Filmfest 762 Cinema
Der Fisch, das Akkordeon und der Sog
Arizona Dream ist ein US-amerikanisch–französisches Filmdrama von Emir Kusturica aus dem Jahr 1993 mit Johnny Depp, Faye Dunaway, Lili Taylor, Vincent Gallo und Jerry Lewis in den Hauptrollen.
Dieser Film ilm ist dermaßen vollgestopft mit Symbolik und Anspielungen, dass man Schwierigkeiten hat zu entscheiden, inwieweit man schon in der Inhaltsangabe auf die zum Verständnis notwendigen Assoziationen eingeht, die man unweigerlich bei dem Film hat.
Erst einmal muss man sich vor Augen halten, dass er 1993 entstanden ist (nach Korrektur: im selben Jahr, wir sind hier ursprünglich vom Produktionsjahr 1992 für „Arizona Dream“ ausgegangen). Damals waren Filme wie dieser mit ihrer Mischung aus Psychologie, Metaphorik und einem Touch in Richtung Surrealismus und Fantasy noch sehr ungewöhnlich. Uns hatte der Film auch sofort an Tim Robbins‘ „Big Fish“ erinnert, der ein Jahr später entstand. Es gibt ganz eindeutig Parallelen zwischen diesen beiden Filmen, die über den Sinn von allem sehr vielgestaltig reflektieren, aber „Big Fish“ ist eindeutig affirmativer und erkennbar mehr aus der amerikanischen Innensicht heraus inszeniert.
Emir Kusturica, der „Arizona Dream“ gemacht hat, ist hingegen Europäer und stammt aus dem damals gerade zerfallenden Jugoslawien. Zuvor und nach „Arizona Dream“ hat er auch eher Filme gedreht, die sich mit den näher liegenden Zuständen befassen.
Handlung
Der Film beginnt in der Antarktis oder im nördlichen Alaska, wo ein Inuit auf der Jagd verunglückt und von seinem Husky gerettet wird. Daraufhin lernen wir in New York den Fischzähler Alex kennen, der von seinem Cousin Paul aufgesucht wird, weil er seinem Onkel, der in Arizona lebt, als Trauzeuge dienlich sein soll. Alex hat keine Lust, fährt aber trotzdem mit oder wird mitgefahren, nachdem sein Cousin ihn in einer Bar abgefüllt hat.
Sein Onkel ist ein pinkfarbener Händler von pinkarbenen Cadillacs, der sich ein osteuropäisches Mädchen geangelt hat, das halb so alt ist wie er. Alex nimmt widerwillig einen Job als Autoverkäufer bei seinem Onkel an und lernt dabei Elaine Stalker und ihre Stieftochter Grace kennen, wird von ihnen eingeladen und verfällt den beiden Frauen, bleibt bei ihnen und ein Versuch seines Onkels und seines Cousins, ihn zurückzuholen, wird von Elaine per Flinte abschlägig beschieden. Alex fängt an, Flugmaschinen zu basteln, da Elaine unbedingt fliegen will. Erst funktionieren die Maschinen nicht, dann werden sie von der eifersüchtigen Grace zerstört, doch am Ende gelingt das Abheben. Auf einer Castingshow spielt Cousin Paul die Szene aus „Der unsichtbare Dritte“ nach, in der Cary Grant dem vorgeblichen Düngemittel-Spritzflugzeug begegnet und erntet wenig Zustimmung bei der Jury.
Elaine hat Geburtstag und bekommt eine Flugmaschine geschenkt, mit der spielt sie dann die erwähnte Filmszene wieder in Echt und Paul muss um sein Leben fürchten. Alex hingegen hat die Entscheidung zu treffen, welcher der Frauen er sic h zuwendet. Nach einem Selbstmord kehrt der Film zurück in die Arktis (oder Nordalaska), wo Alex und sein inzwischen verstorbener Onkel im Eis fischen und jenen Fisch an Land ziehen, der im Film mehrfach durch die Luft schwirrt.
Rezension (mit Angaben zur Auflösung)
Keine Frage, dass „Arizona Dream“ ein hochindividuelles Werk ist, mit einer sehr eigenständigen, auch ein wenig antiamerikanischen Einstellung. 1992 konnte man vieles noch nicht wissen, was man über die USA und den kapitalistischen Amerikanischen Traum heute weiß bzw. was sich heute immer mehr im Negativen zeigt, aber die Satire des politischen Menschen Kusturica könnte auch ein wenig dadurch motiviert sein, dass die USA im Jugoslawienkrieg eben nicht auf der Seite der Serben standen – wie mehrheitlich die Westeuropäer.
Dieses Panoptikum, das uns Kusturica zeigt, wird, da kann er sich glücklich schätzen, von hervorragenden Schauspielern zusammengehalten, und sie für diesen Film zusammengeführt zu haben, ist ja auch ein großes Verdienst. Johnny Depp, Faye Dunaway, Lily Taylor und Jerr Lewis (!) als Onkel sind einfach klasse. Womit auch feststeht, dass Kusturica Schauspieler so dirigieren kann, dass sie zeigen, was sei draufhaben. Der junge Johnny Depp bringt hier trotz einer eher passiven Rolle, eines Sich-treiben-und-aufsaugen-Lassens von den beiden konzentrischen Ladies sehr viel an Identifikationspotenzial zustande. Es gibt auch keine andere Figur, die uns diese Möglichkeit bietet, aber warum nicht. Immerhin ist er emotional sehr weise und seine Kraft liegt in der Einfühlung in die Frauen. Manchmal provoziert er auch etwas, da reitet ihn der Schalk, aber es wirkt nie böse, sondern eben ein wenig jungenhaft. Er ist ja auch erst 23 Jahre alt.
Der Onkel ist zwar recht sympathisch, aber auch abgehalftert und am Ende nicht nur seines Lebensstiles, sondern auch seiner Tage angelangt. Der Möchtegern-Schauspieler-Cousin, gespielt von Vincent Gallo, ist zu wenig nett und die beiden Damen sind so exzentrisch, dass es einem schon mal den Magen umdrehen kann, wenn sie draufloswüten.
Schade, dass der Film sich nicht auf das Drama der Dreiecksgeschichte zwischen Alex, Elaine und Grace konzentriert hat. Da steckt so viel Potenzial drin, denn man erfährt mehr am Rande, dass die beiden durch ein zurückliegendes Familiendrama traumatisiert und in Schuldgefühlen und einer Hassliebe verstrickt sind: Einst brachte Elaine ihren Mann um, weil der sich an der damals noch kleinen Grace verging. Grace ist dadurch zum Freak geworden, Elaine zu einer Tagträumerin und beide haben einen unbändigen Willen, sich gegenseitig kleinzumachen. Vor allem Grace begehrt immer wieder auf gegen ein Schicksal, dem sie nicht entrinnen kann. Weil ihr das klar wird und weil sie sich auch Alex, den sie lieben lernt, nicht wirklich annähern kann, begeht sie am Ende Selbstmord.
Für Elaine wird hingegen der Traum vom Fliegen zur Obsession und wie sie ihn lebt, mit dem gentilen Alex an der Seite, hat etwas Monströses. Faye Dunaway ist nicht so gealtert, dass sie aussieht, wie eine liebenswerte Dame um die Fünfzig, sondern sie kann hervorragend diese Mischung aus Furie und kleinem Kind spielen, sie ist durchaus noch attraktiv, wirkt aber stellenweise noch viel älter, als sie ist. Aus psychologischen Gründen. Sowohl sie als auch ihre Tochter sind komplett aus ihrer Mitte und waren wohl auch nie in ihrer Mitte.
Und gerade das so zu zeigen, dass es schmerzt, aber nicht auf die amerikanisch-melodramatische Weise des 1950er Jahre-Films à la Douglas Sirk, der viel für die Adaption ernster Beziehungsthemen in Hollywood getan hat, nicht veredelt und übertrieben stilvoll, sondern genau das Gegenteil. „Arizona Dream“ ist stellenweise ein Alptraum, er wirkt „disgusting“, wie die Engländer es sagen würden. Die innere Zerstörung der Figuren äußert sich in einigen wenig schicken Details, die vor allem durch Dialoge transportiert werden. Etwa, dass Alex nach Fisch stinkt, aufgrund seines Jobs, dass mehrfach auf den Verfall von Elaine angespielt wird und manchmal geht es bis zum Slapstick, zum Beispiel, als Elaine und Grace während eines Dinners am jeweils anderen Ende des Tischtuchs ziehen, auf dem eingedeckt ist – und Elaine es loslässt und Grace mitsamt allem hintenüber kippt. Bei Laurel und Hardy hätte man darüber gelacht, aber hier tut man’s nicht.
Weil natürlich auch diese Szene sich der Symbolik unterordnet und man nicht weiß, ob man das gut oder bescheuert übertrieben, viel zu platt und küchenpsychologisch finden soll. Die Metapher geht so: Es ist etwas wie bei Salomo und den Müttern, die sich um ein Kind streiten, aber gedreht. Beide ziehen, doch eine lässt los und daran erkennt der weise König, dass sie das Kind mehr liebt. Elaine lässt das Tischtuch los und weiß genau, dass sie damit die wahre Siegerin ist, weil die Tochter alles überkriegt. Elaine ist die dominierende Figur und Grace bleibt nur, subversiv gegen sie vorzugehen und immer wieder zu stören, wenn die Stiefmutter es sich mit Alex gemütlich machen will. Ein ewiger Titanenkampf zweier starker, negativ aufgeladener Charakere.
Damit das Ganze nicht an sich unlogisch wirkt, weil ja eine der Frauen fortgehen könnte, ist die Sache so konstruiert, dass die Tochter die Erbin ihres Vaters ist und die Stiefmutter nur geduldet. Diese kann nicht weg, weil sie vermutlich nicht gelernt hat, sich draußen einen Job zu suchen und viel zu spinnert für diese Welt ist – und Grace ist es im Grunde ebenfalls, besorgt aber irgendwie im Hintergrund das Finanzielle. Die beiden sind, wir ahnen es, das verkörperte Negativ-Abziehbild des Amerikanischen Traums und wie er sich gegen die Menschen wendet, wenn er offenbar nur auf Macht und Geld aufgebaut ist. Auf den ersten Blick scheint das nicht das zentrale Thema, aber wenn man näher hinschaut, sind die Figuren durch ihr Leben in diesem Traum und weil sie nicht von ihm lassen können, korrumpiert.
Wir können verstehen, dass der eher kontemplative und nicht besonders ehrgeizige bzw. an eigenen Zielen orientierte Alex sich da hineinziehen lässt, denn er ist, bei aller Gefahr des Szenarios, welcher er sich auch bewusst ist, der Hahn im Korb und kann wählen. Es ist in gewisser Weise wieder so, wie es in dieser Familie einst gewesen sein mag, als Elaines Mann mit seiner Tochter kam und die drei eine gewiss schlecht harmonierende Familie bildeten. Alex ist gleichermaßen fasziniert und abgestoßen, aber die Faszination überwiegt und stellenweise ist das Ganze und sind die Damen, besonders die jüngere, so erotisch inszeniert, dass man es auch aus rein männlicher Position gut nachvollziehen kann. Der Film ist aber dennoch eher ein Frauenfilm (in der IMDb voten Frauen im Schnitt um 0,4/10 höher als Männer).
Es ist ja auch nicht so, dass man die Frauen nicht verstehen kann oder nicht in ihr Verhalten die Wunden der Vergangenheit hineindeuten kann. Bei den Männern, auch bei Alex, gibt es diesen Hintergrund nicht. Der Onkel ist in etwa so, wie man sich von außen einen kitischigen Mittelstandsamerikaner vorstellt, mit seinem übertriebenen Outfit, dem billigen Rasierwasser, dem Plüsch und Pomp und der hübschen Osteuropäerin (gespielt vom tschechischen Model Paulina Porizkova), die über den Teich gekommen ist, um ein wenig Sicherheit zu finden. 1992, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Zerfall des Ostblocks ein sehr aktuelles Thema. Auch der Traum des Onkels, den er schon von seinem Vater übernommen hat, war materialistisch: So viele Cadillacs zu verkaufen, dass man sie bis zum Mond stapeln kann. Ein aberwitziges Unterfangen in mehrerer Hinsicht. Dass der American Way of Life nicht mehr das ist, was er mal war, wird daran deutlich, wie prächtig die alten Cadillac-Modelle gegenüber den neuen Modellen wirken, die so schlicht aussehen und eher eine Nebenrolle spielen. Da wird der Onkel, der auch noch Leo Sweetie heißt, dünnhäutig, wenn ein Kunde nach dem Verbrauch der aktuellen Cadillacs fragt. Leo verkauft Träume, keine Benzinsparmaßnahmen.
In den 1980er waren wurden die vorher so riesigen US-Autos rasend schnell kleiner und leichter, eine andere Möglichkeit gab es nicht, vom hohen Benzinverbrauch herunterzukommen, das Revival dicker Modelle in den letzten Jahren könnte wieder Stoff für einen eigenen Film hergeben: Nach der Scheinvernunft vor zwanzig Jahren die aktuelle Scheinblüte als letztes Fanal eines zum Scheitern verurteilten Konsum-Lebensmodells.
Es ist sicher kein Zufall, dass die Amerikaner dem Film nicht sehr mögen. Sie bewerten ihn in der IMDb im Durchschnitt um 0,7 Punkte weniger als die Nicht-US-Bürger, das ist eine weitaus höhere Abweichung als üblich und da dieser Film in den USA quasi ein Indie war und nur in ausgewählten Kinos lief, hatte das Publikum sehr wohl die Botschaft verstanden. Obwohl sicher überwiegend viele gebildete Menschen den Film angeschaut hatten, mochten sie ihn dennoch nicht sehr. Die 1,4 % Bewerter, die ihn mit 1/10 total ablehnen, sind allerdings normal, kontroverse Filme haben oftmals mehr echte Gegner.
Finale
„Arizona Dream“ hat seine eigene, dunkle Poesie, beim Symbol des Fisches könnte man beinahe auf Tim Robbins‘ „Big Fish“ verweisen, obwohl das nicht gerecht wäre, denn es würde suggerieren, dass Kusturica imitiert hat. Die zeitliche Reihenfolge, in der die Filme entstanden, ist die umgekehrte. Also der Fisch: Egal, ob er mächtig oder eher ein flacher Butt ist, dessen Augen auf einer Seite liegen, er schwimmt im Ozean der Träume und symbolisiert ein Ziel, wenn man ihn einfängt, wie der verstorbene Onkel Sweetie und Alex es am Ende tun, haben sie etwas gefunden, das eine neue Erkenntnis darstellt. Sogar über die Wanderung der Augen wird philosophiert. Man gewinnt etwas und man verliert etwas: Man verliert mit der Zeit den alles umfassenden Raumblick und gewinnt die Sicherheit wenigstens der eindimensionalen Betrachtung und damit der besseren Deutungsmöglichkeit.
Man kann nicht alles in diesem Film zu einem großen Netz knüpfen, das alle Fische fängt, eine Matrix bauen, die ein geschlossenes philosophisches Modell darstellt. Dazu ist er nicht stringent genug durchkonzipiert und verliert sich etwas zu sehr in der eigenen Fülle. Andererseits ist alles, was geschieht, herrlich unberechenbar und das macht ihn spannend. Er ist ein Märchen, und Märchen sind ja durchaus nicht immer friedlich und freundlich und manche Märchenscheiber hatten es auch drauf, keine Happy Ends zuzulassen, was besonders für Kinder ganz schön deprimierend sein kann.
Ob „Arizona Dream“ ein Happy-End hat? Sicher nicht im herkömmlichen Sinn, sonst hätte Alex mit einer der Frauen in eine neue Welt aufbrechen müssen, und sei es in einem Leichtflugzeug. Dass er am Ende mit seinem Onkel beim Eisfischen sitzt, ist aber auch nicht so schlecht. Manchmal liegt der Gewinn in der langfristig wirksamen Erkenntnis, nicht in einem zerbrechlichen Glück.
75/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)
Kursiv und tabellarisch: Wikipedia
Regie | Emir Kusturica |
Drehbuch | David Atkins Emir Kusturica |
Produktion | Paul R. Gurian |
Musik | Goran Bregović |
Kamera | Vilko Filač |
Schnitt | Andrija Zafranović |
Besetzung | |
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