Frontpage | Parteien, Personen, Politik | Muss die Berlinwahl des Jahres 2021 wiederholt werden?
Die Berliner Spatzen pfeifen es von den Dächern: Bei der Wahl am 26.09.2021 ist so viel schiefgelaufen, dass sie möglicherweise wiederholt werden muss. Ganz? Teilweise? Nur die Abstimmung zum Abgeordnetenhaus von Berlin oder auch die zur Bundestagswahl oder gar der Volksentscheid zu „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“?
Neu ist die Vermutung, dass es zu einer neuen Abstimmung kommen könnte, nicht, wie z. B. dieser Artikel der Berliner Zeitung belegt. Allerdings ist uns dieser Tatbestand noch nicht bekannt gewesen:
Gegen die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus legte nun auch Innensenator Andreas Geisel (SPD) Einspruch ein. Geisel hatte bereits im Oktober angekündigt, dass er einen solchen Schritt wegen diverser Pannen am Wahltag, darunter fehlenden oder falschen Stimmzetteln und der zeitweisen Schließung von Wahllokalen, nicht ausschließe. Auch die Landeswahlleitung hatte einen Einspruch angekündigt. (Berliner Zeitung, a. a. O.)
Ein gewagtes Spiel für die SPD, die sich offenbar zum Zeitpunkt des Einspruchs im Aufwind sah. Schauen wir aber auf die aktuellen Umfragewerte, wie Civey sie uns anbietet. Die SPD wäre nur noch drittstärkste Kraft hinter den Grünen und der CDU (23 / 20 / 17 Prozent). Insgesamt würde die rot-grün-rote Stadtregierung gegenüber der Wahl am 26.09. an Zuspruch verlieren, sie käme derzeit auf 52 Prozent. Für eine Neuauflage der aktuellen Koalition würde das natürlich reichen, aber Ernüchterung und Enttäuschung sind in der Stadt zu verspüren.
Besonders der Versuch der SPD, den Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ mit einer Kommission zu marginalisieren, in der es nach Ansicht vieler Beobachter:innen nicht fair zugeht, kommt bei den 59 Prozent der Menschen hier, die dafür gestimmt haben, sehr schlecht an.
BERLIN taz | Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) hat die Absicht der Enteignungskommission nicht generell öffentlich tagen zu wollen, gegen Kritik von Linken, Grünen und DW Enteignen verteidigt. „Wenn immer alles öffentlich sein muss, wird die Folge sein, dass man sich ins Hinterzimmer zurückzieht, wenn man etwas vertraulich miteinander besprechen muss.“ Generell aber solle „die Arbeit so öffentlich wie möglich stattfinden. Das wird die Kommission auch einhalten“, so Geisel zur dpa. Auch in der Absicht der Vorsitzenden Herta Däubler-Gmelin selbst an Abstimmungen teilzunehmen, sieht er kein Problem: „Dass wir Frau Däubler-Gmelin als Verfassungsrechtlerin und hochkarätige Juristin gewinnen und ihr dann sagen, sie darf nicht mitmachen, das ist absurd“, so Geisel gegenüber dem Tagesspiegel. (Q)
Eine hochkarätige Juristin, die sich ganz bestimmt nicht im Hinterzimmer (stimmt, es geht ja auch telefonisch!) mit Herrn Geisel abspricht, der schon das Werden der Volksabstimmung seinerzeit erheblich verzögerte und die beide entschiedene Enteignungsgegner:innen sind? Wir müssen uns das sarkastische Grinsen verkneifen und schön ruhig bleiben. Außerdem verändert sich das Verhältnis der Stimmen natürlich, wenn eine Enteignungsgegnerin plötzlich selbst mit abstimmen will, die als Moderatorin vorgesehen war. Im Grunde ist das ein Skandal, der von der SPD kaltlächelnd über die Köpfe der Bevölkerung hinweg inszeniert wird. Dafür wäre ein Ergebnis von 17 Prozent, hätten wir jetzt Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, noch zu viel.
Generell ist Franziska Giffey zumindest für die Bewohner:innen der Innenstadt die falsche Bürgermeisterin mit den falschen Prioritäten und dem viel zu konservativen Gepräge. Das strahlt negativ auf die gesamte Koalition aus. Zwischenzeitlich stand die aktuelle Berliner Koalition in Umfragen auch schon unter 50 Prozent und das gab es zwischen der ersten Auflage im Jahr 2017 und der Wahl 2021 nie, es wurden vielmehr Werte bis zu 58 Prozent für die drei Regierungsparteien erreicht, meist waren es zwischen 55 und 56 Prozent.
Noch dramatischere Konsequenzen hätte eine Wiederholung auch des Berliner Teils zur Bundestagswahl aber wohl für Die Linke. Einen von beiden Berliner Wahlkreisen, der zusammen mit einem Wahlkreis von Leipzig direkt an die Linke ging, wurde sehr knapp gewonnen. Momentan steht die Linke aber in Umfragen ca. 2 Prozent schwächer, als sie bei der Wahl abgeschnitten hat. Würde dieser Wahlkreis in Lichtenberg also an ein die Direktkandidatin oder den Direktkandidaten einer andern Partei gehen, würde die Linke nicht mehr mit Fraktionsstärke im Bundestag vertreten sein, denn dazu sind drei direkt gewonnene Wahlkreise erforderlich. Dann säßen nur noch der Leipziger direkt gewählte Abgeordnete und vielleicht eine weitere Person für die Linke im Bundestag.
Auch Die Linke würde zu Recht abgestraft, nicht nur für ihre katastrophale Vorstellung im Bund, sondern auch dafür, dass sie sich zwar in Berlin bravourös hinter DWenteignen gestellt hatte, als die Kampagne für die zweite Stufe, das Volksbegehren, lief und sich dabei organisatorisch stark einbrachte, aber nun nicht die Konsequenz zieht, nicht in eine Koalition einzutreten, in der die SPD alles dafür tut, diesen Willen der Bevölkerung zu missachten. Vielleicht war das zu Beginn der Koalitionsverhandlungen noch nicht hinreichend deutlich, aber so, wie die Dinge jetzt laufen, wäre wenigstens ein Austritt aus der Regierung fällig. Der Wohnungsmarkt ist nun einmal das größte Problem dieser Stadt und an seiner an der Möglichkeite zur Spekulation oder aber an Solidarität orientierten Gestaltung kann man sehr wohl festmachen, ob man mitregieren will oder nicht. Das heißt, die Kritik der Linken sollte jetzt auch darüber bestimmen, ob sie sich weiter als Steigbügelhalterin für die Kaste der Immobilienlobbyfreunde in der SPD hergibt und ein „Nein“ wäre die einzige konsequente und respektable Antwort.
Wenn die Enttäuschung der Menschen in Berlin über das, was gerade läuft, zu einer Koalition der abgewirtschafteten Lobbykratie-CDU mit der neoliberalen FDP und der Rechtsruck-SPD führen sollte, dann ist das ganz sicher nicht im Interesse der Mehrheit hier und der Dinge, die hier dringend angepackt werden müssen, die längst überfällig sind, wie zum Beispiel die Verkehrswende, aber es hat sich auch unter R2G bisher viel zu wenig getan. Und: Die Verwaltung ist immer noch so grottig wie eh und je, wir erleben das gerade wieder persönlich.
Das Chaos am Wahltag ’21 passt absolut ins Bild der hiesigen Administration. Wir würden übrigens bei einer Wiederholung anders wählen als damals. Sowohl auf Bundesebene, als auch die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus betreffend. Nur für den Volksentscheid zur Enteignung der Immobilien-Monsterkonzerne würden wir wieder stimmen. Auf jeden Fall.
TH