Crimetime 453 - Titelfoto © WDR, Uwe Stratmann
„Schwarze“ sagen die Grünen und dann immer diese Ärzte!
Im Jahr 2007 war das Münster-Duo Thiel / Boerne, nach fünf Jahren Zusammenarbeit, so ausgereift, dass man sich wieder einmal ein Stück weiter nach vorne wagen konnte.
Es gibt Parodistisches zur political correctness und ein wirklich schönes Spiel zwischen Thiel und Boerne, die aus dramaturgischen Gründen jetzt nicht nur in einem Haus, sondern auch in derselben Wohnung logieren.
Einen Fall gibt es auch, und der ist ziemlich um die Ecke konstruiert, verwirrt zwar nicht, ist aber auch nicht zwingend und schon gar nicht dynamisch aufgebaut. Man will sich doch nicht gleich das Leben nehmen, weil man – ein anderes Vergehen ist nicht erkennbar – einen manipulierten Totenschein ausgestellt hat. Aber so sind sie die Ösis, immer etwas nekrophil, obwohl aus Salzburg, nicht aus Wien. Wie auch die Grufties oder Gothics, die hier in erheblicher Anzahl auf einem Münsteraner Friedhof abhängen, des Nächtens.
Dass Ärzte aus überzogenem, pervertiertem Idealismus heraus über Leichen gehen, ist in der Tatortlandschaft schon beinahe ein Klischee. Himmel, diese freundliche Miene mit den wachen, dunklen Augen darin, die so viel vom Elend der Welt gesehen haben – so sehen in Wirklichkeit die Mörder aus! Dass muss man sich immer vor Augen halten, wenn man mal wieder den freundlichen Hausarzt oder den kundigen Orthopäden besucht, wie es in „Ruhe sanft“ die Staatsanwältin Wilhelmine Klemm tut. (Im Vorspann wird der Titel mit Ausrufungszeichen geschrieben, was grammatikalisch in allen schriftlichen Publikationen gibt es dieses Satzzeichen nicht, deshalb lassen wir es hier auch weg.)
Indessen kämpft Prof. Dr. Karl-Friedrich Boerne um eine Position in der internationalen Gilde der Rechtsmediziner, dabei wird festgestellt, Deutsche können nicht feiern, und Hauptkommissar Frank Thiels St. Pauli-T-Shirt, das er Tag und Nacht trägt, bis Boerne es wäscht, verliert daraufhin einiges an Größe.
Handlung
Der Bestatter Gerd Hönninger wurde im eigenen Unternehmen „Ruhe sanft“ mit einem Kerzenleuchter erschlagen. Die Münsteraner Pathologie vermeldet einen Einbruch. Und bei Kommissar Thiel läuft gerade alles drunter und drüber: Statt seinen Urlaub genießen zu können, muss er den egozentrischen Prof. Karl-Friedrich Boerne als Untermieter ertragen. Da sind Konflikte natürlich vorprogrammiert.
Auch die Spuren am Tatort deuten auf eine heftige Auseinandersetzung hin. Unter dringendem Mordverdacht steht Hönningers jüngerer Bruder Frank, der ebenfalls im Bestattungsunternehmen tätig ist. Offensichtlich hatten die beiden kein besonders gutes Verhältnis.
Im Internet stoßen die Ermittler derweil auf eine bizarre Totenkult-Seite. Unbekannte zeigen hier Fotos von Toten, denen man eine weiße Lilie auf die Brust gelegt hat. Diese Spur führt Kommissar Thiel zu Lucie Wulfes. Die junge Arzttochter hat Kontakt zur Münsteraner Gruftie-Szene. Ihr Vater Dr. Michael Wulfes ist geschockt. Hat seine Tochter etwas mit dem Mord an dem Bestatter zu tun?
Rezension
Wenn ein Arzt Dr. Wulfes heißt, wonach klingt das? Richtig. Nach Dreck am Stecken. Als der Tatort Nr. 659 mit dem Namen „Ruhe sanft“ 2007 gedreht wurde, war dies aber keine billige Anspielung, sondern geradezu prophetisch.
Billig sind hingegen einige Gags in diesem Film, daran führt kein Kritikerweg vorbei. Das Geplänkel um die Gothics, die „Schwarzen“, die für Thiel unaussprechlichen Afroamerikaner, die es in Deutschland nicht gibt, und die Grünen, die offenbar jenseits der politischen Korrektheit und ihrer toleranten Grundhaltung auf die einfache Lehre von Farben und Nichtfarben zurückgreifen, wenn es um die Bezeichnung ethnischer Gruppen geht, das ist schon ziemlich überzogen und stellt auch einen Wendepunkt in der bisherigen Thiel-Boerne-Chronologie von derzeit 21 Folgen dar.
Die Verflachung deutet sich bereits an und auch die Entwicklung des Thiel-Charakters hin zu einem wirklich mies gelaunten Proletarier, die man zuletzt (in „Zwischen den Ohren“ und „Hinkebein“) ein wenig zurückgenommen hat. In „Ruhe sanft“ ist allerdings das Verhältnis zu Boerne noch gerade so austariert, die Interaktion zwischen den beiden Hauptfiguren der Münster-Tatorte stellenweise sehr schön anzusehen.
Bei den Witzen in „Ruhe sanft“ wird überreizt, werden schroffe Kontraste herausgebildet, wie die Kette rauchende Staatsanwältin, die nebenbei zum Boxtraining geht und dabei verunglückt, sodass sie eine Halskrause tragen muss; dieser Hintergrund wird erst am Ende aufgelöst und ist beinahe spannender als die Lösung des Falls: Wer hat den Bestattungsunternehmer Hönninger ermordet?
Was den Film auszeichnet, ist die Ansammlung an szenischen Gags, wie etwa, als Thiel die erste Zigarette seines Lebens, so hat man den Eindruck, aus dem Fenster wirft und damit einen Schwelbrand in der Hofmülltonne auslöst (man sieht während eines Gesprächs in seinem Dienstzimmer, wie der Rauch beginnt, am Fenster vorbei durch den Hintergrund zu wabern). Es gibt einiges mehr an schön gefilmten Momenten, aber, wie in anderen Folgen etwa ab diesem Zeitpunkt, bleibt das Gefühl, dass etwas fehlt. Nämlich die Unterlegung des humoristischen Teils mit einem straffen, gut organisierten Plot.
Man wollte keinen Gag auslassen und das beeinträchtigt die Linie des Films, macht die Gothics, den Täter, die österreichische Gerichtsmedizinerin, die bei Boerne einquartiert wird, macht auch Silke Haller (Alberich) (Christine Urspruch, im Vorspann immer „ChrisTine“ geschrieben) und Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) mit ihrer Handy-Lovestory nicht nur zu Neben-, sondern zu Randfiguren. Es wirkt bei Letzterer, als solle mehr erzählt werden, es kommt aber nichts. Man kann natürlich auch sagen, die Staatsanwältin war dieses Mal dran, mit einem etwas umfangreicheren Part. Und Vaddern Thiel, der mitsamt seinem gerade vom W123 zum W124 mutierten Taxi von Boerne als Kongresschauffeuer gechartert wird.
Vaddern ist es auch, der uns auf eine weitere Schwäche vieler Münster-Tatorte lenkt: Nur, weil er eine Beobachtung gemacht hat, geht in den Ermittlungen überhaupt mal wieder etwas voran, nach einer Zeit des Stillstandes. Thiel und Boerne beschäftigen sich zwar mit dem Fall, aber mehr in der Form, dass das Publikum etwas zu lachen hat, als dass konsequent daran gearbeitet wird. Schon recht, Münster ist anders und wir wollen ja nicht als potenzielle Gothics gelten, die zum Lachen nicht mal in den Keller gehen, sondern dort todessehnsüchtige Gedichte lesen, wie auch nachts auf dem Friedhof.
Aber auch andere Tatortstädte haben mittlerweile durchaus ihren besonderen Humor entwickelt, ohne dass es gleich so darnieder geht mit dem kriminalistischen Teil. Etwas sparsamer, etwas weniger wäre mehr, würden wir den Machern in Münster zurufen, wenn „Ruhe sanft“ nicht bereits fünf Jahre alt wäre und es inzwischen nicht weitere Strebungen und Tendenzen im Herzen von Westfalen gegeben hätte.
Wir sind mittlerweile gut sortiert, was die Rezension von Thiel / Boerne-Fällen angeht, und da fällt etwas immer mehr auf: Es ist schwierig, die Mindest-Zeichenzahl aufrechtzuerhalten, die wir jeder Tatort-Rezension grundsätzlich beimessen (etwa 1.500 inklusive Texte aus Fremdquellen). Das kommt daher, weil es zu den einzelnen Fällen nicht immer viel zu sagen gibt und das Humoristische sowie die Grundkonstellation des Teams bis auf Nuancen gleich gestrickt sind.
Natürlich lässt sich darüber schreiben, wie hier, zweite Linie von „politisch unkorrekt“, die Mediziner durch den Kakao gezogen werden, die sich in Afrika engagieren, aber ihre persönliche Umwelt kaum wahrnehmen und zudem alles, was ihr Engagement behindert, rücksichtslos beiseite räumen. Kinder werden vernachlässigt und mit dem uralten „Erst mal was leisten“-Argument mundtot gemacht, sodass sie in die „Schwarze Szene“ abdriften, wo sie auf ähnlich milieugeschädigte Leidensgenoss*innen treffen.
Ehefrauen werden heimtückisch ermordet, wenn sie die Absolutheit des ärztlichen Auslands-Engagements anzweifeln. Warum eigentlich die Stiefmutter und nicht die richtige Mutter des Teenage-Grufties Lucie Wulfes (Alice Dwyer)? Vielleicht musste die richtige Mutter auch schon wegen Zweifeln am guten Zweck dran glauben, viele Jahre vor dem Mord an dem pingeligen und deshalb todgeweihten Bestatter Hönninger, der die Leiche von Frau Wulfes noch einmal untersuchen will, und zuvor der Stiefmutter – wer weiß das schon.
Komposition ohne Schnörkel ist wirklich nicht das Münsteraner Credo, wenn es um die Drehbücher geht, da kann man froh sein, wenn keine offensichtlichen Fehler drin sind, was wiederum bei so viel Dialog nicht verwunderlich wäre.
Fazit
Eine wirklich gute Kriminalkomödie wahrt für uns die Balance zwischen funktionierendem Humor und versierter Plotgestaltung. So sind zum Beispiel die englischen Vorbilder gestrickt, sparsam in den Mitteln, feinsinnig oder derb genau im richtigen Moment, wie etwa bei den die Leichenwagen-Szenen in „Ruhe sanft“, und so gelöst, dass man sich hinterher als Zuschauer nicht fragt, ob man mit einer hanebüchenen Story verschaukelt wurde, die von Gagschreibern stammt, aber nicht von gestandenen Krimi-Autoren.
Manche Münster-Tatorte zeigen dieses Muster auch, in unterschiedlicher Akzentuierung und Qualität. „Ruhe sanft“ hingegen verlässt sich, wie einige vor allem der Folgen seit 2007-2008, ganz und gar auf das gut eingeführte, allseits beliebte Kriminalkomiker-Duo Thiel (Axel Prahl) und Boerne (Jan Josef Liefers), Hauptkommissar und Rechtsmediziner in verrückter Tradition. Die Quoten geben den Machern immer noch recht, aber die Tatortgemeinde hat auch ein Gespür für Qualität. „Ruhe sanft“ bekam von vielen Fans gewiss einen Bonus wegen der vorherigen, teilweise sehr schönen Folgen. Fünf Jahre später bemerken wir aber, dass der Humor als alleinige Geschäftsgrundlage nicht mehr allen Fans des Münster-Teams ausreicht, man kann auch sagen, die Geduld beim Warten auf einen grandiosen Film, der die Register dieses Teams wirklich zieht, ist beinahe aufgebraucht.
„Zwischen den Ohren“ war dann auch eine gute Reaktion auf die Verflachungstendenz, „Hinkebein“ ist hingegen wieder in eher seichtes Fahrwasser geraten. Wir mögen die beiden urigen Typen Thiel und Boerne und ihre wunderbare Entourage aber immer noch so sehr, dass wir nicht von Krise sprechen möchten, sondern die Drehbuchautoren im Blick haben, wenn wir schreiben: In dieser Zitrone steckt noch viel Saft!
Unsere Wertung für „Ruhe sanft“: ruhige 7/10.
© 2019, 2012 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
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