Sechs Tage ist es her, dass die EZB entschieden hat, ihre außergewöhnliche Zinspolitik nicht nur beizubehalten, sondern zu verschärfen. Wir haben uns bereits hier damit auseinandergesetzt – nicht auszuschließen, dass wir das noch häufiger tun werden, denn es geht um viel mehr, als eine Erhöhung der Strafzinsen für Bankeinlagen bei der EZB von 0,4 auf 0,5 Prozent auf den ersten Blick ahnen lässt.
Wir wollen heute unsere Argumentation weiterführen und nehmen dabei auf nicht untypischen Beiträge anderer Publikationen in Bezug – auch, um Kritik zu üben.
I. Nachdenkseiten, Jens Berger, „Zinspolitik in der Sackgasse“.
Was den Lesern vieler Mainstream-Publikationen nicht bekannt sein dürfte: Die NDS sind eines der führenden Alternativmedien und große Kohorten von Menschen, die sich als im linken Spektrum verortet ansehen, beziehen dort ihre „Informationen für die kritische Masse“. Vieles, was dort geschrieben wird, vor allem vom Gründer Albrecht Müller, kann in der Tat nachdenklich machen – auf verschiedene Weise.
Wie aber werden die Leser ökonomisch instruiert und wird der Horizont von „kritischen Linkslesern“ mit Beiträgen wie „Zinspolitik in der Sackgasse“ von Jens Berger erweitert?
Wir haben Zweifel. Die Nachdenkseiten zählen zu den klassisch linkskeynsianisch orientierten Publikationen, geprägt von ihrem Gründer, der Politik mit Willy Brandt gelernt hat. Die Nachdenkseiten geißeln seit Jahren die deutsche Austeritätspolitik, wie auch linke (bzw. nicht neoliberale – nicht zu verwechseln mit dem Marxismus nahestehende) Wirtschaftswissenschaftler.
Immerhin kommt es zu einer Bewertung: Die Zinspolitik ist in einer Sackgasse gelandet. Aber warum? Dazu unten mehr.
II. ver.di: Minuszinsen? Investieren!
„Die Europäische Zentralbank will ihre Politik der Null- bzw. Minuszinsen fortsetzen. BILD stellt EZB-Chef Draghi nun als Dracula dar, der die Konten der Sparer leersauge. Tatsächlich will er so verhindern, dass sich ein Teufelskreis aus sinkenden Preisen, schrumpfender Wirtschaft, Pleiten und Arbeitslosigkeit entwickelt. Denn der wäre viel schlimmer als Nullzins auf Ersparnisse.“
Das eigentliche Problem ist die schwache Wirtschaftsentwicklung und die falsche, neoliberale Politik in der EU. Die Löhne wurden gedrückt, die Staatsausgaben gekürzt, Investitionen heruntergefahren. Die EZB war zu Niedrigzinsen und Wertpapierkäufen gezwungen, um den Euro zu retten und eine tiefe Krise zu verhindern. Jetzt schwächelt erneut die Konjunktur. Doch da die Zinsen schon auf Null sind, kann die Zentralbank nicht mehr viel dagegen tun.
Diese Analyse ist fast deckungsgleich mit derjenigen der NDS. Ebenso das Rezept:
„Wirklich helfen würde eine kräftige Steigerung der Nachfrage durch höhere Löhne und steigende Staatsausgaben. Dann könnten auch die Zinsen wieder steigen. Nach der Lohndrückerei und Kürzungspolitik der 2000er Jahre gibt es einen großen Investitionsstau und Personalmangel in vielen Bereichen. Und einen riesigen Bedarf für den Klimaschutz. Zugleich hat Deutschland großen finanziellen Spielraum: Es gibt Haushaltsüberschüsse, und der Staat verdient sogar noch an Minuszinsen, wenn er Kredit aufnimmt. In dieser Lage sind Schuldenbremse und „schwarze Null“ besonders daneben und schädlich. Investieren ist das Gebot der Stunde!“
Das Rezept dagegen ist quasi im Maßstab Eins zu Eins jenes, das die NDS anbieten. Mehr dürften Gewerkschaftsmitglieder nur erfahren, wenn sie in wirtschaftspolitischen Zirkeln verortet sind.
III. Unsere Sicht
Wir stimmen zu, dass die Zinspolitik in einer Sackgasse gelandet ist. Wir meinen ebenfalls, die Staatsinvestitionsquote ist zu niedrig. Aber nicht wegen des Primärziels, mit ihrer Erhöhung die Konjunktur kurzfristig anzukurbeln, sondern, weil die Infrastruktur auf zukunftsgefährdende Weise verrottet, vor allem die Bildungsinfrastruktur im primären und sekundären Sektor – auch für den tertiären könnte man wesentlich mehr tun, als mit viel Brimborium eine Exzellenzinitiative zu starten, die sich im internationalen Vergleich mickerig ausnimmt. Das Geld, um mehr zu tun, ist zweifellos vorhanden. Bildungspolitik ist Gestaltungspolitik und kaum irgendwo kann man so rasch und eindeutig gestalten wie dort, ohne den Aufwand zu übertreiben. Vielleicht sogar eine Inklusion erarbeiten, die zukunftsfähig ist, und diese ist aufgrund der Kombination von „für alle und mit allen“ und „Stärken gezielt fördern“ unter einem Dach sehr teuer.
Nach John Maynard Keynes antizyklisch handeln heißt: Bei schwacher Konjunktur die Staatsausgaben steigern. Das berühmteste Beispiel dafür ist die New-Deal-Politik Franklin D. Roosevelts ab 1933, mit welcher er versuchte, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in den USA in den Griff zu bekommen. Damals wurden große Infrastrukturprojekte angeschoben und damit Arbeitsplätze geschaffen.
Nach Ansicht vieler Wirtschaftswissenschaftler hatte die damals noch gewissermaßen in der Lernphase befindliche FED (das Zentralbanken-System der USA) die Zinsen zu spät gesenkt und damit die Krise verschärft – sie hatte nicht erkannt, dass die krisenbedingte Deflation bei gegenüber der Vorkrisenzeit noch unveränderten oder nur wenig ermäßigten Diskontsätzen gewaltige Realzinsen entstehen ließ. Die Ansichten der Keynesianer sind auch aus jenen Erfahrungen und daraus resultierenden Anschauungen begründet.
Die zweite Säule des traditionellen Krisenbewältigungsmodells ist die Steigerung des privaten Konsums. Im Zuge des New Deals wurde in den USA beispielsweise ein nationaler Mindestlohn eingeführt. Er betrug zwar nur 0,25 Dollar pro Stunde, aber das war ein Fortschritt für viele, die durch die Wirtschaftskrise im wörtlichen Sinn den Boden unter den Füßen verloren hatten und sich als Wanderarbeiter zu miserablen Konditionen verdingten, um schlicht zu überleben. Dies betraf beispielsweise viele Farmerfamilien, denn zur durch den Börsencrash von 1929 ausgelösten Great Depression kam eine Dürrephase im Mittleren Westen, die viele landwirtschaftliche Existenzen vernichtete.
Nach heutigem Maßstab wären die damaligen 25 Cent nur 4,45 Dollar. Wir weisen deshalb immer wieder darauf hin, dass die reine Betrachtung der Inflationsrate verzerrend ist – viele wichtige Güter sind seit damals erheblich stärker im Preis gestiegen. So kostete etwa 1930 ein durchschnittliches Haus 3.845 Dollar, 2013 waren es 289.500 Dollar. Während die „Federal Minimum Wage“ also um das 29-fache (bereits seit 2008 unverändert 7,25 Dollar) stieg, sind Häuser vor einigen Jahren bereits 79-mal teurer gewesen als kurz vor der Einführung des Mindestlohns.
Bei uns könnte also nach diesem Verständnis der Mindestlohn angehoben werden, DIE LINKE fordert seit Jahren 12 Euro, nach Inflationsbereinigung müssten es mittlerweile ca. 13 Euro sein. Adäquat müssten die ALG II-Sätze entweder relativ stark angehoben oder durch ein mehr auf Anreizen aufgebautes System ersetzt werden, was den gleichen Effekt für diejenigen haben sollte, die diese Anreize nutzen. Zu finanzieren wäre das über die Wiedererhebung der Vermögensteuer. Kein fiskalisches Problem, so gesehen, also aufkommensneutral, im weiteren Sinne zweckgerichtet, weil es die Einkommenunsgleichheit zwischen Arbeitenden und Kapitalbesitzenden etwas verringern würde, und nicht zwingend mit der Aufgabe der Austerität verbunden, sondern vermutlich aufkommensneutral.
Zweifellos würde der Konsum preiswerter Güter dadurch steigen. Kaum aber der Konsum hochwertiger Güter. Vielleicht würden sich manche Menschen dann besser ernähren oder nicht bei Primark kaufen. Das ist ein Effekt, den man nicht unterschätzen sollte, aber wird dadurch die Konjunktur nachhaltig stimuliert, wenn die Unternehmen nicht mehr investieren wollen?
Wir müssen an dieser Stelle innehalten, denn hier kommt der Punkt, an dem die Nachdenkseiten aufhören, nachzudenken. Es ist der Punkt, den ver.di gar nicht erst in den Blick nimmt. Es ist schlussendlich der Punkt, welcher während der Great Depression und auch viele Jahre später keine Rolle gespielt hat: Die Endlichkeit der Dinge, die auch durch die gegenwärtige EZB-Politik konsequent ausgeblendet wird.
Der negative Einlagenzins für Banken bei der EZB wird im Beitrag gar nicht erwähnt, hat aber eine große Bedeutung. Er zwingt Banken tatsächlich dazu, Geld unter die Leute zu bringen. Aber wo fließt es hin, wenn die Sparer sparen, obwohl sie keine Zinsen bekommen und die Unternehmen und der Staat ebenfalls zu wenig investieren? Leider verschweigen beide Beiträge, dass durchaus Geld in Umlauf gebracht wird, dabei wäre die Erwähnung dieser Tatsache besonders wichtig. Die starke Geldmengensteigerung ist ein Faktum, trotz der niedrigen Ausgaben der drei oben genannten Stellen.
Die im Umlauf befindliche Geldmenge (M1 bis M3) sagt zwar nicht direkt etwas über die Kreditvergabe aus, weil die laufenden Bankkredite davon nicht erfasst sind, aber lehrbuchmäßig ist eine steigende Geldmenge ein Stimulans für die Konjunktur – im Grunde aber nur in der Form, dass keine „Geldlücke“ entstehen sollte. Zu viel Geld im Umlauf heizt nach der traditionellen Sichtweise die Inflation zu sehr an. Gegenwärtig bleibt die Inflation trotz starken Geldmengenanstiegs niedrig, auch das ist keine lehrbuchhafte Situation.
Nur während der „offenen“ Krise 2008 und in den Folgejahren gab es einen kurzen Rückgang der Geldmenge und dann eine etwas geringere Steigerung als vor der Krise. Insbesondere seit 2014 wächst die Geldmenge aber wieder stark an. Wie geschrieben, sie ist ein Indiz, keine Messgröße für die Investitionsmöglichkeiten.
Nun konstatieren die Nachdenkseiten, dass die traditionelle Sichtweise irgendwie nicht mehr funktioniert, sie stellen das anhand der Tatsache fest, dass trotz historisch niedriger Zinsen eben zu wenig investiert wird. Stimmt das aber?
Bezüglich der drei genannten Stellen ist es richtig. Dass dies auf eine Systemklemme hindeutet, ist ebenfalls richtig. Was aber machen Geldanleger?
Alles unters Kopfkissen packen? Die Aktienmärkte verharren seit einiger Zeit, Festverzinsliches kann angesichts dieser Rahmenbedingungen nicht mehr rentieren, sondern dient nur noch als Safe Haven, wenn der Schuldner eine gute Bonität hat, wenn die schwach ist, kann noch Rendite erzielt werden, aber die Sicherheit ist zu gering für viele institutionelle Anleger, die Vorgaben bezüglich des Risikoverhaltens haben.
Die Geldanleger legen sehr wohl an, denn die Banken sind unter Druck, sie müssen das Kreditvolumen hoch halten, weil sie Verluste machen, wenn sie Geld bei der EZB parken. Nur fließt das Geld nicht in geplanter Höhe in Unternehmen, wie es nach traditioneller Sichtweise sein müsste. Sondern in Immobilien. Der Sinn, die Kredittätigkeit nicht zum Erliegen kommen zu lassen, wird also erfüllt.
Damit verpassen die Nachdenkseiten, verpasst ver.di und verpassen viele andere Kommentatoren ein weiteres Problem: Die Allokation von Kapital durch Produktion und Verkauf wird immer schwieriger, die Investitionen in diesen Bereich immer unsicherer. Das ist ein Problem des Wirtschaftssystems, das vor allem dadurch verursacht wurde, dass Globalisierung als Aufforderung zu immer weiterer Preisdrückerei verstanden wurde. Irgendwann ist das Ende der Fahnenstange erreicht, wächst die Produktivität am unteren Ende der technologische Komplexität kaum noch und man muss riesige Mengen von billigen Gütern herstellen, um noch etwas zu verdienen. Immer mehr Konsumprodukte, die in den ersten Jahren ihrer Existenz noch High- oder Midtech waren, werden mit der Zeit aber zu Lowtech.
Damit kommen wir zu einem Problem, das Keynesianer nicht lösen können, wenn sie nicht neue Aspekte hinzudenken, nicht die heutigen Erfordernisse berücksichtigen – Neoliberale übrigens erst recht nicht, ihnen fehlt sogar der Sinn für periodisch notwendige staatliche Marktsteuerung.
Vor allem muss endlich in die Köpfe, dass die immer stärkere Anheizung des quantitativen Konsums keine Lösung mehr ist. Wie viele Ressourcen sollen noch verbraucht, wie viel Müll noch erzeugt werden? Ein nachhaltiger Konsum kann zwar durch qualitatives Wachstum punkten, weil er pro erzeugter Einheit teurer ist, mithin Rohstoffe fairer eingepreist sind, aber schon dies erfordert eine Neuausrichtung weiter Bereiche der Wirtschaft inklusive Rückkehr zu mehr regionaler Produktion und eine Abschwächung der umweltbelastenden weltweiten Warenströme – davon sind wir gegenwärtig weit entfernt. Von echtem Degrowth gar nicht zu reden und auch nicht zu reden von der Schnapsidee, die in vielen Hirnen geistert: Dass modernes Weltdenken sich vor allem in immer weiter zunehmender Waren- und Menschenmigration auszudrücken hat. Dass beides miteinander zusammenhängt, ist hingegen evident.
Würde die gegenwärtige Ausrichtung der Globalisierung, die auf ein immer weiteres Auspressen der Ärmeren durch die Reichen hinausläuft, denen bezüglich der Profitraten die Felle davonschwimmen, nicht viele Menschen entwurzeln, die in Wirklichkeit nicht um „Werte“, sondern um Ressourcen geführten Kriege eingeschlossen, würden die Wanderungsraten sinken.
Profitraten? Felle davonschwimmen? Kehren wir zurück nach Deutschland und zu den Immobilien. Die Renditen am Immobilienmarkt sinken immer weiter, weil die Mietpreise selbst durch den rüden Auftrieb der letzten Jahre nicht so stark angehoben werden können, wie die Boden- und Kaufpreise steigen.
Wir erinnern uns: Unmengen von Geld fließen derzeit in die Immobilienmärkte. Nicht, weil die Konjunktur brummt und die Mehrheit real so viel mehr Geld in den Taschen hat als vor ein paar Jahren, sodass die Nachfrage im gehobene Segment bei Menschen, die in der Oberflächenwirtschaft arbeiten, rasant und in der Breite zunimmt, sondern, weil das Kapital keine anderen Anlagemöglichkeiten mehr findet, die es für einigermaßen sicher hält und die noch eine wahrnehmbare Rendite erwirtschaften. In Berlin liegen die Nettorenditen für neu erworbene sogenannte Core-Objekte im Wohnbreich derzeit zwischen 0,8 und 3,2 Prozent, der Durchschnitt um 2 Prozent. Das würde unter normalen Zinsumständen nicht ausreichen, um diese Häuser zu finanzieren. Wenn man das, was jetzt läuft, für solide und dauerhaft gangbar hält, muss man konsequenterweise auch das, was die EZB macht, für solide und durabel ansehen. Wir meinen: Es müssen mehrer exzeptionelle Faktoren dauerhaft zusammenwirken, damit das, was im Moment auf längere Sicht angelegt wird, tatsächlich dauerhaft funktioniert kann.
Der letzte große Hype, die Startups der digitalen Ökonomie, scheint vorbei zu sein. In Europa war dieser Hype ohnehin nie so ausgeprägt, dass er das Kapital hätte in dem Maße faszinieren können wie in den USA. Vielleicht wird die KI als letztes großes Ding des produzierenden, technologischen Kapitalismus noch das eine oder andere rausreißen, auf Kosten vieler Arbeitsplätze übrigens – aber dann ist definitiv Schluss mit dem Wachstum auf diese Sektor. Was soll noch kommen? Dass das Fliegen sich mit dem Zwischenschritt der Lufttaxis, wie einst bei den Benzindroschken, so verbreitet wie heute das Autofahren? Eine Horrorvorstellung, ökologisch und bezüglich der Lebensqualität.
Die Krise geht viel tiefer, als sie von den Nachdenkseiten in dem Kommentar beschrieben wird, den wir zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung gemacht haben. Sie geht viel tiefer als das, was ver.di ohne Fantasie darstellt.
Dabei hätte es eine Gewerkschaft, die nicht Arbeitnehmer*innen im produzierenden Sektor vertritt, relativ leicht, zu sagen: Dienstleistungen verursachen, wenn sie aufgewertet werden, keinen Mehrverbrauch an Ressourcen und sind zudem heutzutage besonders unterbezahlt. Aber wir haben den Verdacht, dass nicht nur Konsum genauso warenwirtschaftlich gesehen wird wie bei den Nachdenkseiten, sondern dass die massiven Investitionen in den Klimaschutz vor allem bedeuten, die Industrie so fit zu machen, dass sie immer weiter immer mehr produzieren kann, ohne mehr CO² auszustoßen.
Auch ver.di verschweigt konsequent die negativen Auswirkungen der Negativzinsen auf Mieter*innen. Vom 22. bis 29. September findet in Leipzig die ver.di-Jahreskonferenz statt. Bezahlbares Wohnen wird dabei gewiss eine Rolle spielen – aber wird dabei der Einfluss der Geldpolitik überhaupt angerissen werden? Oder darf das nicht, weil es das Narrativ stört, dass die EZB alles richtig macht, nur leider sind die Staaten zu dumm, die Chancen zu nutzen. Sicher, in der Konsequenz sieht es auf den ersten Blick anders aus: Würden die Staaten sie nutzen, spränge die Konjunktur wieder an, könnte man die Zinsen erhöhen, würde wieder Kapital in andere Anlageformen fließen.
Aber es bleibt das Problem, dass klassische Konjunkturpolitik heute unter umweltpolitischen Aspekten gesehen werden muss – und nicht diese das Sahnehäubchen auf der Wirtschaftspolitik sein dürfen, wenn gerade nichts Wichtigeres auf der Agenda steht. Wie zum Beispiel die Sicherung der Arbeitsplätze. In dem Fall halten wir es mit „Fridays for Future“, mit etwas anderen Worten: Auf einem Wüstenplanet sind viele Jobs obsolet.
Est hat leider Relevanz, dass ökologisch denkende Menschen oft wirtschaftlich zu unbeschlagen sind und sozial denkende Menschen von Publikationen wie den Nachdenkseiten oder den Gewerkschaften verkürzt informiert werden. Die Krise des Systems ist nicht mit dem kurzfristigen Anheizen des Massenkonsums und auch nicht mit ausschließlich mit mehr Staatsinvestitionen zu lösen. Letztere können Sinn ergeben, das wollen wir noch einmal festhalten – aber nur dann, wenn sie auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind. Diese Ausrichtung aber darf ebenfalls nicht die gegenwärtige Form des Billigkonsums fördern.
Was der Staat mehr konsumiert oder investiert, müsste, sofern dabei Rohstoffe verbraucht werden, sogar mit einer mindestens gleich starken Ermäßigung des privaten mengenmäßigen Konsums einhergehen, denn das Natursystem Erde darf nicht noch stärker belastet werden. Im Gegenteil. Das heißt aber, unter Berücksichtigung dieser wirklich simplen Erkenntnis – konjunkturell liefe das Handeln nach dieser Prämisse auf ein Nullsummenspiel heraus. Es sei denn, man beschränkt die stimulierenden Elemente auf Dienstleistungen und Waren, die nicht vermehrt angeboten, sondern teurer gemacht werden.
Das systemische Problem lässt sich nicht vorrangig mit Geldpolitik lösen, das weiß wohl auch die EZB, aber wenn Mario Draghi es sagen würde, käme es zu einem Beben der Märkte – und wer will am Ende seiner Amtszeit noch als Auslöser der nächsten heißen Krisenphase gelten, nachdem man sich jahrelang irgendwie durchgehangelt hat? In einem haben die Nachdenkseiten auf jeden Fall recht: Aus dem, was gegenwärtig zu sehen ist, spricht Ratlosigkeit. Das gilt auch für den verstärkten Wiederankauf von Staatsanleihen, der ebenfalls im Beitrag nicht erwähnt wird. Auch ver.di lässt diese Handhabe als Zeihen von Ideenmangel nicht erst in seinen Beitrag einfließen.
Solche Maßnahmen wirken eher zukunftsschädlich, denn hier wird Zeit gekauft, die wir in Wirklichkeit nicht haben, mithin eine Fiktion erstellt. Zeit, echte, positive Reformen hin zu einer genügsameren, solidarischeren, im Sinne einer Wiederherstellung des Einklangs von Mensch und Natur sogar konservativen Wirtschaftsweise zu verschieben und dabei schön langsam weitere Schritte zu gehen, haben wir einfach nicht mehr.
Derweil geht der kopflose Immobilienhype mit all seinen für die soziale Stadt desaströsen Erscheinungsformen immer weiter, bindet Ressourcen aller Art, verhindert dadurch gerade die Konzentration auf Zukunftsfelder – und die Mieter*innen haben das Nachsehen.
Diese Entwicklung belastet nicht nur den von Keynesianern und der EZB so erwünschten Konsum, der Mietenwahnsinn ist auch ein Warnzeichen über seine direkten Auswirkungen hinaus. Dass nun weltweit immer mehr in die Märkte eingegriffen werden muss, damit die Lage nicht vollends eskaliert, ist alles andere als jener Sozialismus, den in der Tat vom Nachdenken befreite Diskussionsteilnehmer im Anmarsch sehen, sondern eine Maßnahme, die dafür sorgen soll, dass das kapitalistische System nicht dadurch vorzeitig kollabiert, dass die Mehrzahl der Menschen keinen bezahlbaren Wohnraum mehr findet und der Konsum zum Erliegen kommt, weil immer mehr Anteile vom Nettoeinkommen fürs Wohnen aufgewendet werden müssen.
In Berlin, dessen Mieter*innen besonders unter dem Auftrieb leiden, ist der durchschnittliche Anteil der Wohnkosten am durchschnittlichen Netto allein von 2010 bis 2017 von noch erträglichen 28 Prozent auf ungesunde 40 Prozent und sogar auf 46 Prozent in 2018 hochgeschnellt. Wir melden Vorbehalte gegenüber der Validität dieser Zahlen an, aber prinzipiell fressen die Wohnkosten immer mehr von Lohn oder Gehalt.
Dass der Kapitalstau, der sich durch eine Marktabkühlung herausbilden wird, ebenfalls zur Krise führen kann, wenn sich nicht zugleich andere Anlagemöglichkeiten wieder mehr rentieren, ist evident. Aber gerade dafür wäre eine Anhebung der Zinsen notwendig.
Was wir nicht vergessen dürfen: Wer hat diese Krise gemacht? Sicher nicht diejenigen, die am stärksten von ihrem unterschwelligen Fortdauern seit 2008 und damit von der seit Jahren im Krisenmodus angelegten Geldpolitik betroffen sind: Die Mieterinnen und Mieter, Arbeitende mit normalen Einkünften, kleine Sparer, Immobilien-Selbstnutzer.
Die Krise ist der Ausdruck einer Unfähigkeit, endlich den Kapitalismus so umzusteuern, dass er eine Zukunft haben kann. Anstatt kluge, vorausblickende Beschränkungen zuzulassen, wird voll auf immer weitere Expansion gesetzt, wird gegen die Vernunft und die Vernünftigen gehetzt und damit der nächste Crash provoziert. Auch diejenigen, die Zweifel am neoliberalen Kurs der Weltwirtschaft anmelden, verkürzen die Argumente so, dass ihre Erzählungen dadurch nicht in Frage gestellt werden. Wenn das nicht ein Beleg dafür ist, dass dieses System zu fehlerhaft ist für eine Zivilisation, die sich nicht mehr viele Fehler bei der Behandlung ihrer Lebensgrundlagen erlauben darf, was dann?
Es wäre nicht schlecht, wenn vor allem linksgerichtete Publikationen diese Zusammenhänge mehr in den Vordergrund stellen würden. So schmerzlich ist das nicht, dass auch Linke von ewigen Wachstumsversprechen abrücken müssen. Sie sollten das eher können als jene, die vollkommen von der eigenen Gier beherrscht und benebelt werden und daher nicht als Teilnehmer an einem verantwortungsbewussten Diskurs in Frage kommen.
Wenn man es anständiger verteilt, wird weiterhin genug für alle da sein. Das ist ein weitaus besseres Ergebnis, als wir es angesichts unserer Wirtschaftsweise, des bei zu vielen Menschen schwach ausgeprägten sozialen Denkens und eines überwiegend mangelhaften Umweltbewusstseins verdient hätten.
Es wäre auch fürs Nervenkostüm der Zentralbanker gut. Die könnten sich entspannen, weil die Geldpolitik sich andere Ziele setzen könnte, als das für die Zukunft tödliche quantitative Wachstumsmodell mit dem allerletzten Einsatz am Leben zu erhalten.
© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
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