Filmfest 712 Cinema – Die große Rezension
Tragik nie ohne Komik
Anna Boleyn ist ein deutscher Historienfilm in sechs Akten von Ernst Lubitsch aus dem Jahr 1920. Er gestaltet die Geschichte der zweiten Ehe des Königs Heinrich VIII. von England mit Anne Boleyn.
Ist „Anna Boleyn“ der größte Film, den Ernst Lubitsch inszeniert hat, bevor er in die USA ging? Auf jeden Fall dürfte es der aufwendigste gewesen sein. Nachdem er bereits mit „Madame Dubarry“ einen großen Erfolg hatte, der wiederum auf seinen ersten Kostümfilm „Carmen“ gefolgt war, ging er also von Spanien im 19. Jahrhundert ins Frankreich vor der Revolution und von dort aus an die Wende zur Neuzeit und zu einem Herrscher, dessen Leben so faszinierend, dessen Persönlichkeit so schillernd und grausam war, dass man sie nur mit einem gewissen Humor darstellen konnte. Hat Ernst Lubitsch das hinbekommen und mit wem in dieser absoluten Premiumrolle, die so schwer zu spielen ist? Wir klären auf in der –> Rezension.
Handlung (1)
Anna Boleyn kehrt nach Jahren per Schiff von Frankreich in ihr Heimatland England zurück. Sie wohnt bei ihrem Onkel, dem Herzog von Norfolk, und trifft hier auch ihre Jugendliebe Heinrich Norris wieder, der inzwischen als Ritter in Diensten des Königs Heinrich VIII. steht. Der verbringt seine Tage lieber bei Gelagen mit seinen Männern, als mit seiner Ehefrau Katharina. Beim Namenstag der Königin soll Anna Boleyn ihr vorgestellt werden, will sie doch eine der Hofdamen werden. Da der König nicht erscheint, weigert sich Katharina, Gäste zu empfangen. Der Herzog von Norfolk geleitet seine Nichte aus dem Königinnengemach, als der König sich kurzfristig ankündigt – beim eiligen Schließen der Tür wird Anna Boleyns Kleid eingeklemmt, sodass der König sie befreien muss und sich prompt in die junge Frau verliebt.
Anna Boleyn wird Hofdame der Königin und von den Avancen des Königs verfolgt. Ihr Herz gehört zwar Heinrich Norris, doch der glaubt, dass Anna den König liebt, der ihr tatsächlich die Krone Englands anbietet. Er lässt sich von seiner Frau Katharina scheiden, weil die ihm keinen männlichen Thronerben geboren hat, und da der Papst sein Einverständnis dafür nicht geben will, sagt er sich kurzentschlossen vom Papst los und legt den Grundstein für die Anglikanische Gemeinschaft. Er heiratet trotz Widerstands in der Bevölkerung Anna Boleyn, die kurz zuvor noch die Liebesschwüre Heinrich Norris’ abgewiesen hat, da sie nun zu spät kommen. Sie liebt ihn zwar immer noch, ist jedoch dem König treu. Als der König während eines Frühlingsfestes verschwindet und sich heimlich mit einer jungen Frau vergnügt, sucht der Hofstaat nach ihm. Dabei treffen Anna Boleyn und Heinrich Norris im Wald aufeinander und sie weist seine Liebesschwüre ab. Der diabolische Hofdichter Marc Smeton sieht ihn von Anna Boleyn kommen und will sich ihr, wie er meint ebenfalls, nähern, doch sie fällt vor Entsetzen in Ohnmacht. Heinrich VIII. kehrt reumütig zu seiner Frau zurück, die schwanger ist.
Trotz hoher Erwartungen bringt Anna Boleyn nicht den gewünschten Thronerben, sondern ein Mädchen zur Welt, das Elisabeth genannt wird. Heinrich VIII. hat nun jegliches Interesse an seiner Frau verloren und findet in Anna Boleyns Hofdame Johanna Seymour eine neue Geliebte. Obwohl Anna Boleyn um Heinrich VIII. kämpft, verliert sie ihn. Marc Smeton stellt sie in einem Gedicht als Ehebrecherin dar und Heinrich Norris als ihren heimlichen Geliebten. Er wird zwar auf Betreiben des Herzogs von Norfolk gefangen genommen, doch soll auch Heinrich Norris bei einem Turnier seine Ehre retten. Er wird schwer verletzt und die emotionale Reaktion Anna Boleyns lässt Heinrich VIII. nicht an ihrer Schuld zweifeln. Anna Boleyn wird gefangen genommen. Bei der Gerichtsverhandlung sagt Marc Smeton gegen sie aus, doch antwortet sie, er wolle sich nur an ihr rächen, weil sie seine Avancen abgewiesen habe. Smeton wird daraufhin gefoltert und „gesteht“, dass er ein Verhältnis mit Anna Boleyn gehabt habe. Er wird gehängt, und auch Anna Boleyn wird auf Geheiß Heinrichs VIII. Hingerichtet.
Rezension
Einen Tag nach Anne wurden ihre angeblichen Liebhaber verhaftet. Hierzu gehörten der Schatzmeister der königlichen Privatschatulle, Henry Norris, die Kammerherren Francis Weston und William Brereton sowie der Musiker Mark Smeaton und Annes Bruder, George Boleyn, Lord Rochford. Mit Ausnahme von Smeaton wiesen alle Männer die Vorwürfe zurück. Der Historiker Eric Ives vermutet, dass Smeaton versuchte, einem grässlichen Tod zu entgehen. Er war der einzige, der in Ketten vor das Gericht geführt wurde und hatte als einziger unter den Angeklagten keinen Anspruch auf eine schnelle Hinrichtung durch Enthauptung. Seine einzige Rettung vor dem Tod durch Hängen, Ausweiden und Vierteilen war ein Geständnis. Nach gängigem Gesetz konnte der Angeklagte in einem Verräterprozess nur dann auf Begnadigung hoffen, wenn er sich schuldig bekannte und sich völlig dem Urteil des Königs überließ. Im Falle einer Verurteilung konnte der Angeklagte durch ein Geständnis bewirken, dass er einen weniger grausamen Tod erleiden musste.[30]
Am 17. Mai 1536 wurden die fünf verurteilten Männer auf dem Tower Hill hingerichtet. Annes Hinrichtung wurde um zwei Tage verschoben, denn vorher erklärte Thomas Cranmer ihre Ehe mit Heinrich für ungültig und die Tochter Elisabeth zum Bastard.
Heinrich ließ zur Hinrichtung seiner Ehefrau am 19. Mai 1536 den Henker Jean Rombaud aus Saint-Omer (Region Calais) kommen, der für seine Fähigkeiten bei der Enthauptung mit dem Schwert bekannt war.[33][34] Eine Gruppe von Beamten hatte sich im Tower versammelt, um der Hinrichtung beizuwohnen.
Mit dem, was oben beschrieben wird, endet der Film. Zum Glück konnte Ernst Lubitsch dieses Mal der Versuchung widerstehen, den Vorgang der Hinrichtung selbst zu zeigen und ein ähnliches Ende wie in „Madame Dubarry“ zu fertigen, in dem der auf dem Schafott abgetrennte Kopf der Toten in die johlende Menge geworfen wird. Hingegen wird in „Anna Boleyn“ diskret die Tür zum Ort der Tat, wie man es nennen muss, verschlossen und der Schock ist dadurch nicht so groß, den das Publikum erleidet, wiewohl es vielleicht keiner mehr gewesen wäre, denn das spektakuläre Finish des Vorgängerfilms war sicher damals eine der spektakulärsten Kinoszenen gewesen. Vielleicht auch deshalb, als allersetzte Überraschung, die vergleichsweise ausgeprägte Zurückhaltung.
Die zeitgenössische Kritik lobte, „wie hier in hundert reizvollen Bildern Manuskript und Regie sich verschwistern, so haben Phantasie und Meisterhand Massenszenen gestaltet, die unvergeßliche Eindrücke hinterlassen.“[2] „Der Film hat Spannung und Knappheit, Logik und Steigerung und das Kulturhistorische ist weise dosiert“, so andere Kritiker.[3] Der Film sei „weit besser geglückt als der ‚Sumurun-Film‘“, weil die Handlung klarer strukturiert sei und Massen- und Einzelszenen geschickt miteinander verwoben seien.[3]
Das Lexikon des internationalen Films bewertete Anna Boleyn als „Dank einer hervorragenden Bildkomposition und der exzellenten Darstellung von Emil Jannings […] beachtenswertes Werk der Stummfilmzeit.“[4] Positiv hervorgehoben wurden auch die „prunk- und geschmackvolle[n] Kostüme (Ali Hubert) und eine raffinierte Bildkomposition.“[5]
Was den Film ebenfalls auszeichnet, ist, dass er sich so eng wie in einem solchen Werk möglich an den historischen Tatsachen orientiert. Die Figuren, die wir sehen, der fiese Smeaton und der edle Norris inklusive, sind historisch, lediglich der Hofnarr könnte erfunden sein, aber er hat eine wichtige Funktion. Ganz eindeutig nicht erfunden ist Heinrich VIII. In der Verkörperung von Emil Jannings. Noch ein wenig aufgepolstert, wirkt er geradezu wie die Reinkarnation dieser wohl prägendsten Herrscherpersönlichkeit seiner Zeit neben Kaiser Karl V. Lubitschs Entdeckung Pola Negri wäre für die von einigen Portäts her bestens bekannte Renaissance-Adelige Anna Boleyn wohl die falsche Besetzung Besetzung gewesen. Ob Lubitsch schon diesen Film im Sinn hatte, als er Emil Jannings und den weiblichen Superstar seiner Zeit, Henny Porten, in der Komödie „Kohlhiesels Töchter“ zusammen spielen ließ, weiß ich nicht, aber es wirkt beinahe, als ob er die beiden in diesem Film als einer Art lockerem Aufgalopp zusammenwirken ließ, um zu testen, wie das Publikum sie als Leinwandpaar annehmen würde. Es funktionierte, so viel ist bekannt, und es kam von einem Bauernschwank zu dieser historischen Tragödie. Ein Typecasting kann man in Deutschland damals nicht nachweisen, zumindest nicht die großen Stars betreffend, denn wie unterschiedlich sind die Figuren und Darstellungen von Jannings und Porten in den beiden erwähnten Filmen!
Jannings konnte offenbar alles spielen, außer vielleicht samtschlanke junge Liebhaber, während Henny Porten durchaus dem Schönheitsideal der Renaissance nähergekommen sein könnte als dem des 20. Jahrhunderts, wenn man von ihren großen Augen absieht, die sie höchst wirkungsvoll einsetzt und die, weil das im 15. Jahrhundert nicht üblich war, nicht so stark überschminkt wurden wie in Filmen jener Jahre üblich, mit allerdings in den 1920ern abnehmender Tendenz.
Was Jannings seiner Figur nicht so mitgibt, wie es wohl in Wirklichkeit war: Dass dieser sich wirklich leicht verliebte und seine Liebe in der Regel als echt galt, nur leider sehr kurzfristiger Natur war, wenn etwas schiefging. Und bei Anna Boleyn ging schief, dass sie zu eigenständig vom Wesen war und es gleichzeitig nicht schaffte, ihm den heißersehnten männlichen Thornerben zu gebären. Der Druck, unter dem sie stand, muss ungeheuerlich gewesen sein, aber zerbrochen sei sie nicht daran, heißt es, sondern an Heinrichs Liebschaften gegen Ende der nur dreijährigen Ehe. Anne war nicht die einzige der sechs Frauen von Heinrich, die keines natürlichen Todes starb, sondern hingerichtet wurde, das gleiche Schicksal traf Catherine Howard, Heinrichs fünfte Frau. Eindrucksvoll wird biografisch beschrieben, welche auch gesundheitlichen Gründe zu seiner grausamen Natur geführte haben könnten, aber Emil Jannings stellt ihn schon als in mittleren Jahren ziemlich wüsten Typ dar, der immer seinen Sinnen folgt und zwar von der Bildung, die im Film überhaupt keine Rolle spielt, in Wahrheit ein „typischer Renaissancefürst“ war, wie es in der Wikipedia heißt, vielseitig interessiert und talentiert, aber Ernst Lubitsch lässt ihn als eine Mischung aus finsterem Mittelalter und barock absolutistischer Denkweise auftreten. Ganz sicher ist auch da einiges dran, anders als an der Kennenlernszene, die ein typischer Lubitsch-Move sein dürfte – der Moment, in dem Annes Kleid in der Tür eingeklemmt ist und er sie von innen öffnen muss, damit sie freikommt. Danach kam sie nie wieder frei, aber das zeigt der Film ja recht minutiös.
Richtig groß wird ihre Figur, als sie beginnt, aktiv gegen ihre bereits auserkorene Nachfolgerin Johanna (Jane Seymour) zu kämpfen, obwohl sie bereits von den Ereignissen so niedergedrückt ist. Das ist auch für Lubitsch bis dahin nicht typisch gewesen, eine Frau so tapfer wirken zu lassen. Die Vorgängerinnen arbeiteten mit weiblichen Reizen und waren gut ausgearbeitete Charaktere, aber sie kämpft quasi wie ein Mann in einer Intrige, die ihr eigentlich wesensfremd ist. Heute würde man ihren außergewöhnlich starken Charakter sicher filmisch noch mehr herausstellen, in Lubitschs Film wirkt es nicht so unerhört, wie es wohl war, dass sie nicht Heinrichs Mätresse werden wollte, sondern den Verliebten geradezu in die Heirat mit ihr hineinzwang. Es wird so dargestellt, als ob vor allem ihre Liebe zu Norris sie daran hindert, dem König allzu sehr zu Gefallen zu sein und Norris’ Haltung ist es auch, die letztlich den Ausschlag für ihre Einwilligung in die Ehe gibt. Damit ist sie von einem Wesen, das man als berechnend bezeichnen könnte, aber von Lubitsch freigestellt worden und seine Sympathie für die Figur ist unverkennbar. Wie auch nicht, er wollte ihr Schicksal beschreiben, nicht das äußerst vielseitige und wechselhafte Liebes- und Eheleben Heinrichs VIII.
Aber Lubitsch ist auch Lubitsch. Manche Szenen sind, einzeln betrachtet, fast zum Brüllen komisch, schelmisch und mit einem boshaften Augenzwinkern gestaltet, nach dem Motto, wenn ihr witzig findet, was King Henry witzig findet, überprüft mal euren Charakter etwas plainen und wenig empathischen Charakter, aber er schafft es tatsächlich, dadurch nicht das Drama zu beschädigen, das sich in der von uns gesehenen Version über 123 Minuten erstreckt und eine der besten Restaurierungen von so frühen Filmen darstellt, die wir bisher gesehen haben. Offenbar entspricht diese Version auch weitgehend der ursprünglich gezeigten, sodass jede Einstellung das ist, was vor über 100 Jahren auch die Kinozuschauer:innen und Kritiker:innen genießen durften. Und das ist sehr flüssig und gewählt, man kann es nicht anders ausdrücken. Die Bildkompositionen wurden oben erwähnt, aber auch die Dekors sind erlesen, wenn man bedenkt, wie jung das Kino war, wie billig es zumeist noch produziert wurde. IN dem Film wird schon der Glanz der Ufa deutlich, in deren Verleih der Film stand. Lubitsch Geld in die H and zu geben, war eben auch eine sichere Bank, wie seine bisherigen Erfolge zeigten.
Er blieb auch mit Anna Boleyn auf der sicheren Seite, erlaubte sich zwar die humoristischen Einsprengsel, aber sonst keine möglichen Irritationen. Lubitsch hätte wohl auch dann nicht expressionistisch gefilmt, wenn alle anderen es getan hätten, weil ihm diese Art, Kino zu machen, vermutlich zu pathetisch war. Gleichwohl schaute er sehr genau hin, was die anderen auf die Leiwand brachten. Es gibt eine oder zwei Szenen, in denen Figuren explizit mimisch auf etwas reagieren, was nur dadurch möglich wird, dass sie an einem Ort stehen, an dem im Grunde kein Platz für sie ist, während die anderen miteinander sprechen. Kürzlich habe ich das auf sehr ausgeprägte Weise in „Opium“ von Robert Riemann wahrgenommen, der etwa ein Jahr vor dem Dreh von „Anna Boleyn“ in die Kinos kam. Da kommt die Figur des Hofnarrs ins Spiel, der die sympathischste männliche Figur darstellt und Anna immer zur Seite steht, sie warnt und sogar beschützt, während der Dichter ein durchtriebener Narzisst zu sein scheint. Der Hofnarr grimassiert zu dem, was andere von sicht geben, erspart damit vielleicht sogar die eine oder andere Texttafel und ist auch die einzige Figur, die von Heinrich körperlich gezüchtigt wird. Bei dem Tritt, den er an einer Stelle abbekommt, musste ich unwillkürlich an die famose Komödie „Der Hofnarr“ (1955) und eine der besten Szenen aus diesem Film denken. Ob die Macher dieser wunderschönen Mittelalter-Komödie „Anna Boleyn“ gesehen hatten?
Der Narr ist für mich eine sehr wichtige Figur, denn er ist nicht sehr komisch, sondern eher mit der Gabe ausgestattet, andere zu durchschauen und das Unheil kommen zu sehen. Im Grunde ist auch, nachdem klar ist, dass er nicht zu den Intriganten zählt, die Figur, an der wir uns orientieren kann, denn der Narr spricht wahr. Mindestens in einem Fall, indem er Anna ausdrücklich warnt, ansonsten dadurch, dass er uns als Zuschauer mit seiner Mimik durch eine Welt leitet, in der man nie sicher sein kann, wer nun „echt“ ist. Das gilt sogar für Anna, die nicht immer ganz eindeutig wirkt. Da aber der Narr sie mag, mögen auch wir sie noch etwas lieber. Mit der Figur hatte Lubitsch sich abgesichert, manchmal auch die Schwere des Melodrams etwas rausgenommen und uns mitgeteilt, dass man hier viele Menschen sieht, denen man nicht trauen darf, wohl aber diesem Typ im längsgestreiften Kostüm mit den Schellen.
Umgekehrt ist wohl der größte Schock, dass der Onkel von Anna den Prozess gegen sie führt und ihr keineswegs hilft. Im Film wird er zum Ankläger, in der Realität führte er den Vorsitz bei dem Tribunal, also bei dem Schauprozess, in dem die ganze Intrige gegen die Königin sich entlädt und in dem sie verzweifelt um ihr Leben kämpft.
Trotz oder vielleicht sogar wegen ihres Schicksals ist Anne Boleyn, wie sie im Film gezeigt wird und wohl auch in der Realität war, ein Teil des Aufbruchs der Frauen in die Moderne. Es ist schrecklich, mitanzusehen, wie Frauen von der Gunst eines exzentrischen Herrschers abhängig waren, aber es war die Tochter von Anne Boleyn, Elisabeth, die England zu seinem Status als Großmacht führte und politisch eine herausragende Persönlichkeit war. Sie war nicht die erste, sondern die dritte Königin Englands und ihre Vorgängerin, Mary Tudor, hatte bereits den Grundstein für viele Erfolge Elisabeths gelegt, aber die Frau, die der spanischen Armada die Stirn geboten hatte, wurde zu einer Legende, über die viel mehr Filme gemacht wurden als über Anne Boleyn. Es würde hier zu weit führen, wie Heinrich mit seinen Ränken für erhebliche Schwierigkeiten in der Thronfolge Englands sorgte und wie komplex die politischen Verhältnisse insgesamt waren.
Doch ein weiteres Ereignis stellt der Film ebenfalls nicht schlecht dar, wenn man bedenkt, wie sehr in einem solchen Werk alles verdichtet werden muss: Dass Heinrich wegen Anne Boleyn die anglikanische Kirche quasi im Alleingang schuf, weil der Papst seine vorherige Ehe mit Katharina von Aragon nicht lösen wollte. Insofern hatte Anna Boleyns Schicksal erheblichen Einfluss auf die Werdung der englischen Nation, wie wir sie heute kennen, nachdem sie sich aufgrund des Einmarschs der Normannen im Jahr 1066 und deren dauerhafter Machtübernahme erst einmal gespalten hatte.
Finale
Die Inszenierungsfertigkeit, die Lubitsch schon 1919, nur wenige Jahre nach seinem Start als Regisseur von kleinen, aber von Beginn an innovativen Komödien erlangt hatte, ist beeindruckend und „Anna Boleyn“ ist eine Bewerbung für Hollywood. Einige einige deutsche Besonderheiten fallen hin und wieder auf und die Art der Menschen, miteinander zu agieren, die vermutlich auch im 16. Jahrhundert nicht allzu verbreitet war und überdies dem Augenzwinkern von Lubitsch geschuldet sein könnten, aber davon abgesehen ist dieser Monumentalfilm ein Genre, das Hollywood zu der Zeit auch entwickelte. Dass Lubitsch später in diesem Genre nicht mehr tätig war, sondern sich auf Komödien konzentrierte, mag an der hochgradigen Arbeitsteilung in der Filmstadt gelegen haben, die fast allen ihren Angestellten eine besondere Sparte oder Nische zuwies und ein Grund dafür, dass sich Filmemacher, die sich als Künstler verstanden, mehr Freiheit wollten und schon so gut verdient hatten, dass sie es sich leisten konnten, ihre erste eigene Produktionsgesellschaft gründeten, die sich sinnigerweise United Artists nannte (Chaplin, Pickford, Fairbanks). Die anderen, gerade die Immigraten, mussten sich aber mehr oder weniger an dem orientieren, was die Studiobosse wollten, auch ein Lubitsch dürfte davon nicht ausgenommen gewesen sein.
Lubitsch hatte es aufgrund seiner versierten Art relativ leicht, ins Hollywoodsystem hineinzufinden, aber was er schon vor dieser Zeit geschaffen hatte, lässt Rückschlüsse darauf zu, dass es künstlerisch vielleicht sogar spannender für ihn gewesen wäre, in Deutschland zu bleiben. Freilich höchstens bis 1933. Nicht jeder Aspekt an „Anna Boleyn“ hat mir gefallen, obwohl die Haltung sehr mitfühlend ist. Das Grausame wird als eine Art Naturereignis, in Heinrich VIII. Wohnend, dargestellt und Anna hätte von Henny Porten auch etwas zurückhaltender porträtiert werden dürfen. Aber das war damals nicht üblich, denn der deutsche Film hatte seine Wurzeln im Theater, und es war damals auch nicht Lubitschs Stil, wie man an den fetzigen Komödien sehen kann, in denen gerade Frauen ziemlich aus sich herausgingen und in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt wurden. Das war schon ziemlich modern von der Sichtweise, aber es kommt ja alles wieder und das Unterspielen ist auch heute nicht unbedingt State of the Art. Es ist differenzierter geworden, Filmschauspieler können nuancenreicher agieren, weil sie für dieses Medium ausgebildet wurden, aber als Historienfilm aus einer historischen Filmepoche ist „Anna Boleyn“ ein sehr beachtliches Werk. Auch er, nicht nur der Expressionismus, belegt den Aufbruch des Kinos in eine Epoche, in der es als Unterhaltungs- und Kunstform erwachsen wurde.
75/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
(1), kursiv und tabellarisch: Wikipedia
Regie | Ernst Lubitsch |
Drehbuch | Hanns Kräly, Fred Orbing |
Produktion | Paul Davidson für Projektions-AG Union, Messter-Film GmbH |
Musik | Eduard Prasch (Kapellmeister), Hans Landsberger (Musikdirektor) |
Kamera | Theodor Sparkuhl |
Besetzung | |
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