Filmfest 765 Cinema
Kleingangster am Rande des Nervenzusammenbruchs
Hexenkessel (Originaltitel: Mean Streets) ist ein Gangsterfilm von Martin Scorsese aus dem Jahr 1973. Er gilt als Scorseses erster Mafiafilm. Es folgten Good Fellas, Casino, Departed und The Irishman.
Es war ein explosiver, kreativer Zeitraum von nur wenigen Jahren, als das Kino in den 1970ern noch einmal Pioniergeist ausstrahlte und alles entwickelt wurde, was heute Standard ist – aber oft viel authentischer wirkt, weil es zum Teil experimentell war und weil große Talente damals jung waren. Davon atmet „Mean Streets“ einiges, wir gehen darauf näher in der –> Rezension ein.
Handlung (1)
Der Film spielt in Little Italy in den 1960er Jahren und behandelt das Leben des Kleinkriminellen Charlie. Dieser arbeitet als Schuldeneintreiber für seinen Onkel Giovanni, einen lokalen Boss (Caporegime) der La Cosa Nostra. Da er seine Arbeit gut macht, winkt ihm als nächster Karriereschritt die Leitung eines Restaurants für Giovanni. Charlie hat eine heimliche Liebesbeziehung mit seiner Nachbarin Teresa, die an Epilepsie leidet und daher von Giovanni als „Verrückte“ verachtet wird. Sie ist außerdem die Cousine von Charlies naivem Freund Johnny Boy. Der arbeitsscheue Johnny Boy kann seine Schulden bei einem Mafioso nicht zurückzahlen, da er seine gelegentlichen Einkünfte entweder verspielt oder für Frauen und teure Kleidung ausgibt. Aufgrund Johnny Boys unberechenbaren und unzuverlässigen Verhaltens muss Charlie immer wieder Schadensbegrenzung betreiben.
Irgendwann kann Charlie seinen Freund Michael, einen der Gläubiger Johnny Boys, nicht länger vertrösten. Es gelingt ihm jedoch, die Summe herunterzuhandeln. Allerdings erscheint Johnny Boy zum vereinbarten Zeitpunkt nicht, was Michael sehr wütend macht. Johnny Boy bedroht Michael in der Öffentlichkeit mit einer Waffe und demütigt ihn. Da der Mafioso so sein Gesicht verloren hat, schwebt Johnny Boy in Lebensgefahr.
Charlie will deshalb mit Johnny Boy und Teresa eine Zeitlang untertauchen, aber auf der Fahrt durch Brooklyn wird aus Michaels vorbeifahrendem Wagen heraus auf sie geschossen. Kugeln treffen Johnny Boy im Hals und Charlie in der Hand, worauf der Wagen außer Kontrolle gerät. Der Film endet mit der Bergung der verletzten Insassen aus Charlies Wagen.
Rezension
1972 hatte Francis Ford Coppola „Der Pate“ gedreht, ein Jahr später kam Landsmann Martin Scorses mit „Mean Streets“, der die aktuelle Mafia zu Beginn der 1970er Jahre beleuchtet – von unten, von der Basis der Handlanger und Hilfssheriffs aus, die Bosse spielen kaum eine Rolle. Von diesem Zeitpunkt dauerte es nur drei Jahre, bis Scorsese „Taxi Driver“ filmte, den wir zuletzt rezensiert haben. Wir gehen also ein wenig rückwärts und schauen, von woher die Dinge sich bei Scorsese entwickelt haben, die in „Taxi Driver“ so präzise und machtvoll in Szene treten.
„Mean Streets“ gehört zu den Filmen bis dahin, die am meisten Dokumentarcharakter ausstrahlen, obwohl die Handlung komplett fiktional ist, wie am Ende des Abspanns ausdrücklich betont wird. Aber das Milieu und die Typen am unteren Ende der Verbrechens-Nahrungskette haben miteinander diese Dialoge, die im heutigen Kino, das zwischen möglichst originellen, aber unglaubwürdigen Sprechszenen und fortwährender Action kaum Platz für Wichtiges finden.
In Scorseses Film aber ist das noch kein Selbstzweck, sondern Ausdruck des authentisch wirkenden Milieus, in dem die jungen Männer aufgewachsen sind, die wir hier sehen und die ein wenig reden, wie wir es aus späteren US-Filmen von Afroamerikanern kennen – vor allem der junge Johnny Boy ist ein Role Model für diesen Sprech. Allerdings merkt man bei ihm auch, dass er schneller spricht, als er denkt, während spätere Filme suggerieren, dass Menschen tatsächlich so schnell denken können.
Wir sehen Harvey Keitel als Charlie und Robert de Niro als Jungschauspieler in der Rolle des Johnny Boy. Und wow, wie er diese Nebenrolle füllt. In einer einzigen Szene in „Taxi Driver“ zitiert er quasi seine Johnny-Boy-Rolle noch einmal: Als er vor dem Personaler der Taxizentrale steht und sich bewirbt, da grinst er an einer Stelle so, wie Johnny in „Mean Street“ fast den ganzen Film über feixt. Ob das eine bewuste Reminiszenz ist? Scorsese ist das zuzutrauen, dass er am Anfang des späteren Films eine Art Anknüpfungspunkt setzt, der den Zuschauer zudem ein wenig irritieren soll: Auch wenn De Niros Lachen da auch Verlegenheit sein könnte, eher ist es wohl Amüsement über die Situation oder seinen Gegenüber, und so unernst ist Johnny die ganze Zeit über.
Nur: Die Figur ist grundsätzlich komplett anders, und das ist so verblüffend gut gespielt. De Niro gibt einen unterdurchschnittlich strukturierten Mafiosi-Abkömmling, der sich die Zeit mit der Sprengung von Briefkästen, mit dem Kaufen von Klamotten, dem Anmachen von Mädchen und mit dem nicht Zurückzahlen von Schulden verbringt, die dadurch entstehen, dass er über seine Verhältnisse lebt. Prinzipiell sieht man ihn auch nicht arbeiten. Er ist ein wenig verschlagen, ein wenig dumm, ein wenig gewalttätig und frech, genau der Typ, der es im Gangstermilieu im Grund zu etwas bringen kann – wenn er wenigstens zuverlässig und loyal ist.
Ist er aber nicht. Seinen Freund Charlie, eine Art Passionsfigur unter den hier gezeigten Gangstern, bringt er ständig in Schwierigkeiten und offenbart dabei eine Gewissenlosigkeit, die ihn uns hassen lässt. Doch, De Niro spielt das so gut, dass man diesem Typ gerne mal einen Schlägertrupp schicken würde, um ihn auf den Boden zu bringen. Als er aber am Ende des Films aber, nachdem er’s zu bunt getrieben hat und Opfer eines Racheaktes wird, schwer angeschossen an einer alten Mauer entlang wankt und mit getroffener Halsschlagader vermutlich sterben wird, da fühlen wir trotzdem Mitleid. Das bedeutet, dass dieser Idiot uns doch irgendwie berührt hat. Klar hat das auch damit zu tun, dass De Niro ihn spielt, der damals ja wirklich noch ein Schauspielfohlen war und dessen Ruhm wir im Kopf haben, wenn wir ihm fasziniert zuschauen, wie er am Anfang eines Weges steht, wie auch Johnny es sollte. Im Unterschied zu dem Kleingauner ist De Niro aber intelligent genug, den Weg zum Ruhm auch zu gehen. Hauptsächlich liegt es nach unserer Ansicht aber nicht am großen Namen, sondern an dem wirklich grandiosen Spiel, dass man diesen Johnny Boy so spannend findet.
Da hat Harvey Keitel als dessen Beschützer und Freund Charlie beinahe die undankbarere Rolle, weil er viel seriöser wirken muss. Da wir keine Katholiken sind, waren wir froh, zur Interpretation dieser Figur ein paar andere Kritiken gelesen zu haben, die uns den zerrissenen Charakter erklären als Ergebnis von Charlies tiefer Verwurzelung im Katholizismus und seinem Bewusstsein von Sünde und Vergebung. Die Sünde ist überall und Absolution per Ohrenbeichte reicht nicht aus. Charlies ambivalentes Verhältnis zu Frauen ist ein Ausfluss dieser Haltung. Sie sind die Sünde, und wenn sie anfangen, vom Heiraten und von echter Liebe zu sprechen, dann kann er diesen Schritt nicht mitgehen, obwohl er es mit Teresa, der Kusine von Johnny Boy, sicher gerne täte. Die Separierung von Frauencharakteren gemäß katholischem Glauben in die beiden Extreme Heilige und Hure macht es Charlie unmöglich, sich Teresa ganz zuzuwenden. Sie wird nackt gezeigt, was damals im Kino gerade möglich geworden war und symbolisiert damit die Sünde. In einer schönen Strandszene diskutiert er sogar mit ihr über Franz von Asisi, auch wenn sie nichts davon versteht, und er weiß, dass im Grunde die anderen seine Welt nicht teilen. Er lebt in dieser Welt der Sünde und des Verbrechens und sein Verhältnis auch zu Johnny Boy zehrt offenbar davon, dass er nach Erlösung sucht. Zum Beispiel, in dem er diesen Spinner davor bewahrt, unter die Räder zu kommen. Niemand, der halbwegs sortiert ist, versteht Charlies Freundschaft zu Johnny.
Auch Charlies Onkel nicht. Er ist das Element „Karriere“, kann Charlie nach vorne bringen, wenn dieser a.) von Johnny wegbleibt und b.) sich von Theresa fernhält, deren Epilepsie noch einmal ein eigenes Element in diesem Geflecht der Moral oder der Versatzstücke einer vorgeblichen Moral darstellt.
Wie Charlie in vielen Gesten als Mann kenntlich wird, der mit seinem Glauben hadert, hat Roger Ebert in seiner zweiten Kritik zum Film, die dreißig Jahre nach dessen Entstehen erschien, sehr genau beschrieben und wir verweisen an dieser Stelle, weil es allenfalls wie abgeschrieben wirken würde, wenn wir die entscheidenden Gesten und Stilmittel (wie die in Rot getauchten Szenen in dem Momenten der Sünde) so detailliert wiedergeben würden, wie Ebert es in seiner Kritik getan hat.
Diesen hochinteressanten Subtext kann man sofort verstehen, wenn man entsprechen disponiert ist, also die Fähigkeit besitzt, genau hinzuschauen, und außerdem die religös-kulturellen Codes entschlüsseln kann.
Den Einfluss des Films auf das Hollywood-Kino hingegen kann man erst in der Nachbetrachtung richtig einschätzen, und da legen wir uns fest: In einer bestimmten Richtung, nämlich hin zum neueren Cop-Film oder –thriller, auch zu moderneren Gangsterfilmen bis hin zum Blaxploitation-Kino hat der Film einen enormen Nachhall gefunden. Im Vergleich zu den abgezirkelten Filmen der 1960er, die das Ende einer Ära im Hollywodkino markierten, wirkt er zwar stellenweise etwas rau und ungeschlacht, aber besticht mit seiner Atmosphäre und Dichte derart, dass man solche exzentrischen Figuren, wie wir sie hier sehen und wie sie wenige Jahre vorher undenkbar gewesen wären, einfach nachmachen und variieren musste.
Warum glauben wir, dass insbesondere der Einfluss aufs Schwarze Kino groß ist, obwohl Scorsese, das kommt auch in „Mean Streets“ wieder durch – wenn auch nicht so deutlich wie in „Taxi Driver“, kein erklärter Freund der Afroamerikaner ist und das durch die Haltung seiner Figuren ausdrückt? Wir gehen ein wenig in der Geschichte unserer Rezensionen für den Wahlberliner zurück und verweisen auf die Figur Shaft, die Richard Roundtree zwei Jahre vor „Mean Streets“ gespielt hat. Der Film „Shaft“ war ebenfalls ein Meilenstein auf dem Weg in die Richtung des modernen, besonders des schwarzen Kinos. Aber: So cool die Hauptfigur auch ist und so klasse gestylt, die Dialoge sind, bis auf einige moderne Kraftausdrücke, noch klassisch. Der Film wirkt nie dokumentarisch, wie aus dem Leben gegriffen. Die Bilder von New York sind schon relativ modern, sind denen nicht unähnlich, die Scorsese verwendet – allerdings vorwiegend in Nts“ Nachtaufnahmen, sowohl in „Mean Streets“ wie in „Taxi Driver“. Auch Filme wie „Dirty Harry“ und „French Connection“, die 1971/72 entstanden und wichtige Schritt auf dem Weg hin waren auf dem Weg zur heutigen Form des Großstadtthrillers, sind formal und dialogseitig konservativer, traditioneller.
Obwohl „Mean Streets“ weitaus weniger bekannt ist als alle Filme, die wir sonst in dieser Rezension genannt haben, ist sein Stil der prägnanteste – neben „Der Pate“, der visuell so exzellent gestaltet ist. Der aber fiktionaler wirkt als „Mean Streets“, obwohl er deutlich auf echte, bekannte US-Mafiosi der obersten Liga rekurriert. Vielleicht ist es das aber auch. Weil man weiß, dass Fiktion mit Andockung an die Wirklichkeit nicht so wahr wirken kann wie das Zeigen von Figuren, die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit agieren und die es geben könnte oder auch nicht. Bei ihnen hängt das Vorhandensein einer Authentizitätsvermutung ganz davon ab, wie sie dargestellt werden.
Was wir in beiden Mafia-Filmen sehen und was in „Taxi Driver“ ganz ins Gegenteil gedreht wird, sind die Familienbande, sind die Abhängigkeiten, sind die Systemregeln, denen die Figuren ausgesetzt sind. Nur De Niro hält sich nicht daran. Als Johnny Boy in „Mean Streets“, weil er seine Schulden nicht zahlt und außerdem den Kleinkredithai Michael, einen Freund wiederum von Charlie, weshalb dieser auch als Vermittler geeignet ist, vor Dritten beleidigt. Als Travis Bickle, weil er außerhalb des Systems steht und in ihm keine Heimat findet.
Die Ehre der Ganoven ist ein solcher Standard in Gangsterfilmen, dass man sie als eindeutige Tatsache annimmt, wenn man einen Gangsterfilm schaut. Wir erfahren in „Der Pate“, aber auch in „Mean Streets“, warum die Mafia erfolgreicher ist als andere auf Loyalität aufgebaute Bandensysteme. Weil es echte familiäre Bindungen gibt, die tief gehen und auch vom Katholizismus mitgetragen werden. Weil die Ehre durch eine sonderbar zweigeteilte christliche Moral gestärkt wird. Die schützt alle, die im System integriert sind und sich an dessen Regeln halten. Sie vernichtet diejenigen, die ausbrechen und sie gilt nicht gegenüber den Opfern der Gewalt und anderer Verbrechen, die mit einer geschäftsmäßigen Gleichgültigkeit behandelt werden, die Außenstehende fassungslos macht.
Dass Verbrecher, die systemtreu sind, ein besseres Gewissen haben als mancher Gelegenheits-Parksünder, davon dürfen wir ausgehen. Im Gegensatz zu Haufen, die zusammengewürfelt wirken, haben die Mafia-Familien, die schon strukturiert waren, als sie von Sizilien oder Süditalien in die USA aufbrachen, zudem den Vorteil, dass es neben dem Mikrokosmos auch noch eine Art Verfahren der Clans untereinander gibt. Dass es da häufig zu Schwierigkeiten gekommen ist, wissen wir allerdings auch – bis um 1940 herum und in einer legalistischeren USA als zur Prohibitionszeit das selbstzerstörerische Morden auf großen Konferenzen durch Systeme des Ausgleichs ersetzt wurde. Wenn man so will, eine Entwicklung wie in allen Rechtssystemen, die den Rachegedanken mit der Zeit durch Pragmatismus ersetzt haben.
Pragmatisch kann es zum Beispiel sein, einen nervenden Schuldner nicht zu erschießen, weil dadurch die Rückzahlung der Schulden nicht mehr möglich ist – sofern sie persönlicher Natur sind.
So dauert es in „Mean Streets“ auch recht lange, bis jemand handgreiflich wird oder gar die Waffe zieht. Die Akteure sind keine Desperados, sondern junge Männer, die in die Systeme eingebunden sind und unter Aufsicht älterer, mächtigerer Männer stehen. Es muss also zu einer unverzeihlichen Demütigung kommen, wie der Kreditgeber Michael sie hier durch Johnny Boy erfährt, damit sich der Hass in Schüssen entladen kann. Auch das wirkt auf uns weitaus realistischer als das exzessive Rumgeballere bei jeder Gelegenheit, das sich viele Filme leisten – und weitaus beeindruckender. Wie drei Jahre später in „Taxi Driver“ ist die einzige Schussszene auch der Höhepunkt und das – allerdings unausweichliche – Ende.
Finale
Das Ende ist unausweichlich und deshalb vorhersehbar. Anders als etwa in „Taxi Driver“ lässt Scorsese in „Mean Streets“ von dem Moment an, in dem Johnny anfängt, andere zu provozieren, keine Zweifel daran, was sich daraus entwickeln wird. Die Überraschung ist eher, dass nicht alle im Kugelhagel sofort versterben. Konsequent ist es allerdings, da die Rache sich nur auf die Person bezieht, welche die Ehrverletzung begangen hat.
Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass „Mean Streets“ vom erst dreißigjähren Martin Scorsese sich in Sachen Perfektion und Aktion nicht mit heutigen Genrefilmen messen kann, aber gerade das wirkt ja so realistisch.
Außerdem ist, wie bei Francis Ford Coppola, relativ gut zu sehen, dass es hilft, wenn man die Mentalität der Italiener, die in diesen Filmen zu sehen sind, aus eigener Anschauung kennt und eine gewisse Innensicht mitbringt.
„Mean Streets“ ist eine wirkliche Entdeckung für Leute mit Sinn für faszinierendes Aufbruchskino mit dem Leben abgeschauten Typen und wir geben schon deshalb eine Empfehlung, weil der Film in Deutschland nicht sehr bekannt ist, also eine Art Geheimtipp darstellt.
85/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)
Regie | Martin Scorsese |
Drehbuch | Martin Scorsese, Mardik Martin |
Produktion | Martin Scorsese, Jonathan T. Taplin |
Musik | Eric Clapton |
Kamera | Kent Wakeford |
Schnitt | Sid Levin |
Besetzung | |
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