Ergebnis war bei uns, dass wir immer schön aufgepasst haben, dass wir am Ball bleiben, auch bei den Städtewechseln, die, wenn es zu unübersichtlich werden drohte, per Untertitel markiert wurden, aber gefühlsmäßig waren wir nicht so richtig drin. Das blieb bis zum Ende so, obwohl die Darsteller_innen sehr dezidiert agieren, der heute üblichen Spielweise entsprechend, die man früher, besonders für deutsche Fernsehverhältnisse, als overacting bezeichnet hätte.
Ein weiterer Aspekt ist die Handlung nicht bezüglich ihrer Konstruktion, sondern bezüglich der Glaubwürdigkeit und der psychologischen Stimmigkeit des Verhaltens der Figuren. Da gibt es einige Übertreibungen und Fragwürdigkeiten, wie etwa die Scheinvergewaltigung für 15.000 Mark. Davon jedoch letztlich nicht mehr als in anderen Fernsehkrimis. Die Atmosphäre, die in vielen Polizeirufen von der Einbindung der Umgebung und von Land und Leuten profitiert, besonders der Brandenburger Polizeiruf trat dabei in der Ära Krause hervor, ist in „Wendemanöver“ eher nachrangig. Es gibt aber einen Unterschied zwischen den Städten: Rostock wirkt um einiges stimmungsvoller gefilmt als Magdeburg – was aber an der dritten Stadt liegt, Warnemünde bei Rostock. Obwohl der Film mit dem Meer nichts zu tun hat, fliegt die Kameradrohne schon mal über den Jachthafen, in dem auffallend wenige Boote ankern oder man sieht eine Boxschule oder Garagenreihen oder auch von außen eine Ökofirma. Das alles wirkt einprägsamer als die Settings in Magdeburg.
Finale
Auch in der Reihe Tatort kam es bereits zu Doppelfolgen („Kinderland“, „Ihr Kinderlein kommet“ aus Köln / Leipzig, in Hannover wurde für Kommissarin Lindholm ebenfalls ein Zweiteiler gebastelt). Die Köln-Leipzig-Konstellation ist „Wendemanöver“ deshalb ähnlich, weil man dort ebenfalls die Möglichkeit genutzt hat, zwei Städteteams für drei Stunden Spielzeit zu vereinen, ein Städte-Crossover gab es erstmals 1990 im Tatort-Polizeiruf-Mix „Unter Brüdern“ mit Schimanski-Thanner und Fuchs, der Film dauerte aber nur die üblichen 90 Minuten.
„Wendemanöver“ ist also ungewöhnlich bezüglich der Zahl eingesetzter Ermittler_innen und Episodenrollen, aber das betrifft nicht seinen Aufbau und die Art von Verbrechen, die gezeigt werden, denn das Stasi- und das Treuhandthema waren 2015 nicht mehr gerade neu, auch der illegale Waffenexport, hier als Fortsetzung früherer wirtschaftlicher Machenschaften, ist vor allem deshalb kein Knaller, weil er ziemlich abstrakt bleibt. Im Grunde ist es auch ein konventioneller Whodunit, angereichert durch die persönliche Einbindung einiger Kommissar_innen und durch die Einschließung Jennys in den Lkw zum Ende, die für ein dramatisches Finale sorgt, zu dem sich alle Polizist_innen wieder einfinden. Einzeln betrachtet, ragt das nicht gerade heraus und führt zu dem Eindruck, es mit einem etwas bemüht inszenierten Werk zu tun zu haben. Wenn man den Aufwand für den Film bedenkt und wie die ARD ihn als eine Art Sensation beworben hat, bleibt er doch etwas hinter den Erwartungen zurück.
7/10
*Die Rezension wurde bereits im April 2019 verfasst und wird textlich weitgehend unverändert vorgestellt, obwohl dieser Stand nicht mehr aktuell ist.
© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
| Doreen Brasch | Claudia Michelsen |
| Alexander Bukow | Charly Hübner |
| Katrin König | Anneke Kim Sarnau |
| Jochen Drexler | Sylvester Groth |
| Anton Pöschel | Andreas Guenther |
| Volker Thiesler | Josef Heynert |
| Henning Röder | Uwe Preuss |
| Uwe Lemp | Felix Vörtler |
| Mautz | Steve Windolf |
| Veit Bukow | Klaus Manchen |
| Ferdinand Frey | Cornelius Obonya |
| Herbert Richter | Jörg Gudzuhn |
| Jenny Richter | Zoe Moore |
| Moritz Richter | Peter Schneider |
| Siegfried Wagner | Michael Kind |
| Kai Förster | Thomas Fränzel |
| Musik: | Wolfgang Glum, Kai Uwe Kohlschmidt und Warner Poland |
| Kamera: | Jonas Schmager |
| Buch: | Thomas Kirchner, Eoin Moore, Anika Wangard |
| Regie: | Eoin Moore |
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