Crimetime 457 - Titelfoto © BR
Kinder und Eltern, die noch Kinder sind
Im Tatort „Kleine Herzen“ sind nicht die Ermittler die Stars, sondern die von Janina Stopper gespielte Mutter, die ihren Sohn bereits mit 14 Jahren bekam und seitdem am Rande des Nervenzusammenbruchs lebt. Im Verlauf von nur zwei Tagen bricht dann ihre Welt zusammen. Ist dieses Sozialdrama ein guter Film und ein guter Tatort? Das klären wir in der -> Reension.
Handlung
Erstmals ohne Michael Fitz als Carlo Menzinger müssen Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec im BR-„Tatort: „Kleine Herzen“ auskommen und ermitteln als Kriminalhauptkommissare Franz Leitmayr und Ivo Batic in einem Mordfall, der sich um Kinder dreht, die selbst bereits ein Kind haben.
Anne Kempf ist mit 18 bereits Mutter des vierjährigen Sohnes Tim. Mit ihm lebt sie allein, weil Marc Sommer, der junge Vater, nur an die eigene Zukunft denkt: an einen erstklassigen Schulabschluss, an Fußball und an sein erhofftes Studium in Amerika. Marcs verwitweter Vater und die Eltern von Anne mischen sich in die Angelegenheiten ihrer Kinder am liebsten gar nicht ein.
Für Anne ist es nicht leicht, ihr Alltags-Chaos – ausgelöst durch unregelmäßige Arbeitszeiten, wenig Geld, die Verantwortung für ein aufgewecktes Kind und eine neue Romanze mit Hannes – in den Griff zu bekommen. Es gibt zwar einige Helfer, darunter auch Frau Glück, doch selten zur rechten Zeit. Der kleine Tim muss dann auch schon mal alleine bleiben. Nur Katrin, Marcs ältere Schwester, kennt die Probleme und mischt sich aus Sorge um den kleinen Tim immer wieder in Annes Angelegenheiten ein. Nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Anne ist Katrin tot.
Die Münchner Kriminalhauptkommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr müssen Stück für Stück die Umstände, die zu diesem Tod geführt haben, ergründen und geraten in ein feines Gespinst von Ausflüchten, Halbwahrheiten und Lügen – alles Auffangnetze überforderter Kinder, die selbst schon ein Kind haben. Dabei ahnen die Kommissare nicht, dass sich jenseits ihrer Ermittlungen ein weiteres Drama abspielt.
Rezension
Wir müssen einen Filter über den Film legen, weil wir permanent irritiert waren von der Farbgebung. Haben nur wir das so wahrgenommen, dass irgendetwas nicht stimmte und die Farben des Films viel hell und der Kontrast zu flach geraten war? Wir mussten den Fernseher neu einregeln, damit das Anschauen einigermaßen erträglich war. Am Gerät oder am Media Receiver oder an welcher Technik auch immer sollte es nicht gelegen haben, denn die Schnipsel der umgebenden Sendungen, die immer mit aufgezeichnet werden, wirkten normal. Nachdem wir also die Helligkeit stark vermindert, den Kontrast maximiert, die Kontrastverstärkung eingeschaltet und den Unterschied zwischen Innen- und Außenaufnahmen bezüglich des Farbtons einigermaßen ausbalanciert hatten, konnten wir uns der Handlung widmen, da waren aber leider schon einige Minuten vorbei und es fällt dann schwer, sich auf das Eigentliche einzulassen. Im Tatort-Fundus haben wir nachgeschaut, niemand dort fand an der Filmoptik etwas Auffälliges.
Auffällig war aber die Polarisierung, die das Werk hervorruft – auf eine sehr typische Weise: Ist ein Film, der überwiegend ein Sozialdrama darstellt und in dem das Verbrechen eine Nebenrolle zugewiesen bekommt, ein Tatort oder muss ein Film der Reihe immer spannend im Sinn von thrillig, wendungsreich, actionreich sein? Actionreich sind die meisten Tatorte ohnehin nicht, im Vergleich mit US-Serien und wenn es doch versucht wird, wie bei Tschiller in Hamburg, ist es den meisten Zuschauern – auch uns – wieder nicht recht.
Wir rechnen uns aber zu denjenigen, die es schätzen, wenn „Tatort“ auch Abwechslung bedeutet und wenn er Probleme der Gesellschaft aufnimmt und an ein so großes Publikum vermitteln möchte, wie kein anderes fiktionales Format im deutschen Fernsehen eines hat. 7,65 Millionen Menschen hat der Film bei seiner Premiere erreicht. Das ist zwar keine hohe Zahl für eine heutige Tatort-Erstausstrahlung, aber mehr als in der Regel bei Fernsehfilmen, die nicht im Rahmen der deutschen Premium-Krimireihe gezeigt werden. In diesem Zusammenhang muss bedacht werden, dass die Reihe nach dem Aufkommen des Privatfernsehens eine langjährige Krise durchlief, 2007 verfolgten im Durchschnitt nur 7,3 Millionen Zuschauer eine Premiere, in den 2010ern hat sich der Schnitt wieder auf über 9 Millionen gehoben, Kaum ein Team liegt unter 8,6 oder 8,7 Millionen, die sich für eine Erstausstrahlung interessieren, insbesondere die Münster-Tatorte, die fast ein eigenes Subgenre bilden, kommen auch gerne auf über 12 Millionen und heben damit den Gesamtschnitt deutlich.
Ein wenig Platz hatten wir für diese Betrachtung, weil keine sehr umfangreiche Handlung zu besprechen ist. Was „Kleine Herzen“ diesbezüglich bietet, ist auf angenehme Weise linear, insgesamt höchstens durchschnittlich, weil es vor allem zum Ende einige Schwächen gibt: Dass die Kommissare erst einmal nicht merken, dass der Junge Tim nicht bei Anna ist und wie schwierig es ist, dessen Aufenthaltsort zu ermitteln, obwohl er telefonieren kann, obwohl er versuchen könnte, Fenster in dem Erdgeschoss des Einfamilienhauses, in dem er sich befindet, zu öffnen, aber gar nicht auf die Idee kommt, soll die Dramatik etwas anheben, aber stört letztlich auch. Auch das Motiv des Vaters für die Nichtweitergabe seiner Beobachtung der Tötungshandlung von Anna ist ein bisschen arg an den Haaren herbeigezogen. Dafür muss der Junge, der eher mittelbegabt wirkt, ein Stanford-Stipendium angedichtet bekommen. Weil die Einreisevorschriften in die USA so streng sind dass jemand nicht rein darf, wenn der Ex-Lebenspartner, der nicht einmal mit der einreisewilligen Person verheiratet war, zu der keine offizielle Verbindung besteht,straffällig wurde. Nun ja. Im Zeichen des Kriegs gegen den Terror kann man schon mal etwas übertreiben.
„Für ihre Rolle der minderjährigen und überforderten Mutter in der Tatort-Folge Kleine Herzen wurde sie 2008 mit dem Nachwuchsförderpreis des Bayerischen Fernsehpreises und dem New Faces Award ausgezeichnet“, ist in der Wikipedia zu lesen.
Sehr bemerkenswert ist, dass sie tatsächlich so alt war wie ihre Figur, als die die Anna Kempf in diesem Film verkörperte, in der Regel sind derlei anpruchsvolle Rollen von bereits ausgebildeten Schauspieler_innen besetzt, Janina Stopper studierte aber logischerweise erst nach diesem Film. Ob dabei dieses große Naturtalent erhalten blieb, das sich in „Kleine Herzen“ zeigt, können wir nicht beurteilen, denn bis auf „Schwarze Tiger, weiße Löwen“ aus 2011, den wir bei der Premiere rezensiert haben, das ist also schon einige Zeit her, ist sie in der Reihe Tatort nicht mehr aufgetreten.
Die Art, wie sie hier die überforderte junge Frau spielt, die sich im Verlauf des Films immer mehr zum Kind zurückentwickelt, wie ein Nutzer des Tatort-Fundus hervorragend erkannt hat, ist so beeindruckend, dass wir keine Mühe hatten, trotz unseres oben geschilderten technischen Problems am Ball zu bleiben. Wie sie am Ende ihr Kind ausblendet und stattdessen das Spielzeug in Händen hält,das sie ihm zum Geburtstag schenkt, wie sie in dem Moment,als sie es im Geschäft betrachtet und berührt, in die Rolle eines Mädchens überwechselt, das noch kein eigenes Kind hat, das flirtet und mit einem Kollegen ausgeht, ohne sich um Tim zu kümmern, ist einerseits haarsträubend, andererseits sehr berührend. Man kann diese Anna schwerlich lieben, aber man darf sich auch nicht hassen dafür, dass ihr alles über den Kopf wächst und sie die Erscheinungen zeigt, die eben leider in dieser lieblosen, kinderfeindlichen Gesellschaft üblich sind.
Selbst in Berlin, das überdurchschnittlich jung und weltoffen ist und notabene recht kinderreich, bekommen wir häufig mit, dass mit Kindern auf die unterschiedlichste Weise inadäquat umgegangen wird. Von Müttern wie Janina, die eher im Blindflug versuchen, Familie zu sein bis zu verkopften und bezüglich der Empathiefähigkeit kaum besser aufgestellt wirkenden Technokraten, die ihre Kinder nach Normkatalogen und Erfolgszielen konditionieren, bei oft eng begrenztem Zeitbudget der Eltern, das offenbar trotzdem zuweilen mit Heliismus zusammengeht, ist alles dabei, was man sich nicht wünschen würde, wäre man selbst Kind und möchte in einer emotional funktionierenden, warmherzigen., aber auch freien und Welt aufwachsen, die man selbst entdecken darf. Es gibt weitere unangenehme Erziehungsbilder wie Jungs, die zu Paschas (v)erzogen werden, während Mädchen früh Verantwortung übernehmen und sich gleichzeitig unterordnen müssen, das sehen wir besonders in bestimmten migrantischen bzw. postmigrantischen Milieus. Kind sein ist nach wie vor oft kein Ponyhof, auch wenn es viele gute Beispiele von Familienaufstellung in einer Stadt mit vielen guten Menschen gibt.
Interessant ist, dass Janina nicht als jemand gezeichnet wird, der aus komplett desolaten Verhältnissen stammt, die Mutter bemüht sich durchaus, soweit ihre Kräfte reichen und Janina findet weitere Verbündete, die sich immer wieder einmal um Tim kümmern, die Wohnung von Janina ist so, dass das Jugendamt nicht meckert, aber allein die Tatsache, dass sie nebenher putzen muss, um über die Runden zu kommen und um ebenjene Anforderungen, die das Amt an eine minderjährige oder gerade volljährig gewordene, alleinerziehende Mutter stellt, erfüllen zu können, ist für diese Kindfrau zu viel. Der Vater macht sein eigenes Ding und ist verdammt realistisch gezeigt, von der erwähnten Motivation fürs Verschweigen seiner Beobachtungen abgesehen, und auf seine Weise eben immer noch unreif und unfähig, Verantwortung zu übernehmen. Das ist so schade für Tim, der ständig herumgereicht wird. Dass er nur ein einziges Mal, im Bus, als nervig gezeigt wird, sich ansonsten aber klaglos in diesen Verschiebebahnhof fügt und keine Verhaltensauffälligkeiten zeigt, ist geradezu ein Glücksfall. Ebenso, dass er in der recht langen Zeit des eingesperrt Seins und der vielen Schokolade keinen Harn lassen muss oder Stuhl hat. Aber man wollte das Szenario wohl nicht zu ekelerregend darstellen, um die Mutter nicht doch zum Hassobjekt werden zu lassen oder die Zentrierung des Films auf die sozialen Umstände zu schwächen. Die Absenz gewisser körplicher Funktionen ist auch bei längeren Darkroom-Einschließungen und dergleichen, mit denen eine Thrillervariante spielt, ein regelmäßig zu besichtigendes surreales Element.
Finale
Die Münchener Cops können auch Sozialtatort, auf eine andere Weise als die Kölner, die geradezu für diese Variante geschaffen sind oder geschaffen wurden – distanzierter, kerniger, aber nicht unempathisch. „Kleine Herzen“ beschwört unweigerlich die Assoziation mit „Kleine Diebe“ herauf, einem älteren München-Tatort mit Batic und Leitmayr. Auch darin geht es um das Schicksal von Kindern und auch dieser Film wird von der Tatort-Gemeinde geschätzt. „Kleine Herzen“ steht bei den Fundus-Fans derzeit auf Rang 134 von 1099 + 13 Filmen, das ist auch für Münchener Verhältnisse ansehnlich und nach unserer Ansicht gerechtfertigt, obwohl der Film nicht perfekt ist. Allein die Figur Anna macht den Unterschied zu vielen Tatorten, die eher oberflächlich an soziale Tatbestände herangehen. Dabei ist es sehr hilfreich, dass eine Darstellungsweise gewählt wird, die man aus den Polizeirufen kennt: Bis zum Verbrechen gibt es erst einmal eine Entwicklung und der Film ist überwiegend aus der Sicht der Beteiligten, nicht der Polizisten inszeniert. Da hat man Batic und Leitmayr also nicht nur dadurch zurückgenommen, dass sie nicht so deftig humorig sein dürfen wie üblich, sondern ihnen auch etwas weniger Spielzeit zugestanden. Eine 18jährige trägt diesen Film und das sehr souverän.
8/10
© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Vorschau
Im Moment ist ordentlich Dampf im Crimetime-Kessel. Allein heute Abend werden fünf Tatorte wiederholt, dafür müssen teilweise ältere Rezensionen wiederveröffentlicht werden, ein Film rezensiert werden, der gestern Abend bereits vom HR ausgestrahlt wurde und mindestens einen weiteren Film haben wir noch nicht gesehen, sodass wir eine eigene Vorschau verfassen (und am Abend aufzeichnen) müssen.
Bei Letzterem handelt es sich um „Kleine Herzen“. Zunächst waren wir überrascht, dass wir im Pool des „Alten Wahlberliners“ oder im Archiv der noch nicht gezeigten Kritiken keine Rezension fanden, aber es war „Kleine Diebe“ aus München, den wir im Kopf hatten und der zu den besonders eindringlichen Fällen von Batic und Leitmayr zählt, über den haben wir schon vor einigen Jahren geschrieben.
Die Münchener können also sehr wohl auch Köln, Sozialtatort, wenn sie ihre flapsige Art reduzieren. So liest sich die Beschreibung zum Film auf der Plattform Tatort Fans:
Im Tatort „Kleine Herzen“ müssen die Münchener Kommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) zu zweit ermitteln. Carlo Menzinger hat sich aus dem Team verabschiedet. Aber nicht nur deshalb hat diese Folge eine andere Atmosphäre als die vorausgegangenen aus der bayerischen Landeshauptstadt. Die Beamten agieren eher still und im Hintergrund und ohne den gewohnten verbalen Schlagabtausch. Trotzdem ist dieser Tatort packend bis zur letzten Sekunde.
Wir meinen, auch Carlo Menzinger hätte man in diesem Film unterbringen können. Jede Figur kann für jeden Fall so profiliert werden, dass es passt, zumindest, wenn der Darsteller wandlungsfähig ist und man es nicht übertreibt, sodass die Zuschauer plötzlich einen ganz anderen Typ sehen. Sich an die Gegebenheiten des Falls anpassen, ohne den Charakter zu verlieren, das trauen wir Michael Fitz schon zu, auch wenn er in der München-Truppe bis 2007 eher für die komischen Einlagen zuständig war.
Besetzung und Stab
Franz Leitmayr – Udo Wachtveitl
Ivo Batic – Miroslav Nemec
Anne Kempf – Janina Stopper
Tim Kempf – Felix von Opel
Marc Sommer – Max Mauff
Herr Kempf – Michael A. Grimm
Frau Kempf – Anke Schwiekowski
Herr Sommer – Eisi Gulp
Filialleiter im Supermarkt – Gerd Lohmeyer
Platzwart der Sportanlage – Django Asül
Regie – Filippos Tsitos
Buch – Stefanie Kremser
Kamera – Ralph Netzer
Musik – Josepha van der Schoot
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