Bermuda – Tatort 540 #Crimetime 1088 #Tatort #Köln #Ballauf #Schenk #WDR #Bermuda

Crimetime 1088 – Titelfoto © WDR 

Köln kann Kinder

Die Handlung in einem Satz, ohne Auflösung: Die Eigentümerin eines Autohauses wird ermordet, in Verdacht gerät der Werkstattleiter, woraufhin Max Ballauf im Chefbüro der Firma einen Computer klaut und Freddy Schenk mit dem Werkstattleiter und einem Neulehrling gleich zwei bekannte Gesichter entdeckt und viele Autos, die sein Herz als bekennender Fan des Besonderen auf vier Rädern höher schlagen lassen sollte, später fährt er kurzfristig einen Ferrari und damit in die Jugend-WG „Bermuda“, in der zwei Jungen und zwei Mädchen ein intensives Beziehungsgeflecht entwickelt haben.

Dass die Kölner Tatortschiene sich häufig mit der sozialen Welt benachteiligter Kinder befasst, ist kein Zufall und wohl auch nicht ausschließlich ein Anliegen des produzierenden Senders, sondern ebenfalls der Hauptdarsteller. Den Anstoß zu diesem Schwerpunkt gab sehr früh in der gemeinsamen Karriere der beiden der hoch angesehene Tatort „Manila“ (Nr. 383), welcher ein eigenes Hilfeprojekt für philippinische Straßenkinder nach sich zog, an dem Dietmar Bär und Klaus J. Behrendt beteiligt sind. Speziell Dietmar Bär hat mehrere Engagements dieser Art und daher wirkt der Umgang des früheren SDAJ-Studenten mit Kids wie denen, die wir im Film sehen, so natürlich und zwanglos. Der Mann  kennt sich aus, und das macht ihn jenseits seiner Rolle als Hauptkommissar Schenk sehr sympathisch.

Nach ein wenig Hintergrundrecherche in diesem Bereich, die wir für die vorliegende Rezension durchgeführt haben, wird uns immer klarer, weshalb wir die Kölner so mögen, auch wenn ihre Fälle heutzutage keine Avantgarde mehr sind – weil sie wirklich sind, wie sie rüberkommen: Der dialektische Aufbau manches Kölner-Sozialtatortes wirkt realistisch, weil die beiden Cops sich mit den Themen wirklich auskennen, auch wenn die Linie zu den Sujets, die sie im Film jeweils vertreten, von ihren Positionen im wirklichen Leben abweichen dürfte. Freddy gibt zum Beispiel oft den konservativen mit den etwas traditionellen Ansichten, während Ballauf mit seiner sanften Art wunderbar geeignet ist, den Sozialpädagogen in der Polizisten-Lederjacke zu mimen. Die Realität dürfte sein, dass beide sehr soziale Ansichten haben. Vielleicht sind aber auch Momente durchaus echt, in denen Schenk eher kernig wirkt und die Jugendlichen auch mal anscheißt. Denn die Arbeit in seinen Projekten wird ihm auch bezüglich der Ansprache gegenüber Problemkindern entsprechende An- und Einsichten vermittelt haben. Weiter geht’s in der –> Rezension.

Handlung

Sie wachsen ohne Eltern auf. Im Bermuda, einer vom Jugendamt betreuten Wohngemeinschaft, leben vier Jugendliche im Chaos. Doch eine von ihnen ist gerade Millionärin geworden: Winnie Sylvester. Ihre Mutter, die Chefin eines renommierten Kölner Autohauses, wurde erstochen am Rheinufer aufgefunden. Die Hauptkommissare Max Ballauf und Freddy Schenk ermitteln.

Schnell gerät der Werkstatt-Leiter des Autohauses Sylvester, Wolf-Dieter Lachner, unter Verdacht. Er hatte ein Verhältnis mit seiner Chefin. Und es hatte Streit zwischen den beiden gegeben. Außerdem stellt sich heraus, dass Lachner in Autoschiebereien verwickelt ist und dabei Kontakte zur Russen-Mafia hat.

Doch dann nehmen Ballauf und Schenk auch zunehmend die Jugendlichen im Bermuda ins Visier. David arbeitet als Lehrling im Autohaus. Er sollte gefeuert werden, weil er nachts unerlaubte Spritztouren mit den Autos unternahm. Der verhaltensauffällige Philipp hat ebenfalls ein wenig vertrauenerweckendes Hobby: Er ist ein leidenschaftlicher Messerwerfer. Und Marlott, die engste Bezugsperson für die frisch gebackene Millionenerbin Winnie: Sie stellt sich als passionierte Taschendiebin heraus. Der Betreuer der Wohngruppe Michael Kramer ist vollkommen überfordert. Dennoch, aus den aufeinander eingeschworenen Jugendlichen ist nichts herauszubekommen. Da gibt es plötzlich einen zweiten Toten.

Rezension

Nicht nur die Engagements der Kölner Cops im wirklichen Leben lassen das Szenario in „Bermuda“ authentisch wirken. Es sind auch die Jungdarsteller. Alle vier Kinder spielen ihre Parts wunderbar. Darf man eine Rolle herausheben? Vor allem, wenn der weitere Verlauf der Karrieren bereits das Potzenzial des Jungen belegt, der hier den Jüngsten spielt? Doch, weil es augenfällig ist: Sergej Moya als heimat- und elternloser, emotional aufgewühltes Chaoskind, das von einer Karriere als Messerwerfer im Zirkus träumt und tatsächlich Kontakte zu einem Zirkus aufgebaut hat, ist großartig. Eine der besten Kinderdarstellungen, wie wir in einem Tatort bisher gesehen haben. Eine ähnlich gute Kinderdarsteller-Leistung hatten wir zuletzt von Ludwig Trepte als Chorknabe in „Bienzle und der geheimnisvolle Zeuge“ gesehen.

Dieses Mal hat kein Kinderspezialist wie Arend Aghte Regie geführt, sondern Manfred Stelzer, der neben diesem ernsten Tatort für einige vor allem neuere Thiel-Boerne-Werke verantwortlich zeichnet und damit leider auch mitverantwortlich ist für den qualitativen Abwärtstrend der Münsteraner. Immer im Hinterkopf: Das Drehbuch ist entscheidend für die Qualität der Gags, die so wichtig für diese Tatortschiene sind.

Das Drehbuch für „Bermuda“, dessen Titel bereits ausweist, dass man an „Manila“ anknüpfen wollte, passt dialogseitig sehr schön und stammt von zwei Frauen, die entweder gut beraten wurden, oder sich im Milieu ebenfalls auskennen, wie Dietmar Bär. Eine schöne Vorstellung ist es, dass er bei der Ausfeilung der Jugendsprache insbesondere des Lehrlings David mitgeholfen hat. Wir wissen es aber nicht.

Der folgende Text enthält Angaben zur Auflösung!

Wie emotionale Verstrickungen entstehen, die ohnehin verzweifelte Kinder zu noch verzweifelteren Taten treibt, können wir nachvollziehen. Erschreckenderweise und auch, wenn sich diese Figur nicht gerade als Identifikationsvehikel anbietet, kann man sogar die kleine Mörderin verstehen, die mit so großer Willenskraft für den Erhalt ihrer kleinen Welt kämpft, die ihr allerdings auch symbiotisch dazu dient, eine spezielle Form von Taschendiebstahl zu begehen, in welcher ihre Freundin Winnnie, die spätere Millionärin, eine wichtige Rolle als Lockvogel spielt. Eine böse Darstellung übrigens, nicht nur wegen der Diebstähle (Freddy: „Das sollten meine sein!“ – die Kids), sondern auch wegen der älteren Herren, die sich von der grell geschminkten Jugendlichen gerne Märchen erzählen lassen. Von Prostitution ist allerdings nichts zu sehen, es wird nur einmal als Möglichkeit angedeutet. Gut so, denn sonst wär’s doch wieder zu klischeehaft geworden. Es gibt ohnehin genug, worüber man nachdenken kann.

Zum Beispiel über die Handlung. Das darf man auch bei einem Tatort, in dem viele Muster bedient werden, die zur starken Einbindung des Zuschauers führen, ihn emotional mitnehmen sollen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass Freddy gleich zwei Tatverdächtige kennt, den Werkstattleiter und den Jungen David. Dadurch, dass man es den Ermittlern erspart, eine Figur erst kennenzulernen, wird dessen Involvierung sofort auf ein höheres Niveau gehoben und damit auch diejenige des Zuschauers – vor allem, wenn die Cops so sympathisch sind wie die Kölner. Diese Kette von Übertragungen ist lückenlos.

Anders beim Plot an sich. Was um Himmels Willen ficht Max Ballauf an, ohne jede rechtliche Handhabe den Computer aus dem Autohaus zu entführen, der möglicherweise selbst gar keine relevanten Daten enthält, weil diese auf einem Server gelagert sein könnten? An die EDV solltenz sich nur Spezialisten wagen, auch wenn’s dadurch zu Verzögerungen kommt. Diese Spur verläuft sowieso im Sande, der Motorenspezialist und Geliebte der Witwe Sylvester stellt sich als der einfach gestrickte, aber nur moderat kriminelle Typ heraus, den es in jeder Autowerkstatt gibt. Spaß beiseite: Seine Connections zur russischen Automafia über Ecken hat nichts mit dem Mord an Frau Sylvester zu tun.

Das merken auch die Cops sehr bald, lassen diesen Faden quasi liegen und fangen an, die Jugendlichen auf nicht erlaubte Weise zu befragen – nämlich, ohne dass eine Betreuungsperson anwesend ist. Typisch Köln mal wieder, der nonchalante Umgang mit den Vorschriften wird gar nicht erst thematisiert und nicht einmal in Ballauf-Schenk-typischer Manier ausdiskutiert. Auch das Trennen der Jugendlichen voneinander, die sich gegenseitig decken, deren Unter-Druck-setzen in Einzelverhören wäre auf die gezeigte Art in der Wirklichkeit niemals möglich.

Zudem leistet Gerichtsmediziner Roth dem Plot und dessen Glaubwürdigkeit einen Bärendienst, als er angibt, der Mörder von Frau Silvester sei „von normaler Größe“ gewesen – von normaler männlicher Größe, angenommenermaßen und angesichts der kräftigen Stiche, die er in den Rücken der Frau ausführt. Nichts da. Es ist ein Kind oder eine Gerade-mal-Jugendliche, vielleicht 1,40 oder 1,50 hoch. Gut, dass man Roths Aussage schon fast vergessen hat, als sich der Verdacht gegen das etwas pummelige Teenie Marlott verdichtet, sonst würde man sich über diese Irreführung ärgern, die gegen den Vertrag zwischen Autor bzw. Drehbuchautor und Zuschauer gerichtet ist – nämlich, dass Fährten nicht dadurch verdeckt werden dürfen, dass zum Beispiel von Autoritäten falsche Resultate ermittelt werden.

Ohnehin mag man sich nicht vorstellen, dass ein immerhin strafmündiges 14- oder 15jähriges Mädchen – das Alter von Marlott konnten wir schwer einschätzen – zwei brutale Morde begeht, um gegen den Untergang seiner kleinen, gar nicht so schönen Welt zu kämpfen. Jugendliche sollte sie wohl schon sein, sonst könnte sie nicht in einer solchen WG untergebracht werden, in der die Bewohner oft sich selbst überlassen sind. Diese Diebstähle halten wir für absolut realitätsnah, vor allem, weil schon vor längerer Zeit eine uns nahestehende Person von einer Jugendgang auf ähnliche Weise (zwei Mädchen machten ein Ablenkungsmanöver, ein drittes führte den Diebstahl der Brieftasche aus) im Fahrstuhl eines Einkaufscenters bestohlen bzw. beraubt wurde, ein weiterer uns bekannter Fall mit jugendlichen Täterinnen trug sich in einer Filiale einer Fastfood-Kette zu.

Im Umfeld dieser Geschehnisse, auch wenn die Kids nicht hungern müssen, wirkt Freddys Versuch, sich selbst zu mästen, geradezu dekadent, jedenfalls unpassend. Wer ist auf diese Idee gekommen? Wenn der Mord sich wenigstens im Konditoren-Milieu abgespielt hätte, dann wäre das im Sinn von „Aber bitte mit Sahne!“ witzig gewesen. Und welche Frau will bitte einen ohnehin übergewichtigen Ehemann noch dicker haben? Gut, dass Freddy wegen Maxens hippeliger Art, immer zum Aufbruch tendierender Art, selten dazu kommt, wirklich zuzuschlagen und dass Freddy angesichts der Morde auch mal der Appetit vergeht.

Als Ulrich Gebauer als Sozialarbeiter und WG-Leiter Kramer auftauchte und so komisch guckte und so verschwitzt-verdruckst daherkam, dachten wir sofort: Der Mörder! Da kann man sehen, wie man schon beeinflusst ist, zum Beispiel vom Bodensee-Fall „Bitteres Brot“, in dem Gebauer mit großem Können einen tyrannischen Vater und Familienmörder spielt.

Finale

Die Motivation der kleinen Mörderin ist etwas over the Top, in Dramen wie diesem sind in der Regel eben doch die Mörder oder Totschläger erwachsene Personen, keine desorientierten, bereits in sehr jungen Jahren innerlich zerstörten Kinder. Und wenn doch so schwere Taten begehen, dann wohl meist nicht auf diese Art, sondern in Ausübung einer anderen Straftat – Beschaffungskriminalität, beispielsweise. Geplante Tötungen auf eigene Rechnung und in Alleintäterschaft, mit einem solchen Motiv wie dem unbedingten Willen, die WG zu erhalten, sind zum Glück nicht häufig anzutreffen.

Dass Marlott beim ersten Mord nicht so weit denkt, dass sie Winnies Abschied ja eher befördert, wenn sie die Mutter umbringt, weil ohne sie das andere Mädchen stärker geneigt sein könnte, in die elterliche Villa zurückzukehren, ist für ein impulsives Kind natürlich einen Tick zu hoch. Sich trickreich durchs Leben schlagen und strategisch denken sind zwei verschiedene Paar Schuhe, und an dieser Diskrepanz scheitern nicht nur chaotische, sozial benachteiligte Jugendliche und können dadurch ihr Potenzial nicht selbst zum Erfolg lenken – die meisten Menschen haben auf diesem Gebiet Defizite, wenn man den optimalen Einsatz eigener Talente als Maßstab nimmt.

Der Tatort „Bermuda“ aus der „mittleren Epoche“ der Kölner Tatorte mit Freddy und Max hat uns mit seinen tollen Darstellern und der Milieuschilderung überzeugt, ja beeindruckt. Es wird alles verständlich gemacht, was sich in den Köpfen der vier jugendlichen WG-ler abspielt und ihre Handlungen und ihre Art wirken authentisch. Interessanterweise tragen aber auch Umstände dazu bei, dass man den Film nicht schmalzig findet, die auf illegalen Methoden fußen – und dazu zählt in weiten Bereichen der Umgang der Cops mit den Kids und dass der Betreuer der WG dagegen nicht einschreitet.

Trotzdem 8/10 für einen Tatort, den wir packend fanden, weil die Figuren der vier minderjährigen Freunde packend sind.

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

Hauptkommissar Max Ballauf Klaus J. Behrendt
Hauptkommissar Freddy Schenk Dietmar Bär
Franziska Lüttgenjohann Tessa Mittelstaedt
Dr. Joseph Roth Joe Bausch
Winnie Sylvester Paula Kalenberg
Marlott Marie-Luise Schramm
David Brunner Florian Riedel
Philipp Rabe Sergej Moya
Michael Kramer Ulrich Gebauer
Wolf-Dieter Lachner Michael Brandner
Regie: Manfred Stelzer
Buch: Scarlett Kleint und Roswitha Seidel
Kamera: Tomas Erhart
Musik: Lutz Kerschowski

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