Titelfoto (c) SWR (Dreharbeiten)
Die Fassade vom Knast 4.0
In ihrem 14. Fall ermitteln die beliebten Stuttgarter Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) gegen einen Tatverdächtigen – der im Gefängnis sitzt. Denn es sieht so aus, als ob Holger Drake seine Frau umgebracht hat, obwohl er in der hochmodernen und als ausbruchsicher geltenden Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Zuffenhausen einsitzt. Drake ist kein Freigänger, aber der Knast ist eine eigene, verschwiegene Welt: Also muss einer der Kommissare in diese Welt eintauchen, um sie zu verstehen. Die Staatsanwaltschaft beschließt, dass KHK Thorsten Lannert sich der Sache annehmen und dort als JVA-Beamter arbeiten wird. Was dabei herauskommt, beschreiben wir in der -> Rezension.
Handlung
Ein besseres Alibi gibt es gar nicht: Holger Drake, der Hauptverdächtige im Mordfall Irina Meinert, saß zur Tatzeit im Gefängnis. Wie also konnte seine DNA an den Tatort gelangen? Thorsten Lannert und Sebastian Bootz ist klar: Entweder stimmt etwas nicht mit der Spurenlage – oder mit dem Gefängnis. Für Letztes spricht, dass zwei Jahre zuvor ein anderer Mordfall unaufgeklärt blieb, weil der Hauptverdächtige im selben Gefängnis einsaß. Von außen ist keine Lücke im Vollzugssystem nachweisbar. Deshalb bekommt Thorsten Lannert als Peter Seiler einen Job im Vollzug und soll nun undercover herausfinden, was in dem Knast nicht stimmt.
Je mehr er dort akzeptiert wird, desto deutlicher wird, dass sich korrupte Strukturen ausgebildet haben. Von innen versucht Lannert, an Sicherheitschef Franke heranzukommen, von außen macht Bootz Druck auf Holger Drake. Und währenddessen wächst die Gefahr, dass Maulwurf Lannert enttarnt wird.
Rezension (mit Spoiler)
Die erste Assoziation? Wir leben immer mehr in einer Welt der Fassaden und nehmen die Realität außerdem sehr ausschnittsweise wahr. Da überrascht es nicht, dass eine Frau von ihrem Ex umgebracht wird, obwohl das technisch gar nicht möglich sein dürfte, wo er doch hinter Schloss und Riegel sein Dasein fristet. Dasein fristet? Die Gänge im neuen Stuttgarter Knast sind breiter als in einer Firmenzentrale, die Zellen gemütlicher als manche Bleibe in einer Großstadt und alle, die im Knast sind, auf welcher Seite auch immer, sind nicht etwa auf Konfrontationslinie, sondern arbeiten zusammen. Aber wir sollen doch kooperieren, das ist modern. Ein angenehmes Leben zum Nutzen aller ist es doch, woran uns liegt.
Im Gefängnis Stuttgart-Zuffenhausen herrscht ein Team-Spirit, wie man ihn draußen selten antrifft. Kein Wunder, dass sie dieses Gefängnis in freundlichen, warmen Farben abgelichtet haben, dass bis auf gelegentliche Gewaltausbrüche dort so dezent miteinander umgegangen wird. Wahrhaft und ganz im Sinne des guten Images: Es dringt kein Ton nach draußen – zumindest nicht bis zu der Eskalation, die Lannert und Bootz aufgrund ihrer nachhaltigen Ermittlungen provozieren.
Wirkt die Gefängniswelt so oberschichtig? In gewisser Weise schon. Wir finden das sehr gut gemacht – es muss nicht mies und dreckig zugehen, damit die übelsten Sachen passieren. Der Knast spiegelt wieder, wie hinter immer schöneren Fassaden immer dreckigere Geschäfte ablaufen, wie man sich einrichtet in einem Leben, das nur noch vom schönen Schein bestimmt ist. Alles wird in echt wirkenden Farbe überwacht, und doch ist alles nur Schein, weil man alles manipulieren kann. Das entspricht unserer Sicht auf die der Wirklichkeit. Die Gefängnisdirektorin vertritt die Anstalt nach außen und will Ruhe. Sie gibt dem Sicherheitsschef freie Hand und im Grunde führt er die Einrichtung, die er immer mehr zum lukrativen Unternehmen entwickelt, dessen Erfolg auf gegenseitigen Abhängigkeiten beruht. Erst dadurch, dass mit Lannert ein Fremdkörper eingeschleust wird und Informationen nach draußen dringen, fängt das System an, sich selbst zu zerstören, denn es ist auf der Möglichkeit aufgebaut, einander zu erpressen, und nicht auf echter Freundschaft oder Kameradschaft, nicht aus dem Wir-Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft.
Konnte die Umsetzung dieses Themas gefallen? Der Stil ist unspektakulär und schauspielerisch ist alles gut. Gut, nicht sehr gut. Dummerweise haben wir heute morgen schon einen anderen Tatort rezensiert, den Artikel veröffentlichen wir zu einem anderen Zeitpunkt („Wo ist Max Gravert“ aus Frankfurt mit dem Team Dellwo / Sänger). Im Vergleich merkt man den Unterschied zwischen einer annehmbaren und einer hervorragenden Inszenierung – manchmal wirken die Leute in „Freigang“ ein wenig steif. Thorsten Lannert verliert ziemlich schnell einen Mit-Vollzugsbeamten, mit dem er sich angefreundet hat, weil dieser dem Druck des Systems nicht mehr gewachsen ist und sich umbringt. Im weiteren Verlauf stellt sich dessen Frau als Lockvogel zur Verfügung und genau so wird es ausgesprochen, anstatt dass Bootz einfach sagt: „Die macht das!“, als Lannert zweifelt, ob sie loyal ist. Und dann etwas mehr Ausdruck in die Stimme und eine klein wenig mehr Varianz bei Mimik und Gestik. Das ist nur eine Stelle, die uns aufgefallen ist, es gibt mehr davon. Es ist eben alles sehr dezent gefilmt, da kann schon mal die Grenze zum Underacting überschritten werden.
Von der Anlage ist der Film ein Howcatchem, dann ein Thriller. Dass man DNA von Drake bei seiner toten Frau findet, ist super, niemand muss mehr in eine andere Richtung ermitteln und alle können sich voll auf diesen Mann konzentrieren und darauf, wie es passieren konnte, dass jener Gefängnisinsasse offenbar eine alte Rechnung mit der fremdgehenden Irina begleichen konnte (offenbar sind beide deutschrussische Spätaussiedler, Drake spricht ja trotz seines inländisch klingenden Namens gebrochen). Das einzige irritierende Element ist der Ex-Insasse Ülker, er dient der Bewusstmachung: Den Zuschauer doch noch ein wenig zu berätseln, nachdem sonst relativ klar ist, dass im Gefängnis alle Dreck am Stecken haben und die Spannung nur noch darauf beruhen kann, wie man denn jetzt dieses System zum Zusammenbruch bringen kann.
Apropos Spannung! Trotz der kreislaufschädigenden 35 Grad an diesem Pfingstmontag* hatten wir keine Atemnot und auch keine Mühe, dem Geschehen zu folgen. Das ist ja auch nichts Schlechtes, denn bei dem Versuch, das Publikum mit besonders vertrackten Fällen zu beeindrucken, verlieren Drehbuchautoren häufig den Überblick und dann wird’s richtig unspannend. Das trifft hier nicht zu. Und die Ruhe, mit der alles gefilmt wird, ist ein schöner Kontrast zu Gefängnisfilmen, wie wir sie kennen, in denen viele wilde Männer viele wilde Dinge sagen und tun. Bis auf die Misshandlung eines Mitgefangenen, der nicht zum System gehört und sich über Ungleichbehandlung beschweren will, ist das Innenleben dieses Knastes so gesittet, dass man auf den Trichter kommt, besser ein solche System, wie es hier gezeigt wird, als keines, denn so wird immer Luft rausgelassen, ohne dass es normalerweise jemand mitbekommen kann.
Ob es realistisch ist? Nein. Ein solches Modell würde schnell auffliegen, wenn alle Insassen des Nächtens ausrücken würden, um den einen oder anderen Mord zu begehen. Eine schöne Idee, aber dadurch, dass es nicht um irgendwas geht, sondern um das maximale Kapitalverbrechen, ist sie eben nicht sehr wirklichkeitsnah. Würden die Knackis nachts Projekte wie Einbruchdiebstähle in Villenvierteln durchziehen und dann die Sore brüderlich mit den Justizbeamten teilen, das hätte Schmiss und ist sicher auch schon gefilmt worden. Aber dummerweise müssen Tatorte immer Tote haben. Das führt dazu, dass zwar das Begünstigungssystem selbst plausibel ist, aber das, was draußen passiert, nicht in gleichem Maße. Es gab außerdem bereits einen ähnlichen Fall mit dem Herrn Üker – der nie ausermittelt wurde.
Wir wissen, dass Täter auf Freigang durchaus rückfällig werden, aber das ist das Risiko des offiziellen, des abgesegneten Rauslassens. Hier liegt ein solcher planmäßiger Freigang nicht vor, und das Risiko liegt darin, dass alle auffliegen, weil die Begünstigungen zu weitreichend oder die Begünstigten zu rudimentär veranlagt sind – wie etwa Drake, der meint, es käme niemand darauf, dass er offenbar heimlich aus dem Gefängnis durfte. Was wäre aber, wenn draußen jemand den Mann sehen würde, der ihn kennt und weiß, dass er einsitzt? Dieser Gedanke bespielt dieselbe Ebene ab wie die Tatsache, dass mal wieder ein stadtbekannter Kommissar undercover eingesetzt wird.
Schön, keiner der Knackis in Zuffenhausen wurde durch seine Ermittlungen hinter Gitter gebracht, aber schon recht unwahrscheinlich. Und das Personal? Kaum vorstellbar, dass die Leitung einer JVA in einer Stadt nie mit der Mordkommission zu tun hat. Wir fanden diese diese Undercover-Einsätze im bekannten Umfeld, die bei Lannert besonders häufig vorkommen, immer schon kritisch. Wer darüber instruiert ist, wie der Kommissar seine Familie verloren hat, der wundert sich besonders darüber, dass gerade er da immer wieder ran muss. Aber vielleicht ist das auch eine Art Traumabewältigung, denn jetzt hat er ja keinen Anhang und kein Privatleben mehr. Witzig in dem Zusammenhang die Bordellszene: Anfangs weiß man nicht, dass hier nur ein Treffpunkt mit dem Kollegen Bootz arrangiert wurde und denkt, man entdeckt eine neue Seite an diesem Kommissar, der keine feste Beziehung pflegt.
Wir bekommen immer den Eindruck vermittelt, die Cops, die ja fast alle keine intakte Familie haben, sind bis auf selten zu besichtigende Abenteuer lustfrei. Wenn man schon Psychopathen als Polizisten zeigt, wär’s doch allemal denkbar, auch endlich zu zeigen, dass diese Männer, die jeden Tag unter Strom stehen, keine Mönche sind. Und Familienprobleme haben diejenigen, die Familie haben, ja auch. Anwaltsbrief zwecks Scheidungsvorbereitung bei Bootz, bei den JVA-Kollege alle möglichen Formen von Problemen. Egal, Lannert hat einen Porsche, mit dem er am Ende auch die ganze Kolonne zügig überholt, in der die JVA-Freunde sitzen und in die U-Haft verbracht werden.
Finale
Ein ordentlicher Krimi alles in allem. Humorfrei, wie Lannert nun einmal ist (Bootz auch, spätestens seit dem Abgang seiner Frau), wir lernen, dass im Knast alle eine Art Ersatzfamiie sind – und wie in einer richtigen Familie weiß kein Mitglied so richtig, was der Rest des Clans tut und will es auch nicht wissen – die anderen kungeln miteinander und erpressen einander. Warum sollte es hinter Gittern anders sein als draußen? Wenn man einen Moment an andere Tatorte der jüngeren Geschichte denkt, in denen der halbe Staat in die Mordfälle verstrickt ist, wirkt die JVA-Connection eher schwäbisch-handwerklich, recht übersichtlich und am Ende wird alles geklärt und werden alle ihre Strafe bekommen. Auch da ist „Freigang“ untadelig im Sinne von nicht zu modern. Er versorgte die Traditionalisten unter den Tatort-Guckern mit einer korrekten Auflösung in einer Zeit, in der die offenen Enden immer mehr in Mode kommen.
7,5/10
© 2019, 2014 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Bulkin – Ljubisa Lupo Grujcic
Carsten Scheffler – Matthias Ziesing
Daniel Vogt, Gerichtsmediziner – Jürgen Hartmann
Gellert – Christian Koerner
Hauptkommissar Sebastian Bootz – Felix Klare
Hauptkommissar Thorsten Lannert – Richy Müller
Kriminaltechnikerin Nika Banovic – Mimi Fiedler
Prostituierte – Alena Bacher
Ramona – Petra Berndt
Staatsanwältin Emilia Àlvarez – Carolina Vera
u.a.
Drehbuch – Martin Eigler, Sönke Lars Neuwöhner
Regie – Martin Eigler
Kamera – Andreas Schäfauer
Musik – Johannes Kobilke
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