Filmfest 790 Cinema – Concept IMDb Top 250 of All Time (96) – Die große Rezension
„Traditionelle Detektivgeschichte in neuer, moderner Gestalt.“
Chinatown ist ein US-amerikanischer Kriminalfilm des Regisseurs Roman Polański aus dem Jahr 1974. Er wurde mit dem Oscar für das beste Originaldrehbuch ausgezeichnet und ist, so Polański in den 1970ern, eine „traditionelle Detektivgeschichte in neuer, moderner Gestalt“.[1] Der Titel bezieht sich auf Chinatown, den in den 1930er Jahren entstandenen Stadtteil von Los Angeles.
Die Worte des Regisseurs treffen den Kern sehr gut. Während des Anschauens dachten wir: In etwa so muss ein Film noir sein, wenn man ihn in der klassischen Zeit spielen lässt, aber filmisch über diese Zeit hinausgehen will. Damit wäre dann alles gesagt, oder? Natürlich nicht, deshalb steht mehr in der –> Rezension.
Handlung (1)
In Los Angeles herrscht 1937 eine lange Dürre. Jake Gittes, ein ehemaliger Polizist, arbeitet inzwischen als Privatdetektiv und betreibt eine florierende Detektei mit drei Mitarbeitern. Nach Abschluss einer Ermittlung wegen Ehebruchs kommt eine Dame aus der High Society in sein Büro, die sich als Mrs. Mulwray vorstellt und ihn beauftragt, ihren Ehemann, Hollis Mulwray, zu observieren, um ihm eine Affäre nachzuweisen. Nur zögernd nimmt Gittes den Fall an. Mulwray ist Chefingenieur der städtischen Wasserwerke, des Los Angeles Department of Water and Power, und Gittes beschattet ihn mehrere Tage. Mulwray scheint sich aber viel mehr für Kanäle und Flüsse zu interessieren als für andere Frauen. Eine ganze Nacht verbringt er alleine am Meer. Als Gittes ihn nach einigen Tagen doch mit einem jungen Mädchen erwischt, macht er Fotos von den beiden, die er seiner Auftraggeberin übergibt. Kurz darauf erscheint ein Artikel über die vermeintliche Affäre auf der ersten Seite der Lokalzeitung.
Daraufhin taucht Evelyn Mulwray in Gittes’ Büro auf, die sich als die wahre Ehefrau von Hollis Mulwray vorstellt. Sie teilt ihm knapp mit, dass sie ihn verklagen werde, und verschwindet wieder. Gittes will mit Mr. Mulwray direkt Kontakt aufnehmen, doch findet er ihn weder in seinem Büro noch zu Hause. Dort trifft er wiederum auf Evelyn Mulwray, die ihre Klage ohne genauere Gründe fallen lässt. Kurze Zeit später wird Hollis Mulwrays Leiche in einem der Kanäle gefunden. Offenbar war er einem Betrug der Wasserwerke auf die Spur gekommen. Obwohl man in Mulwrays Leiche Salzwasser feststellt, wird von der Polizei als Todesursache Ertrinken im Los Angeles River angegeben.
Gittes will der Sache nachgehen und stellt zunächst fest, dass der Fluss fast vollständig ausgetrocknet ist und die Wasserwerke nachts große Mengen Wasser ins Meer leiten. Als er einen dieser Kanäle untersucht, stellen ihn zwei Gangster und einer von ihnen schlitzt ihm zur Warnung den linken Nasenflügel auf, weshalb er eine Zeit lang einen Verband im Gesicht tragen muss. Schließlich beauftragt ihn Evelyn Mulwray, den Tod ihres Mannes zu untersuchen. Seine Ermittlungen ergeben, dass binnen kurzer Zeit reihenweise Kaufverträge über große Ländereien abgeschlossen wurden und dass das Umland systematisch ausgetrocknet wird. Bei einer Verfolgungsjagd kann er mit der Hilfe von Evelyn Mulwray entkommen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Romanze, aber sie erzählt ihm nicht die Wahrheit. Sein Misstrauen wächst, sodass er sie als Mörderin ihres Mannes verdächtigt.
Der Vater von Evelyn Mulwray, der mächtige und reiche Noah Cross, den sie aus nicht nachvollziehbaren Gründen fürchtet, erteilt Gittes den Auftrag, die verschwundene junge Begleitung des Verstorbenen aufzuspüren. Gittes nimmt diesen Auftrag ebenfalls an, ohne den von Evelyn Mulwray, den Tod ihres Gatten aufzuklären, zu kündigen. Er deckt ein Komplott auf, in dessen Zentrum Noah Cross steht, der frühere Geschäftspartner von Mulwray. Cross, der früher zusammen mit Mulwray Eigentümer der Wasserwerke war, lässt kostbares Trinkwasser an verschiedenen Stellen ins Meer leiten, um das Umland systematisch auszutrocknen und so die Landbesitzer zu Verzweiflungsverkäufen unter Wert zu bewegen. Das Land geht zunächst an nichtsahnende Strohmänner, um später in den Besitz von Cross und dessen Komplizen zu gelangen. Nach dem ebenfalls von Cross vorangetriebenen (von Mulwray aber abgelehnten) Bau eines Staudammes, dessen Finanzierung aus öffentlichen Mitteln durch die künstliche Wasserverknappung politisch ermöglicht wird, und der damit möglichen Wiederbewässerung des vertrockneten Landes steigt dessen Wert wieder an, und es könnte nun mit großem Spekulationsgewinn weiterverkauft werden. Mulwray kam diesen Zusammenhängen auf die Spur und wurde deshalb von Noah Cross ermordet.
Zum anderen Auftrag: Bei dem Mädchen, das Gittes in Begleitung von Mulwray fotografiert hatte, handelt es sich um Mrs. Mulwrays Tochter, die sie mit fünfzehn Jahren von ihrem eigenen Vater bekommen hat – sie wurde von ihm vergewaltigt. Gittes will Mrs. Mulwray und ihrer Tochter namens Katherine helfen, nach Mexiko zu fliehen. Zuvor konfrontiert er Noah Cross mit seinen Ermittlungsergebnissen. Gittes hatte im Gartenteich des Anwesens von Mulwray eine Zwei-Stärken-Brille mit einem zerbrochenen Glas gefunden und zunächst geglaubt, es handele sich um Mulwrays Brille, aber Evelyn sagte ihm, ihr Mann habe keine Zwei-Stärken-Brille getragen. Noah Cross gibt den Mord an Hollis Mulwray unverhohlen zu. Als Gittes ihn fragt, warum er als steinreicher Mann diese Verbrechen begangen habe, um noch reicher zu werden, entgegnet ihm Cross, dass ihn die Zukunft reize. Dann lässt er Gittes von seinem Leibwächter gefangen nehmen und zwingt Gittes, ihn zu Cross’ Tochter und Enkeltochter zu bringen. Diese befinden sich in Chinatown und wollen gerade nach Mexiko verschwinden.
Als sich Noah Cross seiner Tochter beziehungsweise Enkeltochter nähert, schießt die wütende Mrs. Mulwray auf ihn, verletzt ihn jedoch nur leicht am Arm. Bei der Flucht in ihrem Auto wird sie von Polizisten erschossen. Ihre heimliche Tochter erlebt das Ganze als Beifahrerin im Auto mit und wird traumatisiert von ihrem Vater/Großvater umarmt und weggebracht. Der ermittelnde Lieutenant Escobar lässt seinen alten Polizeikollegen Gittes, den er für einen Komplizen der vermeintlichen Mörderin Mrs. Mulwray hält, und seine Mitarbeiter laufen. Gittes versucht Escobar die Verbrechen von Cross zu erklären, bleibt aber ungehört. Seine Mitarbeiter führen ihn weg und einer sagt: „Vergiss es, Jake! Es ist Chinatown.“
Rezension
Roman Polanskis stilistische Varianz verblüfft immer wieder – wir haben zuletzt „Tanz der Vampire“ und „Rosemarys Baby“ rezeniert, die voneinander sehr verschieden – „Chinatown“ weit von beiden aber wieder so stark ab, dass man unmöglich einen Regiestil erkennen könnte, wenn man nicht wüsste, dass all diese Filme vom selben Künstler inszeniert worden sind.
Und Polanski ist ein Künstler, daran besteht kein Zweifel, er ist kein Routine-Regisseur, der sich stilistisch jedem Genre anpasst wie ein Chamäleon, sondern ein Autorenfilmer, der jedem Genre gerecht wird und, wie in „Rosemaries Baby“, Genres sogar weiterntwickelt – in jenem Fall war es der Horrorfilm mit spirituellem Hintergrund.
Ab den 1970ern und nach der Wandlung des Hollywoodkinos zu seiner heutigen Spielform bestand immer wieder Interesse an historischen Stoffen und Genres. Gerade der „Film noir“ passte gut in die Desillusionierung der Watergate-Zeit und wurde auf unterschiedliche Weise adaptiert. Groß angelegt und toll ausgestattet wie „Der große Gatsby“, gegen den „Chinatown“ bezüglich der besten Kostüme im Oscarrennen 1975 antrat und verlor. Oder als Remake („Fahr zur Hölle, Liebling“ mit Robert Mitchum aus 1975, das zugrundeliegende Buch von Raymond Chandler war 1944 schon einmal verfilmt worden („Murder, my Sweet“ / „Mord, mein Liebling“). Geht man nach der Durchschnittsbewertung der IMDb, ist wieder einmal das Original der bessere Film, trotz einer guten Darstellung von Mitchum im Remake.
Ein klassischer Film noir wird entweder aus Gangstersicht gezeigt, oder aus der eine Privatdetektivs, der Kontakt sowohl zur Unterwelt als auch zur Polizei hat. Dieses Netzwerk setzt in ihn in die Lage, schwierige Sachverhalte für solvente Auftraggeber zu klären. Manchmal ist auch alles ganz einfach an und man braucht dafür kein Insiderwissen – wie zum Beispiel das Fotografieren von Ehebrechern in flagranti. Das ist Basisarbeit, führt aber in einem Film noir garantiert zu Verwicklung und Gefahr für den Detektiv (auf Englisch: das „Private Eye“, ein „Detective“ ist hingegen ein Kriminalpolizist) und zur Aufdeckung übler Machenschaften, oft aus der mächtigen organisierten Kriminalität.
Genau solch einen klassischen Plot weist „Chinatown“ auf. Der Privatdetektiv J. J. Gittes (Jack Nicholson) bekommt den Auftrag, den Chef der Wasserwerke zu observieren – angeblich von dessen Frau. Aber diese Frau ist nicht seine Frau und der Chef der Wasserwerke kommt bald zu Tode und Gittes ist im Geflecht von Interessen gefangen, die sich um den „Wasserkrieg“ der 1930er Jahre im Großraum Los Angeles abspielen. Er lernt die echte Mrs. Mulwray kennen und deren Vater und erhält von beiden Aufträge, die einem dreifachen bzw. sechsfachen damaligen Durchschnitts-Jahresgehalt in den USA entsprechen, Spesen und Tagessätze nicht eingerechnet.
Gittes ist keiner von diesen armen Detektiven, die als Einmann-Betrieb oder bestenfalls mit einem Partner arbeiten, der im Verlauf des Films umgebracht wird, sondern ist gut im Geschäft, hat zwei Mitarbeiter und eine hübsche Bürokraft. Das setzt ihn in die Lage, die Recherche zu beschleunigen und einfache Aufgaben im Sinn moderner Arbeitsteilung abzugeben. Schon dies ist eine Weiterentwicklung im Vergleich zu den einsamen Wölfen, welche die Detektivbüros der 1940er in den Filmen bevölkern, die wirklich aus jener Zeit stammen.
Die Handlung fußt auf einem Originaldrehbuch, das den einzigen Oscar für „Chinatown“ einfuhr, hätte aber auch von Raymond Chandler sein können. In der Tat ist der Film, an den „Chinatown“ am meisten erinnert, „Der große Schlaf“ / „Tote schlafen fest“ von 1946, in dem Humphrey Bogart dessen Lieblingsfigur, den Privatdetektiv Philipp Marlowe spielt. Die Sache mit den beiden Damen, die im Film von 1946 allerdings echte Schwestern und nicht Schwester-Töchter sind, die Verstrickung des örtlichen Geldadels in dunkle Geschäfte und andere Details sind ähnlich. Es gibt aber auch große Unterschiede.
So ist die Handlung von „Tote schlafen fest“ selbst bei höchster Konzentration und etwas Genre-Kenntnis nur schwer durchschaubar, während „Chinatown“ sich perfekt und fehlerlos so auflöst, dass man alles nachvollziehen kann. Dass dabei hin und wieder talking heads eingesetzt werden, lässt sich zumindest vertreten, weil es nicht komplett unlogisch ist, dass Ergebnisse und Entwicklungen in Dialogen mit verschiedenen Personen dargelegt werden (Evelyn Mulwray, Ihr Vater, der Polizist und frühere Kollege von Gittes in Chinatown, Escobar). Wenn wir schreiben, es ist nicht komplett unlogisch, dann weist das schon darauf hin, dass es stellenweise besser gewesen wäre, Gittes hätte weniger preisgegeben. Doch eine gewisse Geschwätzigkeit haftet ihm an und er ist auch kein uneitler Typ, wie die Konfrontation mit dem Banker im Friseurladen beweist, den er mit Rasierschaum im Gesicht auf die Straße zwingen und dort verprügeln will, weil der Banker sich abfällig über Gittes‘ Ruf äußert. Der kontert zu Recht mit der Grausamkeit, die Bankern besonders eignet (2).
Was für uns eine interessante Handlung darstellt, die an imposanten Schauplätzen wie Talsperren und Abwassersystemen spielen, ist für die US-Amerikaner und besonders für die Kalifornier Teil ihrer Geschichte und jedermann im Land weiß sofort, dass der Ingeniur und Wasserwerksbesitzer Mulwray eine Fiktionalisierung des Wasserbaugenies William Mulholland ist, der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch seine Projekte das Wachstum der wasserarmen Stadt Los Angeles zur Millionenmetropole erst ermöglichte – und dabei ging es, wie meist bei großen Projekten in jenen Jahren, nicht immer legal zu. Der Druck, dem die Farmer in „Chinatown“ ausgesetzt werden, indem man ihre Ländereien bewusst austrocknen lässt, den gab es wirklich – und die Staudammkatastrophe, die im Film erwähnt wird, ebenfalls. Sie führte zum Ende der Karriere Mulhollands, nachdem 450 Menschen im Schlamm der sich talwärts wälzenden Wassermassen erstickt waren. Der Name Mulholland kam uns aber bekannt vor – offenbar wird trotz der Katastrophe, die auf einen technischen Fehler seinerseits zurückzuführen war, sein Wirken als weit überwiegend positiv gesehen und eine der berühmtesten Landstraßen um Los Angeles, die in Filmen ebenfalls vorkommt, wurde nach ihm benannt: Der Mulholland Drive.
Diesen Hintergrund sollte man kennen, um „Chinatown“ auch als Reflektion auf historische Gegebenheiten zu verstehen. Die Fiktionalisierung und Verlegung in die Zeit, in der die klassischen Films noir aufkamen, ist hervorragend gelungen. Die Settings und Sets sind fehlerfrei, die Dekors und Kostüme wirken fantastisch, vor allem im Vergleich zu ähnlichen Filmen, die immer irgendwelche groben Fehler zeigen (2).
Der Score von Jerry Goldsmith weicht von den Filmmusiken der 1940er schon klarer ab, entspricht aber sehr dem, was wir für einen Krimi als angemessen erachten: Die Situationen der Spannung werden ebenso treffend musikalisch untermalt wie die wenigen romantischen Szenen des Films zwischen Gittes und Evelyn Mulwray – insgesamt im Stil der Zeit sparsamer als 30 Jahre zuvor.
Die Story ist nicht mit überragender Geschwindigkeit gefilmt und sogar um einiges langsamer als die von „Tote schlafen fest“, den wir auch hier wieder als Vergleich für einen Spitzenfilm aus der echten Film-noir-Epoche heranziehen. Trotzdem ist der Film spannend und hat Höhepunkte wie die Nasen-Aufschlitzszene, in der Regisseur Roman Polanski höchst persönlich Jack Nicholsons in diesem Film richtig adrettes Äußeres beeinträchtigt, so dass Letzterer etwa die Hälfte des Films mit Nasenpflaster und / oder Verband zubringen muss. Dieser Bit-Part des Gehilfen eines korrupten Sheriffs ist die Art von Cameo, wie auch Alfred Hitchcock sie in beinahe jeden seiner Filme einbrachte – allerdings ist der Part von Polanski doch etwas größer und beinhaltet sogar etwas Dialog.
Wer meint, ein Film noir muss am Ende doch gut ausgehen, der hat Pech mit „Chinatown“. In der IMDb gibt es Reaktionen von Usern, die den Film deshalb geradezu vernichtend bewerten, weil ihnen das Ende nicht gefällt. In der Tat war des Drehbuch ursprünglich auf Happy-End für Gittes und Evelyn gepolt oder zumindest darauf, dass Evelyn entkommen wäre. Aber Polanski hatte Recht, als er den Drehbuchautor Robert Towne dazu nötigte, diesen Part zu ändern. Ja, natürlich, dass Evelyn aus nächster Nähe auf ihren Vater schießt und ihn nicht trifft, dafür aber ihrerseits von der Polizei ins Visier genommen wird und dabei eine Kugel nicht etwa den Reifen ihres Wagens trifft, sondern sie selbst, obwohl sie ziemlich geschützt und niedrig in diesem großen Auto sitzt, ist nicht perfekt gestaltet. Keine Frage, technisch ist dieser Moment der Schwächste im Film und emotional verstörend, weil man ein gutes Ende für Evelyn möchte, deren Handeln, wie wir erst recht spät erfahren dem Schutz ihrer jüngeren Schwester und Tochter dienen (3). Das Ende an sich ist kein Grund, den Film abzuwerten, für die Ausführung, die – wenn man weiß, dass es ursprünglich anders gedacht war – aufgesetzt wirkt, verliert „Chinatown“ einen halben Bewertungspunkt (3a).
Die Rollen fanden wir durchgehen gut besetzt, insbesondere ist Jack Nicholson, der ein Jahr später mit der Hauptrolle in Milos Foremans „Einer flog über das Kuckucksnest“ endgültig zum Superstar wurde, ein erstklassiger Schnüffler. Vielleicht nicht ganz so zynisch wie Bogey, aber investigativ, schlau und auch bereit, sich reinzuschmeißen und am Ende steht er mit leeren Händen da. Faye Dunaway als Evelyn hat uns leicht enttäuscht, auf hohem Niveau selbstverständlich. Ist es, weil sie nicht den jugendlichen Glanz versprüht wie in „Thomas Crown ist nicht zu fassen?“, sondern ein wenig verquollen wirkt? Vielleicht ist das nicht der perfekte Ausdruck, vielleicht liegt es auch daran, dass sie klar hinter Nicholson zurücksteht. Ob man John Huston für die Rolle ihres Vaters als die richtige Wahl ist ansieht, hängt davon ab, ob man einen so gerissenen und gewissenlosen Typ auch mit einer entsprechenden Attitüde und Visage ausgestattet wissen will, oder ob man das gutmütig wirkende, zerfurchte Gesicht des großen Regisseurs, der selbst einige fantastische Films noir gemacht hat („Asphaltdschungel“ haben wir bereits rezensiert) auch als Fassade durchgehen lässt und dass der Mann sich selbst mit jovialem Gesichtsausdruck als gefährlich schildert, als eine Art Durchbrechung der Fassade qua Dialog. Immerhin wird bei diesem väterlichen Typ vorstellbar, wie hinter der Fassade die Verkommenheit regiert und nach außen nicht auffällt, ja, dass man Evelyn wohl keinen Glauben geschenkt hätte, wenn sie in den 1920er Jahren einen so renommierten Mann der Vergwaltigung der eigenen Tochter bezichtigt hätte.
Natürlich ist in dem Film Sozialkritik und Kritik an der Rücksichtslosigkeit enthalten, die auch nicht durch den guten Zweck eines Projekts gerechtfertigt wird. Um dies klarzustellen, zeigen die Macher von „Chinatown“ die Figur Noah Cross, den Vater von Evelyn Mulwray, auch als einen in persönlichen Angelegenheiten, nicht nur geschäftlich rücksichtslosen und despotischen Menschen.
Einige weitere Aspekte des Films besprechen wir anhand von gegliederten Absätzen.
- Warum heißt der Film Chinatown, obwohl er nur eine Szene im Chinatown von L. A. hat?
- Zum einen, weil Gittes dort Dienst tat, als er noch Polizist war und von dort den jetzigen Polizeileutnant Escobar kennt, der es auf eine andere Art geschafft hat, aus Chinatown herauszukommen als Gittes – indem er bei der Truppe blieb und geduldig auf Beförderung und Versetzung wartete. Dass er dabei vielleicht korrumpiert wurde, ist eine andere Sache – es wirkt im Film aber nicht so. Weiterhin steht „Chinatown“ für eine Gegend, in der Gesetzlosigkeit und Verbrechen herrschen, im Film wächst sich das zum wichtigsten Symbol aus: Immer, wenn es darum geht, auf die kürzest mögliche Weise zu erklären, warum man von einer Sache die Finger lassen sollte oder ein Sumpf hinter allem steckt, in den man besser nicht hineinstolpert, dann heißt es: „Junge, dies ist Chinatown!“.
- Auch Gittes hat in seiner dortigen Zeit lieber Dienst nach Vorschrift gemacht, als sich zu vielen Gefahren durch zu intensive Polizeiarbeit ausgesetzt (4). Da ist Abscheu und Angst zu spüren, wenn es um Chinatown geht und man darf davon ausgehen, dass Gittes seinen jetzigen Job und seine Arbeit in eher ruhigen Gegenden von L. A. tatsächlich als moralisch weniger anstößig empfindet, mithin als „ehrlicher“, als in Chinatown auf Ordnung und Gesetz achten zu müssen.
- Es gibt einen noch direkteren Interpretationsansatz: Gittes wird in eine Angelegenheit hineingezogen, die er zunächst nicht durchblickt. In der Szene, in der Faye Dunaway ihn fragt, was er in Chinatown gemacht hat und er antwortet „so wenig wie möglich“, kann man eine Verknüpfung zu einem in den IMDb-Fakten genannten Bericht eines Polizisten vom Los Angeles Police Department herstellen, der sagt, er habe deshalb so wenig gemacht, weil er als angloamerikanischer Polizist kaum einen von den zahlreichen chinesischen Dialekten verstand, die in Chinatown gesprochen wurden – und um nicht auf Basis von Missverständnissen zu agieren, hae er sich so weit wie möglich zurückgehalten. Gittes hält sich im Film zwar nicht zurück, sondern ermittelt teilweise aus Neugier offensiver, als es unbedingt hätte sein müssen, aber auch für ihn ist das Geschehen lange Zeit kryptisch – vor allem in Relation zu der Tatsache, dass er nur eine einfache Affäre ermitteln und beweisen sollte.
- Das Ende der Figur Evelyn Mulwray ist tödlich, der Tod ereilt sie im Auto, ebenso wie Bonnie Parker, welche Faye Dunaway 1967 gespielt hatte und damit zum Star wurde. Zwar ist die Figur der Evelyn ambivalent, aber nicht mit derjenigen der Bankräuberin aus den frühen 1930ern zu vergleichen, die mit Clyde Barrow das Duo „Bonnie & Clyde“ bildete. Zwar sieht man Blut auf dem Sitz hinter Evelyn, aber es gibt im gesamten „Chinatown“ keine solch orgiastische Gewaltszene wie das Ende von „Bonnie & Clyde“ im Kugelhagel und in Zeitlupe gefilmt.
- Bezüglich des inzestuösen Verhältnisses zwischen Noah Cross und seiner Tochter Evelyn, als diese 15 Jahre alt war, sind wir oben davon ausgegangen, dass es sich um eine Vergewaltigung handelte – man erfährt es im Film nicht, daher bleibt es eine Interpretation, ebenso, was Cross nun mit Katherine, seiner durch Inzest gezeugten Tochter, vorhat, als er sie am Schluss an sich nimmt. Möglich wäre auch, dass Evelyn seinerzeit freiwillig mit ihrem Vater geschlafen hat – weil er ein mit allen Trick gewaschener und manipulativer Typ gewesen ist, dazu um einiges jünger als im Film. So liest es sich in einer Erklärung in den IMDb-Fragestellungen von Nutzern zum Film über die moralische Seite der Handlung Evelyns. Erstaunlicherweise kamen wir von selbst nicht auf die Idee der Freiwilligkeit – vielleicht, weil sie unserem Bild von sexuellem Missbrauch, das einem solchen Verhältnis nach unserem Verständnis als Mindesttabestand innewohnt, widerspricht.
- Schon bevor wir darüber gelesen haben, waren wir versucht, diesen Satz zu schreiben: Deutsche Krimiregisseure sollten sich das Drehbuch zu „Chinatown“ unbedingt anschauen und es analysieren, um festzustellen, dass Logik, Spannung und Komplexität einer Story nicht einander ausschließen müssen. Tatsächlich ist das Drehbuch, das als eines der besten Krimiskripts überhaupt gilt, Gegenstand von Lehrveranstaltungen in den USA.
- Im Drehbuch gab es eine Narration, die von J. J. Gittes stammt. Sie wurde jedoch im Film nicht umgesetzt, sodass der Zuschauer auf genau dem Erkenntnisstand ist wie Gittes anhand dessen, was er gerade erlebt – er referiert also nicht zusätzliche Informationen, über die er bereits verfügt oder schildert seine Eindrücke von Menschen, denen er begegnet. Auch diese subjektive und gleichzeitig aus der Subjektivität heraus erklärende Narration ist ein typisches Film noir-Element, das diesen Filmen oft eine besondere Dichte und Nähe selbst zu Protagonisten wie dem Versicherungsvertreter Walter Neff (Fred MacMurray) in „Double Indemnity“ gibt, einem der kühlsten und bösesten Films noir unter der Regie von Billy Wilder, der noch heute als einer der besten des Genres gilt (und in der IMDb Top 250 etwa 50 Pätze über „Chinatown“ rangiert, der dort ebenfalls einen derzeit sicheren Platz um 120 hat. Das AFI (American Film Institute) führt „Chinatown“ auf seiner bekannten Liste der 100 besten amerikanischen Filme auf Platz 21 (revidierte Liste von 2007) und im Genre „Mystery“ auf Platz 2.
- Ursprünglich plante Regisseur Roman Polanski eine Trilogie, die in den 1930er, den 1940er und 1950er Jahren spielen sollte, also auch einen Abriss über die Geschichte der Stadt Los Angeles in diesen drei Jahrzehnten. Teil zwei wurde dann unter der Regie von Jack Nicholson selbst realisiert („The Two Jakes“, 1990), Teil drei fand möglicherweise in Teilen Eingang in die Handlung von „Falsches Spiel mit Roger Rabbitt“ (1988). In Teil zwei geht es nicht mehr um Wasser, sondern um die Gasversorgung, in Teil drei sollte der Autobahnbau eine wichtige Rolle spielen. Im Hinblick auf die geplanten Fortsetzungen lehnte Jack Nickolson alle Detektivrollen ab, die ihm nach „Chinatown“ angeboten wurden, weil er in den Fortsetzungen spielen und innerhalb des Genres mit der Figur Gittes identifiziert werden wollte.
- In den 1930ern wurden unzähligen Menschen, vor allem Farmen, die Hypotheken gekündigt, die durch die „Große Dürre“ in besonders unseliger Kombination mit der „Großen Depression“ in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren – dadurch kamen insbesondere weite Teile des von Ackerbau gegprägten amerikanischen Mittelwesten unter Bankenkontrolle.
- Kleinere gibt es hier auch. Positiv hervorzuheben: Auch bei den Frisuren hat man sich einige Mühe gegeben, und das ist gerade bei den erheblichen Unterschieden der Haarmode in den späten 1930ern und den 1970ern aller Ehren wert. Die meisten Filme der Zeit sparten sich diesen Aufwand. Das Klingeln von Mrs. Mulwrays Telefon ist eher aus den 1960ern, die Polizeisirenen sind ebenfalls zu mordern und der wunderschöne cremefarbene Packard 12, den Mrs. Mulwray fährt, ist nach allen verfügbaren Quellen das schickere Modell aus 1938-39, nicht die 1937er Version des Convertible. Gerade dieser Fehler der zu modernen Autos kommt in Filmen leider sehr häufig vor, die vor der Gegenwart spielen, obwohl gerade er einfach zu vermeiden wäre. Wegen der Autos dachten wir auch, der Film spielt etwa 1940, doch die Fehler sind marginal, zumal das Design der Autos in den USA damals von Jahr zu Jahr evolutionär weiterentwickelt wurde, nicht durch einen auffälligen Modellwechsel alle 5-10 Jahre.
- Die Tatsache, dass ein Mann aus höheren Kreisen eine Tochter mit seiner Tochter zeugt, wurde in deutsche Fernsehkrimis adaptiert, wir kennen sie aufgrund unserer parallelen Reihe „TatortAnthologie“ u. a. aus einem Münster-Tatort.
(3a) Allerdings gibt es einen weiteren Aspekt, der nichts mit dem Genre zu tun hat: Für Roman Polanski war es schwierig, in der Stadt zu filmen, in der vier Jahre zuvor seine Frau Sharon von der Manson-Bande ermordet worden war und das bittere Ende des Films soll auch seinen Gefühlen in jenem Moment geschuldet sein.
- Auch solche Ansätze gibt es neuerdings in deutschen Tatorten wie „Brüder“, in denen Polizisten am Ende suggerieren, dass sie gerade im Einsatz sind, um nicht mit den Banden der OK in Berührung zu kommen, was nach ihrer Einschätzung tödlich für sie enden könnte.
Finale
„Chinatown“ ist einer der Topfilme seines Genres, obwohl er nicht den Vorzug hat, mit der dichten, kontrastreichen Schwarz-Weiß-Fotografie ausgestattet zu sein, welche zur Intensität der Originale einiges beitrug. Wir wissen nicht, wie ein ansonsten ähnlich gefilmtes Ergebnis in S/W auf uns gewirkt hätte, aber wir meinen, es ist richtig, dass man den Film, in dem auch andere Filmtechniken gegenüber den 1940ern modernisiert wurden (Kameraführung, Schauspiel inklusive Dialogen, Musik) als eigenständiges Werk einer neueren Zeit inszeniert hat.
Roman Polanski als Regisseur hat die Kraft, dieses Genre 30 Jahre nach seinem Höhepunkt wiederaufleben zu lassen und die Story überzeugt mit einer Konsequenz, die gerade den Krimiliebhaber aufs Höchste erfreuen dürfte. Das Ende kratzt ein wenig an diesem Bild einer perfekten Inszenierung, außerdem hätten wir uns die eine oder andere Rolle anders besetzt vorstellen können – diese Kleinigkeiten kosten den Film eine kleine Nichtigkeit, dennoch
90/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
Regie | Roman Polański |
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Drehbuch | Robert Towne |
Produktion | Robert Evans |
Musik | Jerry Goldsmith |
Kamera | John A. Alonzo |
Schnitt | Sam O’Steen |
Besetzung | |
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