Filmfest 771 Cinema
Dahin die Moral
Der große Coup ist ein Thriller von Don Siegel aus dem Jahr 1973 nach dem Roman „The Looters“ von John Reese. Der Film kam im Verleih der Universal Pictures am 19. Oktober 1973 in die US-Kinos. Walter Matthau wurde für diesen Film 1974 mit dem British Academy Film Award als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Frank Morriss war in der Kategorie Bestes Drehbuch für den gleichen Preis nominiert.
Ein Looping ist es nicht, sondern eine Rolle rückwärts, die Charlie Varrick mit dem Doppeldecker vollzieht. Ein Täuschungsmanöver. Ein echter Kunstpilotentrick. Und wer fällt darauf herein? Der Zuschauer.
Wenn ein Gauner so liebenswürdig-kernig dargestellt wird wie Charlie Varrick, dann will man unbedingt, dass er mit dem Grisbi, mit dem Kies, der Sore davonkommt. Und wir sind jetzt im Jahr 1973. Endlich geht das.
New Hollywood macht’s möglich, dass das Schlechte siegt, weil das noch Schlechtere, etwa dumme Kumpane und fiese Mafiosi, verliert. Und gegenüber der Polizei wirkt ohnehin jeder aufrechte Bankräuber wie ein Messias, denn er schützt sich selbst gegen die Proftigier, die ihm einst das Geschäft mit der kleinen Airline kaputtgemacht hat, die er aufziehen wollte. Die Großen, seine Gegner, das sind diejenigen, die von den Bank gestützt werden. Und die Banken, das sind diejenigen, die vom System gestützt werden, wenn sie sich mit den Großen verspekulieren.
Also ist Charlie Varrick unser Mann. Ist aber „Charlie Varrick“ auch unser Film? Dies und mehr klären wir in der –> Rezension.
Handlung (1)
Charley Varrick, ein ehemaliger Kunstpilot, hat sein wenig einträgliches Geschäft als selbstständiger Schädlingsbekämpfer satt. Gemeinsam mit seiner Frau Nadine und zwei weiteren Komplizen hat er deswegen schon wiederholt kleinere Banken überfallen. Da die Beute immer nur wenige tausend US-Dollar betrug, ebbte das Interesse von Sheriff und Staatsanwaltschaft an der Aufklärung der Überfälle meist schnell ab.
Als Charley und Nadine zusammen mit Al und dem etwas unbedarften Harman Sullivan eine Bank in New Mexico ausrauben, geschieht das Unvorhergesehene. Al und ein Wachmann der Bank werden erschossen, Varricks Frau erschießt zwei Polizisten, wird angeschossen und stirbt kurze Zeit später an ihren Verletzungen. Die Beute beträgt mehr als 750.000 US-Dollar. Da der Überfall in den Nachrichten kaum Erwähnung findet und zudem die Bank erklärt, die Höhe des geraubten Geldes betrage lediglich 2.000 Dollar, ahnt Varrick, dass es sich bei der Beute um Schwarzgeld der Cosa Nostra handelt, das in der kleinen Bank zwischengelagert wurde. Während er in diesem Fall zu höchster Vorsicht mahnt, unterschätzt der unbekümmerte Harman die Brisanz der Situation, in der sich beide von da an befinden: Er hat vor, das Geld mit vollen Händen auszugeben.
Der sadistische Auftragsmörder Molly wird vom Syndikat auf die Bankräuber angesetzt. Da die verantwortlichen Mafiabosse sich weigern, an „Zufälle“ zu glauben, vermuten sie einen Informanten aus den eigenen Reihen, weswegen der Unterboss Maynard Boyle in Verdacht gerät, in den Überfall verstrickt zu sein; es handelte sich um Geld aus seinem Verantwortungsbereich, das bei dem Überfall geraubt wurde. Boyle teilt dem Filialleiter Young mit, dass die Mafia beide für das Verschwinden des Geldes verantwortlich machen wird. Young, der Angst vor Folter hat, erschießt sich selbst. (…)
Rezension
Walter Matthau war genau das richtige Gesicht für die neue Zeit in Hollywood. Als er begann, im Filmgeschäft tätigt zu werden, durfte er aufgrund seiner Physiognomie nur ganz böse Gauner darstellen („Der Mann aus Kentucky“ gegen Burt Lancaster, 1955), („Charade“ gegen Cary Grant, 1963).
Doch in den späten 1960ern und den 1970ern waren Gesichter gefragt, nicht mehr nur schöne Fassaden. Das war Matthaus Stunde und er konnte zum vielseitigen Hauptrollen-Inhaber werden. Die Rolle des guten Unguten Charlie Varrick ist ihm erkennbar auf den Leib geschrieben und er spielt sich durch diesen ebenso klar wie ruhig inszenierten Film von Don Siegel.
Dieses Werk entstand zwei Jahre nach Siegels umstrittenem „Dirty Harry“, dessen politische Bewertung ebenso interessant ist wie das Verhältnis zur Gewalt, das ihn auszeichnet. Von heute aus betrachtet, haben jedenfalls Filme wie jener das Genre des Cop-Thrillers revolutioniert und alles auf den Stand gebracht, auf dem es mehr oder weniger verblieben ist – abzüglich der Originalität und Frische, die damalige Filme kennzeichnete.
Siegel bebildert in seinem Werk den impliziten Vertrag zwischen den Verbrechern und der Gesellschaft. Wir benötigen Verbrecher, um unsere eigenen Gewaltfantasien zu verwirklichen. Er findet den Beweis dieser Symbiose in unserem Rechtssystem, einem untauglichen Werkzeug, das wir selbst sabotieren. Seine Filme verspotten diese Strukturen. Die Polizeigewalt in Nur noch 72 Stunden (1968) ist korrupt. Terror in Block 11 und Flucht von Alcatraz (1979) greifen den Strafvollzug an. Sowohl Coogans großer Bluff als auch Dirty Harry parodieren die Soziologie, die Rechtsprechung und das Konzept der Rehabilitation (2).
In „Charlie Varrick“ ist die Polizeigewalt nicht korrupt, aber unfähig. Die Versprechungen des Sheriffs von Tres Cruzes (Drei Kreuze), wie der Ort des Banküberfalls witzigerweise heißt, wirken wenig überzeugend, zumal Varrick selbst die Mafia, die unerwarteterweise sein Gegenspieler geworden ist, für weitaus gefährlicher hält. Schließlich ist es auch deren Killer, der Varrick aufspürt, nicht die Staatsmacht. Varrick kann sich nur selbst resozialisieren, indem er den unerwarteten Geldsegen außer Landes bringt und ein neues Leben beginnt, mit einem gefälschten Pass, der im Film eine wichtige Rolle spielt.
Damit wir den unterspielenden Matthau als Varrick aufnehmen und uns für ihn interessieren können, erhält er die erwähnte Lebensgeschichte verpasst und verliert außerdem gleich zu Beginn seine Frau, mit welcher er früher seine Kunstflüge gemacht hat und später seine Raubzüge. Für Sentimentalität bleibt nicht viel Zeit, und sie im Fluchtauto zu verbrennen, ist bei aller Nachvollziehbarkeit der Aktion, sagen wir mal, recht herb. Schon der Bankraub verwehrt im Grunde den Zugang zu der Dreipersonen-Bande, die sich im Lauf des Films auf Varrick reduziert. Im Gegensatz zu früheren Überfällen gibt es in „Drei Kreuze“ nicht weniger als drei Opfer – einen Bankangestellten und zwei Polizisten, den vierten Mann in Varricks Bande lernen wir auch nicht mehr kennen, weil er gleich zu Beginn erschossen wird.
Trotzdem läuft daraufhin alles recht lakonisch ab und es gibt keine großen Diskussionen über die komplett andere Qualität des Geschehenen gegenüber früheren, kleinen Beutezügen mit vielleicht 2000 Dollar. Erst, als sich herausstellt, dass in „Tres Cruzes“ Mafiageld geparkt wurde, kommt es zu ernsthaften Dialogen zwischen Varrick und dem verbliebenen, charakterlich höchst unzuverlässigen Kumpel Harman Sullivan.
Wir könnten uns Varrick von seiner Seite als trickreicher Überlebenskünstler annähern, dazu wäre aber Voraussetzung, dass er sozusagen und gemäß bestimmten Theorien zum fiktionalen Schreiben als Figur „an seiner Maximalkapazität“ oder in deren Nähe agiert. Tut er aber mehrfach nicht. Im Grunde lockt er die Mafia sogar selbst auf seine Spur, indem er gegenüber einem Passfälscher, den er nie zuvor gesehen hat, ein paar mehr Worte sagt als unbedingt notwendig. Und diese kleine Ratte im Rollstuhl will dann doppelt kassieren. Bei ihm für den Tipp, wo er einen Pass bekommen kann, bei der Mafia für den Tipp, dass er eventuell den Millionendieb in seinem Laden hatte.
Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, mit dem Geld außer Landes zu kommen, solange niemand Varricks Identität kannte. Er hätte das Meiste sogar an einem sicheren Ort deponieren und als ganz normaler Tourist in Mexiko einreisen und dort das neue Leben schon einmal vorbereiten können – oder in welches Land auch immer. Denn wozu braucht jemand einen neuen Pass, dem noch gar niemand auf die Spur gekommen ist? Und nur durch die Pass-Angelegenheit gerät er in den Fokus der Mafia. Die Polizei hingegen braucht viel zu lange, bis sie wenigstens bemerkt, dass noch ein Auto der Bankräuber übrig sein muss. Wozu dieses Wissen gut sei soll, wo doch angeblich Profis am Werk waren, die alle Spuren beim Raub selbst beseitigen konnten? Wir erfahren es nicht.
Die Inhaltsangabe zum Film spricht auch deshalb davon, dass Varrick die Mafia für viel konsequenter in der Verfolgung hält als die Polizei, weil er bisher nur kleine Überfälle mit kleiner Beute verübt hat, an solchen Fällen würde die Staatsmacht schnell das Interesse verlieren. Mag so sein. Aber es müsste ebenso klar sein, dass das bei drei unschuldigen Todesopfern nicht so ist. Es geht ja nicht um die hohe Summe, von der die Polizei gar nichts weiß, sondern um diese drei einheimischen Toten, die jedem mit ihnen befreundeten Cop das Blut in den Kopf schießen lassen müssten. Deswegen wird die Angelegenheit ja auch in erster Linie als Mordfall angesehen. Trotzdem hat Varrick im Wesentlichen nur Bammel, die Mafia könnte ihn erwischen.
Wenn wir die Messlatte für Krimiplots zugrunde legen, die wir anhand von ca. 400 Rezensionen für die „TatortAnthologie“ des Wahlberliners entwickelt haben, würde Don Siegels Flucht-Movie ziemlich glatt durchfallen. Die Figuren handeln inkonsistent, das trifft letztlich auch auf den vorher so kompakt wirkenden Killer Molly zu, der auf dem Schrottplatz etwas den Überblick verliert und eine Situation so falsch deutet, wie Varrick es beabsichtigt hat. Wir verstehen die Idee von Varrick, der Mafia das Geld zurückzuerstatten, weil diese bekanntlich niemals ruht, aber wieso sucht er sich eine Gegend für die Übergabe aus, die nicht frei überblickbar ist – wegen dieses Schrottplatzes, auf dem man sich hervorragend verstecken kann?
Es gibt eine ganze Reihe von zweifelhaften Szenen, die in einem so geradlinigen, im Grunde einsträngigen Plot wie diesem deutlich auffallen – wohingegen wir beim Schreiben für die erwähnte Krimi-Rezenionsanthologie häufig damit konfrontiert sind, dass moderne, spektakuläre Inszenierungen und alle möglichen Nebenschausplätze den Durchblick erschweren und man auf diese Weise hofft, Handlungsklemmen verdecken zu können. Da ist Don Siegel ehrlicher, die Fehler des Films liegen klar auf der Hand.
Finale
„Charlie Varrick“ ist einer von vielen Filmen der frühen 1970er Jahre, die immer wieder erstaunen. Deshalb erstaunen, weil sie ganz anders sind, als das US-Kino noch wenige Jahre zuvor war. Der Alltag bekommt den Anstrich, den er in Hollywood heute noch hat. Die Sprache ist so rau und ungeschminkt, dass auch dies wenig später schon wieder zu eine Art übertriebenem Stil wurde, den z. B Quentin Tarantino zu einer eigenen Kunst in der Kunst verdichtet hat – ebenso wie die Gewaltorgien, die man so exzessiv anlegen kann, dass klar wird, dass man sich als Zuschauer in einem Universum befindet, das nur vordergründig banal und alltäglich wirkt.
Vincent Canby hat das in der „New York Times“ schon für Charlie Varrick mehr oder weniger angenommen, vielleicht auch, weil die Handlung nicht sehr realistisch wirkt, im Gegensatz zu den Typen, die wir sehen, mit ihren Fehlern und rudimentären Ideen vom Leben. Vielleicht ist dies die dritte Möglichkeit, sich dem Film anzunähern – es kommt nicht darauf an, ob das alles so funktionabel ist, was wir sehen, sondern auf die Darstellung einer Welt voller Geldgier, voller Verrat und es gibt kaum Momente, die erkennen lassen, warum der ganze Stress mit dem schönen Leben überhaupt so lohnenswert sein sollte. Aber das verstehen wir ja bei vielen Filmverbrechern nicht. Die meisten verstehen es selbst wohl nicht, weil sie Kinder eines Systems sind, in dem es Glück nur für Geld gibt. Letztlich gehört auch Charlie Varrick zu dieser Spezies, obwohl er ja auch ein Abenteurer ist, einer, der für den Applaus seiner Zuschauer gelebt hat, ohne dabei reich zu werden.
Am Ende haut er jedenfalls mit beinahe dem ganzen Geld ab nach Mexiko. Wir haben ihm schon immer mal wieder die Draumen gedrückt, dass dies klappt, weil diejenigen, die hinter ihm her sind, nun wirklich nicht fürs emotionale Andocken geeignet sind. Doch am Ende nehmen wir den Erfolg zur Kenntnis, treten in eine besondere Form der epischen Distanz zurück und denken: Ja, so war das, in den frühen 70ern, als das Kino auf eine Art wieder neu laufen lernte. Dabei entstanden viele Filme, die nicht die Perfektion des Altkinos aufweisen können. Aber sie anzuschauen macht schon deshalb Spaß, weil wir uns mittlerweile dieser Zeit geöffnet haben. Als unser Filminteresse erwachte, waren gerade die 1970er kein bevorzugtes Ziel bei der Reise durch die unendlichen Weiten des Kinos.
61/100
© 2022, 2015 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
(1), kursiv oder tabellarisch = Wikipedia oder zitiert nach der Wikipedia.
(2) John Baxter: Dirty Harry, in Tom Pendergast, Sara Perdergast (Hrsg.): International Dictionary of Films and Filmmakers: Films. St. James’s Press, Detroit 2000, zitiert nach Wikipedia, Seite zu Donald Siegel.
Regie | Don Siegel |
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Drehbuch | John Reese (Buch) Dean Riesner Howard Rodman |
Produktion | Don Siegel |
Musik | Lalo Schifrin |
Kamera | Michael Butler |
Schnitt | Frank Morriss |
Besetzung | |
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