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Zum 32. Mal jährt sich heute die Wiedervereinigung Deutschlands, liebe Leser:innen. Was denken Sie? Bedeutet wiedervereinigt auch vereint? Selbstverständlich hat Civey dazu eine Umfrge erstellt, ich glaube, das machen sie mittlerweile jedes Jahr und es ist ja auch interessant, die Veränderungen im Meinungsbild zu messen.
Der Begleittext aus dem Civey-Newsletter:
Sind Ost- und Westdeutschland Ihrer Meinung nach 32 Jahre nach Ende der Teilung vereint?
Ost- und Westdeutschland sind seit 32 Jahren offiziell wieder vereint. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), legte letzte Woche seinen Jahresbericht vor. Darin spricht er von „Aufwind” im Osten und verweist dabei auf internationale Investoren wie Tesla und Intel. Diese schaffen Arbeitsplätze und stecken Milliarden in die ostdeutschen Länder, die viel Fläche, Fachleute und grüne Energie zu bieten haben.
Zugleich erwartet Schneider soziale Verwerfungen und politische Auseinandersetzungen in Ostdeutschland wegen der stark steigenden Energiepreise. Die Inflation treffe den Osten ihm nach besonders hart, da die soziale Lage dort fragiler sei. Das zunehmende Misstrauen in die Demokratie nennt er „alarmierend“. Es sei wichtig, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen. Mehr Ostdeutsche in Führungspositionen, Regionalentwicklung und Extremismusbekämpfung seien weitere Ziele Schneiders.
Das verzögerte Zusammenwachsen ist auch mit der nach wie vor anhaltenden wirtschaftlichen Ungleichheit verbunden. Noch immer bleiben Vermögens- und Einkommensverhältnisse in Ostdeutschland weit hinter denen im Westen zurück. Dazu kommen die infrastrukturellen Folgen der Abwanderung. Trotz aller Differenzen bewerten die meisten Deutschen die Wiedervereinigung als positiv.
Trotz dieser positiven Bewertung wiederum finden aktuell nur 13,5 Prozent der Abstimmenden, Deutschland sei komplett wiedervereint. Man kann es differenzierter sehen. Oder umgekehrt: das funktioniert ja nun gar nicht. Es ist auch als Statement gedacht. Wir haben klar mit nein gestimmt. 32 Jahre, das ist eine Spanne, länger als die Zeit vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des zweiten. Das ist schon beinahe so lange, wie die beiden deutschen Staaten während der Teilung bestanden.
Als Titelbild haben wir das Logo gewählt, das ein Bundesland im Osten für den heutigen Tag entwickelt hat hat.
Es handelt sich um das erste heutige Ost-Bundesland, das wir 1990 besucht haben, unser erster Ausflug in die Noch-DDR nach der Maueröffnung. Zu dem Zeitpunkt war bereits klar, dass die Wiedervereinigung kommen würde. Berlin kannten wir damals noch gar nicht. Dass auf dem Logo eine Zahl verkehrtherum zu sehen ist, finden wir sehr sinnbildlich, denn einiges läuft in diesem Jahr verkehrt. Besonders bei den Roten. Für die Gelben hingegen ist alles prächtig, denn das Kapital streicht gegen unendlich tendierende Krisengewinne ein.
Nein, schon klar: Es soll sich um ein Herz handeln, das aus „22“ gebildet wird. Daran, dass wir zweimal hinschauen mussten, um das zu erkennen, kann man einiges ablesen, unsere Einstellung zu diesem Tag betreffend. Dass man sich in Thüringen dieses Logo ausgedacht hat, liegt daran, dass dieses Bundesland im Südosten heute an der Reihe ist mit der Ausrichtung der zentralen Einheitsfeiern.
Kaum vorstellbar, wie viel Zeit vergangen ist, ohne dass es zu einer merklichen Angleichung zwischen Ost und West kam. Zumindest trifft das auf die Mentalität zu, wirtschaftlich hat sich gewiss mehr getan. Und wir haben bezüglich der ungleichen Vermögensverhältnisse auch wenig Sorge, dass der Angleich sich beschleunigen wird: Im Westen haben viele junge Leute ebenfalls nicht mehr die Möglichkeit, aus eigener Kraft Vermögen aufzubauen. Die großen Erbschaften sind es vor allem, die den Unterschied erst einmal fortschreiben. Und selbstverständlich ist das ungerecht, denn im Osten war es in der Regel nicht möglich, so viel Geld anzusammeln, dass die nächste Generation davon hätte sorgenfrei leben können.
Daher haben wir die Klassen im Blick, egal, wo ihre Angehörigen in Deutschland oder auch anderswo auf der Welt leben, nicht die Herkunft. Gute Gründe zur Enttäuschung über den Lauf und den Stand der Dinge haben sicher beide Seiten, aus ihrer jeweiligen Sicht. Deshalb ist es 32 Jahre nach der Wiedervereinigung müßig, es zu bestreiten und obsolet, den ganzen Tag nur darüber nachzudenken, wie das wohl passieren konnte. Wir müssen nach vorne schauen und es endlich besser machen. Was nicht bedeutet, dass die DDR-Geschichte nicht aufgearbeitet werden muss, vor allem von jenen, die so tun, als sei dies das bessere Deutschland gewesen.
War es nicht, sonst würden sich die Menschen dort besser stehen und wäre die Demokratie dort stabiler. Und im Westen wäre nicht trotz massiver Investitionen, die in den Osten flossen und dann im Westen fehlten, immer noch so viel mehr Substanz vorhanden. Westdeutschland alleine wäre immer noch eines der Länder mit dem höchsten BIP pro Kopf unter allen größeren Volkswirtschaften, notabene unter jenen Ländern, die sich nicht auf das Abziehen von Kapital aus anderen Ökonomien verlegt haben. Dabei ist nicht eingerechnet, was im Zuge der Wiedervereinigung verpufft ist und nicht im Westen investiert wurde, es geht nicht um einen hypothetischen Wert, nicht um Aufrechnung, sondern um die schlichte Realität.
Hier sieht man beide Seiten der Medaille: Obwohl alle Ost-Bundesländer massiv zugelegt haben, seit der Wiedervereinigung, stehen sie im Ranking immer noch alle ganz hinten. Vor einigen Jahren sah es noch so aus, als ob insbesondere Sachsen das erste Ost-Bundesland wäre, das in die Phalanx der Westländer einbrechen und schwächere Staaten wie Bremen und das Saarland hinter sich lassen könnte. Gleichwohl sind die Unterschiede über die Jahre deutlich geringer geworden und die Lebensverhältnisse haben sich gemäß dem Auftrag des Grundgesetzes aneinander angeglichen. Insofern war trotz vieler Reibungsverluste aller Art die Förderung des Ostens nicht erfolglos. Aber die große Vermögensungleichheit, die beeinflusst natürlich auch die Stimmung, gerade in Zeiten wie diesen, in denen es nicht mehr vorwärts geht, sondern die meisten Menschen auf der Stelle treten oder gar ärmer werden. Und daran lässt sich erst einmal nicht viel ändern, zumindest nicht ohne massive Systemeingriffe, die sich bisher keine Regierung getraut hat. Das Problem spiegelt sich in der Wirtschaft: Kein einziger DAX-Konzern hat seinen Hauptsitz in einem der östlichen Bundesländer. Dieser Unterschied spielt wiederum beim Steueraufkommen eine wichtige Rolle. Das bedeutet, der Osten ist weiter auf Transfers angewiesen und darf sich freuen, dass die EU ihn als förderungswürdig identifiziert hat, ähnlich wie die Konversionsstaaten der Wendezeit.
Es ist richtig, auf die Investitionen zu verweisen, die auch ausländische Unternehmen im Osten tätigen, aber was zu Beispiel Tesla angeht: Kaum kommt etwas, da steht es auch schon in Frage, vor allem aus ökologischen Gründen. Wir haben das Für und Wider bezüglich des Standorts Grünheide hier in Berlin recht gut mitbekommen, und die Sache ist noch nicht ausgestanden. Nicht nur das, es ist wirklich kompliziert, so objektiv wie möglich betrachtet.
Einen großen Fortschritt hat übrigens Gesamtberlin gemacht: Es steht bezüglich des BIP pro Kopf mittlerweile an sechster Stelle, Tendenz weiter steigend. Der tatsächliche Wert dürfte gerade in dieser Stadt, in der die Schwarzarbeit und die Unterflächenwirtschaft blühen wie sonst nirgends in Deutschland, relativ zu anderen Ländern noch höher sein. Aber das Dilemma folgt sozusagen auf dem Fuß: Es sind zu wenige, die davon profitieren.
All die mentalen Probleme, die Menschen in Ost und West miteinander haben, können wir hier nicht darstellen, wohl aber feststellen, dass es nach so vielen Jahren an der Zeit ist, mehr aufeinander zuzugehen. Schwierig, das wissen wir, und manche Aspekte könnten wir benennen. Aber heute nehmen wir’s erst einmal, wie es ist und machen einfach weiter. Es bleibt uns allen ja auch nichts anderes übrig. Das sagen wir, obwohl wir in einem Bundesland geboren wurden, das ebenfalls etwas später zu (West-) Deutschland kam und das von einer Stellung als Wirtschaftssonderzone, welche die Alternative gewesen wäre, vermutlich massiv profitiert hätte, ähnlich wie das benachbarte Luxemburg. Trotz negativer Erfahrungen nach einer Abstimmung zwanzig Jahre zuvor war das Zugehörigkeitgefühl aber stärker als die Idee, wirtschaftlich mehr oder weniger sein eigenes Ding zu machen.
Auch die Menschen in Ostdeutschland haben sich mit den Wahlen vom 18. März 1990 zum Beitritt zum Westen entschlossen. Es gibt Propagandisten des Gestrigen, die das immer noch nicht wahrhaben wollen, aber es ist ein unumgänglicher Fakt. Wie dieser Anschluss dann ausgeführt wurde, ist eine andere Frage. Nach unserer Ansicht waren manche Fehler geradezu unvermeidbar, andere hätten nicht sein müssen, vor allem den Umgang mit den „Neubürger:innen“ betreffend. Wir prognostizieren, dass wir am 35. Jahrestag der Wiedervereinigung und vermutlich auch am 40. noch nicht vermelden können, dass es wesentlich besser um die innere Einheit steht. Jede neue Krise macht derzeit die Unterschiede eher noch deutlicher. Sei es die Einstellung zu den Corona-Maßnahmen oder zum Umgang mit Russland während des Ukraine-Kriegs oder die politischen Präferenzen: Die Bilder in Ost und West zeigen deutliche Unterschiede.
Heute trendet z. B. #AfDgehoertnichtzuDeutschland oder #AfDVerbotsofort. Und das angesichts der Tatsache, dass die AfD gemäß aktuellen Umfragne stärkste Partei in Ostdeutschland ist. Bei allem Verständnis für die vermutlich überwiegend Westdeutschen, die diese Trends setzen: Der Demokratie wäre mit einem solchen Verbot nicht geholfen, im Gegenteil. Der Riss zwischen Ost und West würde noch größer. Die herrschende Politik muss eben besser werden. Falls dies eintritt, werden wir sehen, was von einer Partei übrig bleibt, die in Wirklichkeit für die Reichen da ist. Es erfordert vermutlich immens viel demokratische Übung, hinter dem Nationalismus die neoliberale, negative Form des Univeralsimus, den Globalismus für das Kapital, zu erkennen. Wir alle, aber gerade die Menschen im Osten, denen eben doch vierzig Jahre Demokratie-Einübung fehlen, müssen endlich lernen, genauer hinschauen und erkennen, welch eine Truppe, die ihre Situation keinesfalls verbessern wird, sie da wählen. Dann braucht es auch kein Verbot mehr, weil die Partei irrelevant werden wird.
Über alldem wird vergessen, dass es sehr viele Faktoren gibt, die diese Meinungen beeinflussen und die teilweise gar nichts mit Ost und West zu tun haben. Zum Beispiel der Stadt-Land-Unterschied, der seit Jahren ebenfalls immer deutlicher hervortritt und der natürlich im Osten, wo junge, gut ausgebildete Menschen aus den ländlichen Gebieten stärker abwandern als im Westen, besonders auffällt. Auch im Westen gibt es große regionale Unterschiede. Der Aufstieg Bayerns beispielsweise wird vom Niedergang vieler Regionen im tiefen Westen begleitet, in denen es wahrlich nicht mehr besser aussieht als in den trostloseren Zonen des Ostens. Die sogenannten sozioökonomischen Faktoren sind vielgestaltig und es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht alles, was wir sehen, nur Ost und West ist. Am Tag der Einheit steht das freilich im Vordergrund.
Wir haben also klargestellt, dass wir die Vereintheit keineswegs für vollzogen halten. Aber zählen wir uns zu der Mehrheit, die es trotzdem gut findet, dass es so gekommen ist? Dazu keine klare Aussage, denn es steht, wenn wir ganz ehrlich sind, Spitz auf Knopf, was auch bedeutet: es ist stimmungs- oder tagesformabhängig. Wir waren mal sehr begeistert von der Wende, aber diese tiefgreifenden, nie endenden Verstimmungen und auch tatsächliche mentale Unterschiede, Verhaltensweisen, mit denen wir bis heute nicht perfekt umgehen können, negative politische Entwicklungen, die uns triggern, die Klischees allzu leicht bestätigen möchten, machen auch uns manchmal müde und hoffnungslos. Man muss eben jeden Tag dagegen ankämpfen, die Dinge so pauschal zu sehen und auch so banal, wie sie sich manchmal zeigen. Das kostet Energie. Es kostet gerade heute auch Energie, darüber nachzudenken, obwohl wir ab morgen wieder den Kopf freihaben müssen für anderes, as ebenfalls fordert. Es sind auch diese Zeiten. Was wäre es schön gewesen, wenn gerade durch sie mehr ein Schulterschluss entstanden wäre, wo wir doch alle im selben Boot sitzen. Und was ist es frustrierend, dass es mal wieder genau andersherum läuft. Auch das ist eine Pauschalaussage, die positive Gegenbeispiele umgeht, aber es ist das, was wir im Moment denken und fühlen.
Ein Festtag ist dieser 3. Oktober daher für uns nicht, sondern ein Tag zum Einkehr halten und vielleicht ein wenig die Herbstsonne zu genießen. Die scheint ja immerhin für alle gleich, zumindest solange noch, bis die Neoliberalen einen Dreh gefunden haben, auch deren Nutzung durch die Bevölkerung zu privatisieren und jeden wärmenden Strahl zu finanzialisieren.
TH