Denn sie wissen nicht, was sie tun – Polizeiruf 110 Episode 322 #Crimetime 1128 #Polizeiruf #Polizeiruf110 #VonMeuffels #BR #München #Tun #Wissen

Crimetime 1128 – Titelfoto © BR, Bella Halben

Denn sie wissen nicht, was sie tun ist ein Fernsehfilm aus der ARD-Krimireihe Polizeiruf 110. Der Film wurde im Auftrag des BR von der Claussen+Wöbke+Putz Filmproduktion GmbH produziert und am Freitag, den 23. September 2011 erstmals im Ersten ausgestrahlt. Es ist der zweite Fall des Münchner Polizeiruf-Ermittlerduos von Meuffels/Burnhauser.

Der zweite Einsatz von Hans von Meuffels als Kommissar im Münchener Polizeiruf war möglicherweise der Film der Reihe mit der geringsten Sehbeteiligung aller Zeiten. Nur 2,7 Millionen Zuschauer waren dabei, als dieser Film erstmals gezeigt hatte. War er so schlecht? Und hätte man das vorher wissen können? Über den Grund des geringen  Zuschauer:innenzuspruchs und anderes schreiben wir in der –> Rezension.

Handlung (1)

Kommissar von Meuffels verhört einen geständigen Sexualverbrecher, der eine 12-Jährige vergewaltigt hat. Als von Meuffels den Verhörraum für einen kurzen Moment verlässt, ergreift der Täter die Dienstwaffe des bewachenden Polizisten und erschießt sich damit selbst. Schwer betroffen von dieser Tat ist von Meuffels im Begriff, das Polizeipräsidium zu verlassen, um Feierabend zu machen. Er begegnet dabei zwei frisch verhafteten jungen Taschendiebinnen, die davon berichten, dass sie auf einem S-Bahnhof in einem Rucksack eine Bombe entdeckt hätten. Während andere Beamte das nur als Schutzbehauptung der Mädchen sehen, erkennt von Meuffels die Bedrohungslage und rät zu einem umfassenden Einsatz. Der Polizeiführer vom Dienst vor Ort entschließt sich daraufhin, den Einsatz doch auszulösen, da ihm das Risiko als zu groß erscheint.

Mit Auslösung des Alarmes wird die Polizeimaschinerie in Gang gesetzt und die Ermittlungen zum potentiellen Täter laufen an. Während erste Ergebnisse auf den Flughafen München als möglichen Anschlagsort hindeuten, wird bei der Auswertung der Überwachungskameras entdeckt, dass der Tatverdächtige die S-Bahn vorher verlassen hat. Als mögliches Ziel wird nun ein Fußballspiel identifiziert. Von Meuffels und seine Kollegin Burnhauser machen sich auf den Weg zum Stadion. Als beide gerade ankommen, entdecken sie den Tatverdächtigen im Gedränge in einem Fußgängertunnel der Allianz Arena. Bevor sie den Täter ergreifen können, kommt es jedoch zur Explosion der Bombe. Als sich der Staub im Tunnel legt, wird das Ausmaß der Katastrophe sichtbar: es gibt Tote und Schwerverletzte, desorientierte Leichtverletzte, die im verstaubten Tunnel herumlaufen; auch von Meuffels und Burnhauser sind nur leicht verletzt. Neben von Meuffels liegt ein junger Mann unter Betonteilen, schwerst verletzt und eingeklemmt. Er betreut ihn, zitternd und sichtlich von der Explosion gezeichnet, bis die Rettungskräfte eintreffen. Notärzte und Rettungssanitäter beginnen mit der Sichtung der Verletzten und deren Versorgung.

Von Meuffels erinnert sich an einen möglichen zweiten Täter und spürt die Gefahr, dass es noch einen zweiten Anschlag geben könnte. Er beauftragt Burnhauser, sich mit dieser Info an die Einsatzleitung zu wenden. Diese hat derweil ihre Arbeit aufgenommen: Ein Krisenstab aus Polizei, Staatsschutz, Landeskriminalamt, Verfassungsschutz und das Innenministerium versucht, die Hintergründe der Tat zu ermitteln: Wer ist der Täter? Gibt es weitere Täter? Handelt es sich um einen Terroranschlag oder die Tat eines Verwirrten? Während von Meuffels immer noch die Hand des Eingeklemmten hält, macht ihm der Notarzt klar, dass der junge Mann keine Überlebenschance mehr hat. Entgegen der Weisung der Einsatzleitung bleibt er bei dem Jungen, den er zu betreuen und befragen versucht. Als dieser arabisch zu beten beginnt, wächst in von Meuffels der Zweifel über die Identität des Jungen. Die Rettungsarbeiten schreiten – von den Augen der Medien beobachtet – voran, 23 Tote werden gezählt, zahlreiche Schwerverletzte wurden geborgen – es ist der schwerste Anschlag in Deutschland seit dem Attentat bei den Olympischen Spielen 1972. (…)

Rezension

Das Geschehen ist so dramatisch, dass es offensichtlich auch die längste Handlungsbeschreibung seit vielen hundert Wikipedia-Jahren erfordert hat, wir haben sie am Ende gekürzt. Der Film hatte vermutlich den bis dahin höchsten „Bodycount“ in einer der beiden Fernsehreihen Tatort und Polizeiruf, seitdem fand ein gewisser Überbietungswettbewerb statt, der m. W. im Jahr 2015 mit „Im Schmerz geboren“ seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat, einem Murot-Tatort mit über 40 Toten. Hier sind es 23 und der Grund für die geringe Sehbteiligung war, dass man den Film nicht, wie üblich, um 20:15 Uhr (Freigabe ab 12 Jahren) gezeigt hat, sondern ab 22:00 Uhr. Dieser Film hat alles weitergedacht, was bis dahin geschah. Und manches voraus. Leider.

Es bleibt bei heutiger Betrachtung nicht aus, dass man an die Attentate auf dem Breitscheidplatz in Berlin (2016), an den Anschlag vor dem Olympia-Einkaufszentrum in München (9 Tote), an Taten, die anders ausgeführt wurden und bis heute anhalten. Einen Bombenanschlag nach dem Muster einiger anderer europäischer Großstädte gab es bisher in Deutschland nicht. Ihnen ist der Film nachgebildet, weist aber auch auf die bleibende Gefahr durch irregeleitete Attentäter hin.

„Nein, Entspannung sucht man hier vergeblich. Die Kunst dieses ‚Polizeiruf‘ liegt allerdings darin, wie der Druck der Gewalt in ein nervenaufreibendes Kammerspiel verlagert wird. Regisseur Hans Steinbichler, der mit Hauptdarsteller Brandt schon das Ödipaldrama ‚Die zweite Frau‘ gedreht hat, konfrontiert den Ermittler bald mit dem Täter (Sebastian Urzendowsky), der unter den Trümmern liegt, die er durch seine Bombe verursacht hat. Mitleid mit dem Massenmörder? Keineswegs. Aber mit der Annäherung an den Sterbenden wird eine interessante Facette des neuen Terrorismus herausgearbeitet. Der Attentäter, ein junger Deutscher, der zum Islam konvertiert ist, erinnert in vielen Aspekten an die deutschen Islamisten der Sauerlandgruppe. Adoleszenz und Ideologie, Weltschmerz und religiöser Wahn sind auch beim Mörder in diesem radikalen ‚Polizeiruf‘ fatal verschmolzen. Warum sich jugendliche Fernsehzuschauer damit nicht beschäftigen dürfen, bleibt das Geheimnis der bayerischen Jugendschützerin.“ – Christian Buß: Spiegel Online[9]

Wie man aus einem Polizeiruf über ein Terrorattentat einen Dialogfilm im Staub eines beschädigten Münchener U-Bahn-Tunnels machen kann, das wäre nie so spannend geworden, wenn es nicht den Trick mit dem zweiten Attentäter gäbe, der noch unterwegs sein soll. Allerdings ist dieses Handlungselement auch der größte Flaw des Films: Offenbar wird die Leiche des zweiten jungen Mannes aus dramaturgischen Gründen liegen gelassen, während alle anderen Verletzten und Toten gerettet oder geborgen werden – damit man erst am Ende feststellen kann, dass die angenommene Gefahr eines weiteren Anschlags gar nicht mehr besteht. Allein durch diesen herben Logikfehler ist es zumindest für mich unmöglich, dem Film zum Beispiel als erstem Polizeiruf 10/10 zu geben, so beeindruckend er auch sonst gemacht ist.

„Schade nur, dass dieser ausgezeichnete Krimi, von Hans Steinbichler mit grandiosen Protagonisten (Brandt, Sebastian Urzendowski, Anna Maria Sturm) als bedrückendes Kammerspiel inszeniert (Kamera: Bella Halben, Buch: Christian Jeltsch), so lediglich wohl von drei Millionen Zuschauern gesehen wird, statt von acht am Sonntag in der Primetime. Sicher, da sind die Schreie der Opfer im Tunnel, die mit Staub und Blut bedeckten Menschen im Lichtgeflacker. Verstörende Bilder, die umso nachdrücklicher wirken, als in Deutschland die Angst vor einem solchen Attentat umgeht. Man muss sich nur die Vorsichtsmaßnahmen beim Papst-Besuch in Berlin anschauen. […] Die Grimme-Preis-Jury wird diesen Film wohlwollend zur Kenntnis nehmen.“ – Markus Ehrenberg: tagesspiegel.de[8]

Als hingegen der Attentäter Anis Amri einen Lastwagen mitten in einen Weihnachtsmarkt gesteuert hat, der auf dem Berliner Beitscheidtplatz in Charlottenburg stattfand, gab es überhaupt keine Vorsichtsmaßnahmen und es hat wieder einmal ganz normale Menschen aus der Zivilbevölkerung getroffen. Ein wenig erfreuliches Bild fällt bis heut auf die Hintergründe, denn Amri stand bereits unter Beobachtung durch den Staatsschutz, war als Gefährder eingestuft und auch in „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ war der junge Attentäter bereits im Visier des Verfassungsschutzes. Die Verantwortlichen versuchten im Laufe der Ermittlungen, ihre Fehleinschätzung des Anis Amri kleinzureden, aber nach heutigem Wissen hatte er sehr wohl Verbindungen zum IS (zum Islamischen Staat). Deshalb ist es geradezu prophetisch, wie in „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ der Verfassungsschutz gleichermaßen inkompetent wie präpotent wirkt und die Frau om LKA LKA „Leider keine Ahnung“ am Handy mit familiären Angelegenheit befasst ist, während der größte Bombe nach dem Zweiten Weltkrieg in München 23 Todesopfer gefordert hat. Wenn dieser furchtbare Anschlag schon passiert ist, dann will der Sinnsucher von Meuffels wenigstens versuchen, den zweiten zu verhindern und gerät dabei in einen Konflikt mit einer robusten Polizistin, aber beide teilen die Einschätzung, dass die vollbesetzte Allianz-Arena, neben der sich das Geschehen zuträgt, von den Zuschauer:innen eines Fußballspiels nicht verlassen werden darf, wegen der Gefährdungslage.

„Ein schlechter Tag für Hanns von Meuffels. Morgens erschießt sich ein Kinderschänder vor seinen Augen. Dann geht eine Bombe hoch. Bleibt es bei der einen? „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ ist ein „Polizeiruf“ und er ist zugleich ein Versuch über den Glauben, er erzählt von falschen politischen Aktionen und einem richtigen Weg der Menschlichkeit und einer Schuld, die sich kaum wieder gut machen lässt. Außerdem zeigt Steinbichlers Kammerspiel, wie es im Angesicht des Todes zu einer Um(be)wertung der ‚Dinge‘ kommen kann. Ein politisches Erlöserdrama von bleierner Schwere, das sicher nicht jedermanns Sache ist!“ – Rainer Tittelbach: tittelbach.tv[7]

Damit haben wir mit dem Christian Buß vom Spiegel und Tittelbach TV auch zwei Stimmen zu Wort kommen lassen, die wir immer berücksichtigen, wenn es darum geht, Vorschauen für aktuelle Tatort- und Polizeiruf-Premieren zu erstellen, weil sie mit die besten Analysen zu diesen Krimireihen bieten. Es gab durchaus Momente, in denen mir von Meuffels Forschen nach den genauen Hintergründen, den Motiven des Täters nicht besonders gefiel, denn ich hatte die Bilder der vielen Opfer im Kopf, die aus dem U-Bahn-Schacht getragen wurden, tot, schwer verletzt, die Schreie im Ohr, die man uns nicht erspart, die Verzweiflung und Panik der Menschen. Keine Frage, dass der Film gut gemacht ist und realistisch wirkt. Man konnte seit 9/11 auch genug Fälle dieser Art studieren und die Angst der Menschen vor solchen Attentaten war und ist berechtigt, auch wenn islamistisch fundierte Anschläge in Europa zuletzt nachgelassen haben. Vemutlich, weil Corona es schwerr macht, geeignete Ansammlungen mit vielen Menschen zu finden. Sorry für den Sarkasmus, aber es gibt nun einmal nichts, was solche Taten rechtfertigt. Insbesondere nach 9/11 war „selbst schuld“, an die USA gerichtet, in linken Kreisen durchaus ein Thema und wurde ziemlich mitleidlos besprochen. Hinzu kamen die Verschwörungstheorien, die unterstellten, dass die USA selbst 3.000 ihrer Bürger:innen umgebracht haben, um ihren „Kampf gegen den Terror“ begründen zu können, der in Wirklichkeit ein geostrategischer Offensivschachzug war und ist.

Aber was immer auch die wahren Hintergründe für Anschläge sind, die Opfer werden in solchen Überlegungen entweder nicht beachtet oder instrumentalisiert. Es gibt den leider nicht unwahren Spruch, die sozialen Medien betreffend, wenn es wieder einmal zu einem Tötungsdelikt kam, das möglicherweise politisch oder religös motiviert war: „Jetzt hoffen die Rechten wieder, es war ein Migrant und Islamist, die Linken hingegen, es war eine Kartoffel.“

In der Realität, so gut der fiktionale Anschlag von München auch gefilmt ist, wird es leider eines wohl kaum geben: Einen Polizisten, der so ist wie von Meuffels und dadurch auch in der Lage, gesellschaftspolitisch eine Position einzunehmen, die auf einer Sonderstellung fußt: Er kann aus erster Hand berichten, er hat als einziger mit dem Attentäter gesprochen und sollte sich nun auch öffentlich Gedanken darüber machen, wie solche Attentate verhindern könnten. Allerdings gibt es im Film dieses „Danach“ nicht und es hätte sicherlich zu Kontroverseen geführt. Außerdem heißt verstehen wollen nicht, Verständnis für eine Tat in dem Sinne zu haben, dass man sie als eine nachvollziehbare Reaktion auf die Umstände erklärt. Die größte Gefahr religiösen Wahns einerseits, vor allem bei den ausführenden Tätern und manipulativer Verwendung von Religion für politische Zwecke seitens der Hintermänner und einiger Hassprediger liegt aktuell jedoch nicht in einem Anschlag, wie er hier gezeigt wird, sondern darin, welches Weltbild bei Millionen von Menschen auch in Deutschland gefödert werden.

Finale

Krimis, in denen dies angerissen wird, gibt es, aber m. W. in den beiden Premium-Krimireihen der ARD keinen Film, der sich getraut hätte, die Gefahr für die Demokratie, die davon ausgeht, konsequent zu thematisieren. Letztlich sind diejenigen die Schuldigen, die junge Menschen verführen und instrumentalisieren, das gilt in allen ideologischen Zusammenhängen, es galt auch für diejenige Generation, die ihre Prägung in der NS-Diktatur erfuhr und diejenigen, die diese Einschwörung auf falsche Ziele organisierten, sind die eigentlichen Verbrecher. Deswegen können wir viel über die Attentäter nachdenken, wie von Meuffels das macht, aber solange niemand bereit ist, denjenigen, die Hass und Menschenverachtung medial und auf Veranstaltungen aller Art verbreiten, das grausame Handwerk zu legen, wird es immer wieder solche Veblendete geben, denen man verkaufen kann, sie kommen ins Paradies, indem sie Menschen umbringen. Dass es solche Anschauungen überhaupt gibt, sagt einiges über uns alle aus und selbstverständlich tragen die hiesigen Gesellschaften eine Mitschuld an dem Hass, der sich immer wieder durch Gewaltakte Bahn bricht.

8,5/10

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2021)

(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Hans Steinbichler
Drehbuch Christian Jeltsch
Produktion Jakob Claussen,
Uli Putz
Musik Hans Wiedemann
Kamera Bella Halben
Schnitt Susanne Hartmann
Besetzung

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