Varieté (DE 1925) #Filmfest 861 #DGR

Filmfest 861 Cinema – Die große Rezension

Varieté ist ein deutscher Spielfilm von Ewald André Dupont aus dem Jahr 1925 über ein Eifersuchtsdrama im Zirkusmilieu. Der Film basiert auf dem Roman Der Eid des Stephan Huller von Felix Hollaender. Bei der Berlinale 2015 wurde eine neue, digital restaurierte Fassung des Films von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung vorgestellt.

Der Grund, warum wir mal zwei Jahre nach vorne gesprungen sind, auf unserer Zeitreise durch das Kino der Weimarer Republik, ist oben schon genannt: Ich war die teilweise megaschlechten Kopien erst einmal satt, die von einigen Filmen dieser Zeit kursieren, ganz zu schweigen von jenen, die gar nicht oder in zu sehr gekürzten Versionen erhältlich sind. Allerdings hatte ich bei Varieté eben aufgrund der Restaurierung auch ein Erlebnis der besonderen Art. Dazu und mehr steht etwas in der -> Rezension.

Handlung (1)

Der wegen Mordes verurteilte Häftling Nr. 28 „Boß“ Huller wird zum Gefängnisdirektor gerufen, da seine Frau nach zehn Jahren Gefängnis für ihn ein Gnadengesuch eingereicht hat. So erzählt er dem Gefängnisdirektor sein Leben.

Er war ein berühmter Trapezkünstler, der aufgrund eines Unfalls zum Schaubudenbesitzer auf der Reeperbahn heruntergekommen war. Hier lernte er die verführerische Berta-Marie kennen, die bei ihm als Tänzerin auftrat. Er verließ Frau und Kind und schlug sich mit ihr auf dem Rummelplatz durch. Hier entdeckte die beiden ein Impresario, der für den berühmten Artisten Artinelli einen neuen Partner suchte.

Huller wurde „Fänger“ und trat zusammen mit Berta-Marie und Artinelli im Wintergarten auf. Als Berta-Marie ihn mit Artinelli betrog, wurde er rasend vor Eifersucht und erstach Artinelli in einem Messerduell, als er seine Gefühle nicht mehr im Zaum halten konnte. Danach stellte er sich der Polizei.

Dem Gnadengesuch wird stattgegeben und Huller in die Freiheit entlassen.

Rezension

Das Ende des Films klingt tröstlich, der Rahmen im Gefängnis, der eine Art Rest-Expressionismus aufweist, ist gut gesetzt und mittlerweile geradezu klassisch, dazwischen ist viel los und es ist sehr gut gefilmt. Aber wieso hat mich das Ende gar nicht getröstet? Vielleicht, weil man gar nicht bis zum Exzess analysieren und jede Tiefe ausloten muss, um auch im Milieu der Artisten etwas zu finden, was damalige deutsche Filme auf eine wirklich bedrohliche Art durchzieht: Wärst du doch bei Muttchen geblieben, dann wär dir viel Leid erspart geblieben (und du weiltest noch hienieden, auf die Filme bezogen, in denen der Ausbruch aus der Enge mit dem Tod des Protagonisten endet). Der Tod hätte auch Huller passieren können, wenn seine Handlung als Mord deklariert worden wäre, ohne mildernde Umstände etc., denn die Todesstrafe war damals in Kraft. Von expressionistischen Filmen und den integralen Kammerspielfilmen über die Straßenfilme der frühen Phase bis hin zu einem so wunderschön füllig und modern wirkenden Werk wie „Varieté“ ist dieses Motiv des missglückten Ausbruchs vorhanden und langsam bekomme ich den Eindruck, die Filmemacher hatten Angst vor ihrer eigenen formalen Courage, sodass die Botschaft wenigstens konservativ sein musste. Das heißt, das Weimarer Kino war auch bewahrend angelegt und wollte den Kleinbürger oder, im Extremfall, den Kleinartisten, an der Kette halten.

Das ist diskutabel, es gibt meist Argumente dafür und dagegen, das Abenteuer zu wagen, aber unangenehm wird es in einer bestimmten Hinsicht: In 90 Prozent der Fälle ist eine Femme fatale im Spiel, die manchmal sogar in visualisierter Form den Tod bringt (in „Von morgens bis mitternachts“ und „Die Straße“, die wir uns kürzlich angeschaut haben, ist das sogar in Form eines tricktechnischen Wandels der Fall, ein Frauenantlitz wird zum Totenschädelgesicht). Unweigerlich stellt sich das Gefühl ein, der Erste Weltkrieg ging verloren, weil die Frauen an der Heimatfront nicht stark genug waren und die Männer verrieten, die im Feld standen oder in den Gräben im Feld saßen. Man kann aber auch sagen, die Männer, auch die Filmemacher, waren überfordert von dem Outburst weiblicher Energie in den 1920ern. Selbst so ein Kerl wie Emil Jannings, kann der fremden Frau nicht standhalten, die buchstäblich in Hamburg an Land gespült wird und aus dem Nirgendwo kommt, wo die Gefahr im Allgemeinen herstammt. Das heißt, sie hat auch einen Migrationshintergrund, auf heutige Sprache übertragen und ist schon deshalb mit Vorsicht zu genießen. Am besten genießt man sie gar nicht und erst recht nicht nimmt man sie in den eigenen kleinen Schaustellerwagen auf, in dem man mit der Ehefrau und dem Kind lebt. Welch eine Konstellation und welch ein Gegensatz zum späteren Leben im Grand Hotel. Großartig ist der Wechsel inszeniert, auch vom Kleinvarieté zum real existierenden Wintergarten, Teile des real existierenden Programms werden gezeigt und man kann sich vorstellen, welche Sensationen in der Luft lagen, die man damals in Berlin geatmet hat.

Die Sensation des Films ist aber nicht das Spiel von Jannings, obwohl wir ihn hier einmal ohne irgendwelche Verkleidungen sehen, sondern so, wie er auch in den USA wenig später zu seinen Oscar-Ehren kam, als einen Mensch aus dem Bauch der Welt, robust und derb, verletzlich und voller Sehnsüchte, kolossal im Auftritt, aber simpel in der Reduktion der Gefühle auf die Urtriebe: Liebe, Verlangen, Eifersucht, Rache. Klar, dass er die Leinwand auch in Varieté dominiert, wie fast immer, wenn er einen seiner unzähligen Stummfilmauftritte jener Jahre hatte. Ob es ihm am meisten Spaß gemacht hat, den schließlichen Häftling Nummer 28 in dem Film von E. A. Dupont zu verkörpern oder ob er doch lieber den wüsten Heinrich VIII. für Ernst Lubitsch gespielt hat, wissen wir nicht, aber es ist dokumentiert, dass bei Letzterem viel Spaß am Set herrschte. Warum erwähnen wir das? Je mehr Filme anderer führender Filmschaffender dieser Jahre ich sehe, desto mehr werde ich ein Fan von Ernst Lubitsch. Er hat es nämlich vermieden, Dämonisierungen zu installieren und dieses Lied vom Untergang zu singen, das leider tatsächlich zu einem Schwanengesang anschwoll, wenige Jahre später. Aus dem persönlichen Untergang wurde der kollektive Untergang. Allerdings hatte Emil Jannings sich offensichtlich ausbedungen, einmal etwas „aus dem richtigen Leben“ filmen zu dürfen, nach all dem literarischen Kram. Den er allerdings so dargeboten hat, dass man auch als Zuschauer viel Spaß hat, selbst heute noch.

Freilich mögen schon viele das Ergebnis des Ersten Weltkriegs als einen solchen Untergang empfunde haben und merkten nicht, dass sie dadurch die Voraussetzungen für die noch größere Katastrophe schufen. Die Filmemacher waren daran beteiligt, Opfer und Täter zugleich, weil sie es nicht hinbekamen, positive Visionen zu entwickeln. Insofern verstehe ich auch, warum linke Filmkritiker dem deutschen Expressionismus skeptisch gegenüberstanden, auch seinen formalen Meriten, weil sich diese mit den oft grauslich deprimierenden Inhalten auf Beste oder Schlimmste zum enervierendsten Mindfuck jener Zeit vereinten. Aus manchen dieser Filme soll das Publikum schreiend rausgelaufen sein, etwa aus F. W. Murnaus „Nosferatu“, der damals nicht so gut lief, wie sein heutiger Klassiker-Status es vermuten lässt. Trotzdem haben die Filme diese Stimmung ja nicht erschaffen, sondern die Erschaffer der Filme hatten ein Gefühl dafür, was ist und was manche Menschen lieber nicht sehen wollten. Sie hätten dem etwas entgegenstellen können, aber das hätte ja wieder nicht der Stimmung der Zeit entsprochen, wie sie damals in Deutschland herrschte. Ein Hoch auf die gelungenen und gar nicht flachen, prächtig ausgestalteten Komödien von Ernst Lubitsch, der leider viel zu früh nach Hollywood ging. Wie fast alle der ganz Großen und schon vor der Nazi-Zeit.

Bei Duponts Varieté kommt hinzu, dass man viele grässliche, nun ja, Fratzen im Publikum sieht, Sensationsgier, Gier im Allgemeinen, dazu die mittlerweile entfesselte Kamera, die einen Hochseilakt zum cineastischen Erlebnis werden lässt. Und pardauz, da fällt der aufgenähte Totenkopf vom Kostüm des Todgeweihten. Auch die Symbolik kommt in dem Film nicht zu kurz, auch wenn sie hier auf den Kopf gestellt wird, ähnlich wie das Leben des Huller. Zunächst spielt er mit dem Gedanken, seinen Artisten-Partner spektakulär ins Publikum fallen zu lassen, dann entscheidet er sich doch für ein Messerduell. Ob das fairer ist, darüber kann man streiten, denn der Andere ist bisher nicht als Messerkämpfer in Erscheinung getreten und will auch gar nicht kämpfen, während der Huller in seiner Reeperbahn-Zeit gewiss gelernt hat, sich mit allen Waffen der Unterprivilegierten zur Wehr zu setzen. Im Grunde hat er doch Pech, denn die etwas Hochgestochenen, wie der international bekannte Artinelli, die haben ihre schmierige Form der Eleganz als Waffe aufzubieten, die auf den heutigen Zuschauer keineswegs anziehend wirkt, und da kann das migrantische Mädchen natürlich nicht widerstehen. Am Ende kommt es daher eben zu diesem ungleichen, einer Seite aufgezwungenen Duell.

Die Handlung ist wirklich ein absoluter Standard und gerade deswegen funktioniert sie immer wieder und wieder. Wie ich gerne feststelle: Es kommt darauf an, wie solch eine Handlung dargeboten wird, und da gibt es keine Zweifel, das wird sie in „Varieté“ auf dem damals höchstmöglichen visuellen Niveau. Da stimmt jedes Detail, jede Einstellung, und nur manchmal ruckt es ein wenig, weil die Restaurierungsfassung sich aus verschiedenen Quellen zusammensetzt. Der Film ist außerdem stilprägend gewesen für alle Artistenfilme, die danach kamen. Besonders hat er mich an „Trapez“ (1956) erinnert, in dem Burt Lancaster, Tony Curtis und Gina Lollobrigida ein ähnliches Trio Infernal geben wie hier Emil Jannings, Lya de Putti und der in Deutschland weniger bekannte Warwick Ward, der den Artinelli gibt.

  • Siegfried Kracauer formulierte: „Duponts Leistung bestand darin, daß er mit denselben filmischen Mitteln, wie man sie ursprünglich zur äußeren Sichtbarmachung einer Innenwelt verwendet hatte, jetzt auch der Außenwelt seines Films sichtbare Gestalt gab.“[2]
  • Reclams Filmführer urteilte: „Ob es sich um die Schaubude in St. Pauli oder den Berliner ‚Wintergarten‘, um den Wohnwagen des Beginns oder später um das Luxushotel handelt – stets sind Milieu und Umgebung überzeugend echt.“[3]
  • Thomas Kramer schrieb in Reclams Lexikon des deutschen Films: „Die fatalistische Dreiecksgeschichte – Hullers Flucht aus dem Alltag in die Libertinage wird erst lustvoll ausgespielt, dann zum grausigen Menetekel umfunktioniert – interessierte Dupont nur am Rande. Es ist die formale Umsetzung, die diesen Film zu einem Meisterwerk macht.“[4]
  • Lexikon des internationalen Films: „Optisch virtuos gestaltetes Stummfilm-Kammerspiel im Stil des ‚neuen, objektiven und neutralen Realismus‘.“[5]
  • Ingmar Bergman faszinierte der Film so sehr, dass er ihn nach eigenen Angaben mit Abend der Gaukler bewusst imitierte.[6]

Besonders angesichts der Kritik von Thomas Kramer empfiehlt sich hier wieder der Hinweis, dass wir im Discovery-Modus schreiben, also die Kritiken erst lesen, bevor wir sie einbinden, nicht schon zu  Beginn der eigenen Rezension. So sehe ich es nämlich auch, das Formale, sprich, das Visuelle macht den Film aus, nicht die wenig erfreuliche Handlung. Und das Formale beschreiben wir in seiner ganzen Pracht anhand eines Ausschnitts aus einem Buch, das mir erste Einblicke in die Klassiker des deutschen Films vermittelt hatte, darin selbst wieder mehrere ältere Zitate eingebettet.

Eine technisch glänzend gearbeitete Mischung aus Kammerspielfilm und Sensationsfilm. Auch hier  die alte Geschichte vom Artisten, dem der Kollege die Geliebte wegnimmt, so daß furchtbare Rache folgt. Luftakrobaten sind es, und jeder glaubt, der Betrogene wird nun den Betrüger abstürzen lassen. Aber er beherrscht sich auf dem schwebenden Trapez, sondern sticht ihn nachher im Messerzweikampf ab. Erblickt jedoch das, was jeder erwartete, den Absturz, als blitzschnelle Vision, so daß dem Zuschauer diese Sensation nicht genommen wird. Dies Raffinement im Aufbau des Films, dessen Manuskript der Regisseur selbst schrieb, ist charakteristisch (…) Wie viele neue und bezaubernde Wirkungen sind z.B. aus dem unzählige Male gezeigten Varieté-Motiv herausgepeitscht – da rast das beste Varietéprogramm der Welt vorbei, jede Nummer nur Sekunden lang aufzuckend, so dass schon der von Rastelli balancierte Ball in den Ball des Seehunds, dass die Tänzerin Nina Payne mit einer Bewegung in den Exzentrik-Radfahrer übergeht. Wie ist ganz neuartig und überzeugend Entstehung und Ausbreitung des Klatscvhes herausgekitzelt, wenn ein Artist die Liebesgeschichte des Kollegen auf die Marmorplatte des Restaurants skizziert und der Tratsch von hier aus, durch die verstohlenen Beschauer, weiterschwillt, so dass von dieser Einzelheit der Anfang vom Ende der Tragödie zwingend ausgeht. Die Fotografie von Karl Freund und die Tricktechnik geben schließlich unsere Auge Entzücken und unserem Herzen Atembeklemmendes (…) Jannings zeigt manchmal nicht nur das Spiel des Helden, sondern Studien über dieses Spiel (Heinrich Stürmer, das Tage-Buch, 1925., zitiert nach Brennicke/Hembus, Klassiker des deutschen Stummfilms).

Dass die Kamera sich hier entfesselter gebärdete als je zuvor, führte Karl Freund auch auf die Drehumstände zurück: „in Varieté ergab sich der ungewohnte Winkel zwangsläufig aus den beengten Räumlichkeiten im Berliner Wintergarten, wo der Film gedreht wurde. Dieser Film erwies sich überraschend als wahre Fundgrube der Aufnahmetechnik aus der Untersicht, die Schule machte und heute das Ausmaß einer nationalen Manie erreicht hat „(Interview in der New York Times, 1933, zitiert nach Brennicke/Hembus, a. a. O.).

Vermutlich meint Karl Freund die damals in amerikanischen Revuefilmen häufig angewendeten Kamerawinkel dieser Art, die das Geschehen viel thrilliger und extravaganter wirken lassen als eine schnöde Totale, in dem sie darauf verzichten, die gesamte Szenerie abzubilden. Ergänzt durch den Topshot, den wir in der oben und im Folgenden noch einmal beschriebenen „Was-wäre-wenn-ich-ihn-abstürzen-ließe“-Szene ebenfalls sehen.

Der Film zeigt den Ausbruch eines Artisten aus seinem langweiligen, eintönigen Eheleben und dem uninteressant gewordenen Schaubuden-Milieu. Die verführerische Berta-Marie die ihn dazu animiert, tanzt in seiner Bude vor Publikum seine Frau spielt dazu Klavier. Die Kamera zeigt die tollen Beine der Tanzenden, dann die mit gestopften Strümpfen bedeckten seiner Ehefrau – das Gleiche geschieht mit Rücken, Augen und Busen. Dazwischen wird das Gesicht Jannings‘ eingeschnitten, der diese Details in wachsender Panik wahrnimmt. Gleichzeitig erhitzt sich das Publikum an dem tanzenden Mädchen und bedrängt ist. Der dreckige, rauchgeschwängerte Raum macht Jannings klar, wie heruntergekommen seine Situation ist. Wütend schmeißt er sämtliche Zuschauer aus seiner Bude; am nächsten Tag verlässt er Frau und Kind, um ein besseres Leben mit Berta-Marie als Hochseilartist zu führen. Zusehens blüht er auf, verwöhnt seine Freundin. So zeigt eine Szene de Putti auf dem Bett liegend, mit den Beinen sinnlich in der Luft strampeln. Ihre Strümpfe weisen jedoch ein Loch am Zeh auf. Jannings tritt hinzu, er sieht das Loch im Strumpf, zieht ihn aus und fängt tatsächlich an zu stopfen. Die Szene ist irrsinnig komisch, denn sie zeigt das Meisterwerk der Hausfrau Jannings  auch noch in Großaufnahme (Brennicke/Hemubs, Klassiker des Deutschen Stummfilms).

Hier muss ich kurz unterbrechen. Ich fand die Szene nicht komisch, sondern fasste sie als Vorausschau der kommenden Demütigung auf, die der vom Leben Bedrängte bald wird hinnehmen müssen. Der Film lässt keine Zweifel daran: In jener Sekunde, in der Artinelli auftaucht, wandelt sich das Spiel und der einfache Mann, der seine Frau verließ, wird bald der Gehörnte sein, so abgebildet auf der Tischplatte, die vermutlich nicht aus Marmor, sondern aus einem billigen Imitat ist, wie es heute noch für Bistrotische verwendet wird. Und damit weiter im Text:

Die beiden studieren eine Nummer am Trapez sein, die zum großen Erfolg führt. Zusammen mit Artinelli zeigen sie unter der Kuppel des Wintergartens in atemberaubender Höhe ihre Kunststücke. Die subjektive Kamera zeigt immer den Blick der Drei auf die zu ihnen herausragenden Menschen – es wirkt sehr nervig, denn es ist kein Netz gespannt, und die Zuschauer sitzen direkt unter den agierenden Artisten.

An der Stelle hatte ich mich gefragt, ob es im Wintergarten tatsächlich ein Programm dieser Art gab und tatsächlich ohne Netz. Das wäre selbst heute eine kaum zu übertreffende Nervenkitzel-Sensation. Die Nummer ist übrigens wirklich gut, wenn nicht per se sensationell. Besonders der „blinde“ Teil der Ausführung.

Eine unglaublich gute subjektive Einstellung ist auch in der Traumsequenz gelungen, nachdem Jannings den Betrug seiner Geliebten entdeckt hat. Jannings, der „Fänger“, verpasst absichtlich Artinelli der zu Boden stürzt. Die Kamera verfolgt den Sturz von den Händen Jannings‘ ab und fliegt direkt mitten in die Menschenmassen, die entsetzt ausweichen. Jannings, der Betrogene, ein Kammerspiel für sich. Er ist enttäuscht, verletzt und klein. Mord ist bei diesem Spiel zwangsläufig. Vergeben kann nur er sich. Am Schluss des Films ist man geneigt, an „Berlin Alexanderplatz“ zu denken. Die Tore des Gefängnisses sind weit geöffnet. Im zwielichtigen Hell-Dunkel wehen Pappeln. Heinrich George verlässt das Gefängnis und erzählt die Geschichte des Franz Bieberkopf, die fast die gleiche ist wie die von Boss, dem Mann vom Varieté.

Wenn das auch in Bezug auf die Wirkung von Frauen auf einfache Männer zutrifft, dann setzt sich das, was ich eingangs beschrieben habe, also bis 1931 fort. War Hitler eine Frau? Ich frage für ein Zeitalter, in dem jedes Gender eine Hinterfragung verdient.

Finale

Besonders herauszuheben sind Momente, die in Brennicke/Hembus dargestellt sind: Die Augen, die auf Jannings schauen, die also schon vor Hitchcock in einem Film vorkamen, vielleicht nicht das einzige Mal, vor allem aber die grandiose Spiegelung der Artisten in den Ferngläsern der Zuschauer:innen: die Optik des Varietés, ist dieses Bild untertitelt. Schauen und beschaut werden, das Leben als Schauobjekt, wer schaut, bekommt das Schauen gespiegelt. Einiges hat mich auch ein wenig an „The Crowd“ erinnert, einen der wenigen amerikanischen Vor-Depressionsfilme, die immerhin beinahe schlecht enden. Chronologisch muss man es natürlich anders herum zeichnen, denn „Varieté“ entstand drei Jahre früher.

Der Film ist großes Kino, weil er das Kino groß feiert. Heute wird man vieles, was man darin sieht, für selbstverständlich halten, weil er stilbildend gewirkt hat. Wie begeistert jedoch die Zeitgenossen waren, haben wir deshalb anhand des Auszugs aus dem „Tage-Buch“ 1925 dargestellt. Heute muss man den Film auch mit diesen Augen eines Menschen zu sehen versuchen, der das im Allgemeinen noch viel statischere und weniger ausgefeilt gefilmte und geschnittene Kino seiner Zeit gewöhnt war.

Nun aber zur Auflösung unserer Andeutung aus den Eingangsausführungen, womit wir wohl die Länge für das Feature „Die große Rezension“ erreichen werden. Es geht um die Musik. Wir haben uns den Film vollkommen stumm angeschaut, obwohl er im Rahmen der Restaurierung von 2015 wohl einer der extravagantesten Musiken erhielt, die je für eine Restaurierung der Murnau-Stiftung geschrieben wurden. Um ehrlich zu sein, es war nicht zum Aushalten. Anfangs dachte ich, vermutlich wird nur die Eingangsszene, der Rahmen, das Gefängnis, mit diesem krass nervigen Singsang unterlegt, aber es ist nicht zu fassen, sie machen es durch den ganzen Film hindurch. Offenbar ist der Film an sich nicht nervig und sensationell genug. Noch schlimmer aber als die Tonlage des Gesangs ist die Tatsache, dass dieser exakt die Handlung nachzeichnet oder ihr auch ein paar Sekunden vorausläuft, die man auf dem Bildschirm sieht.

Ich habe mich gefühlt wie in einem megaschlechten Buch, in dem der Erzähler ständig das wiederholt oder vorausschickt, was zuvor oder anschließend in den Dialogen steht. Ich verstehe schon, das soll Kunst sein. Ich habe ohnehin eine eigene Auffassung dazu, wie diese Klassiker neu vertont werden sollten. Manches ist originell, zum Beispiel, wenn Szenen mit Geräuschen von Gegenständen unterlegt werden, die man bebildert sieht, manchmal auch, wenn die Stimmung eines Films durch den Score konterkariert und manipuliert wird. Aber hier war das so extrem ausgeprägt, dass ich befürchtete, ich stehe den Film nicht durch, wenn ich mir dieses … also, diese Musik die ganze Zeit über anhöre.

Dummerweise bewirkte das Abschalten des Tons wiederum, dass ein Minus gegenüber dem hypothetischen Original entstand, denn selbstverständlich hatte der Film eine Musik, als er herauskam. Möglich, dass man sie nicht reproduzieren konnte, aber musste man bei der Neuschöpfung dermaßen den Ton die Bilder überlagern, sie geradezu marginalisieren lassen? Ich hoffe, das letzte Wort in Sachen neuer Musik zu „Varieté“ ist noch nicht geschrieben, gespielt, gesungen. Ich finde, in „Babylon Berlin“ hat man die Verbindung von echter Musik der Zeit mit einer Art Transmission in die heutige viel besser hinbekommen, also, ohne dass das Ganze wie ein Kulturclash gewirkt hat, dessen Exzentrik das Maß dessen übersteigt, was man als Verfremdungseffekt bei einem alten Film hinzunehmen bereit ist, wenn man den alten Film als Kunstwerk sehen mag, das in seiner Zeit steht.

Es ist eben mit diesen Restaurierungen etwas entscheidend anders als bei immer neuen Ideen, wie man alte Stücke auf die Bühne bringen kann: Die Inszenierung ist ein Gesamtwerk, es gefällt oder nicht. Aber hier wird einem Film, der vor allem durch sein Spiel und seine Optik wirken soll, der unveränderbar ist, eine ans Absurde grenzende Dominanz neuer Musik aufgezwungen, die der Film nicht verdient hat. Die Idee war vermutlich, das Fiebrige und Nervige zu erhöhen, aber genau das hat „Varieté“ nicht notwendig und es wirkt wie ein eklektischer Kommentar von heutigen Medienrezipienten, die immer ein Mehr und Mehr brauchen, um noch etwas wahrnehmen oder nachempfinden zu können. Diejenigen, die sich solche alten Filme anschauen, brauchen das in der Regel aber nicht, weil sie sich einlassen wollen. Vielleicht mit Ausnahme von „Metropolis“, der ein Stück Pop-Art geworden ist, mit einer eigenen Geschichte, die vom Kino Babylon immer weiter fortgeschrieben wird. Aber solch eine Ikone ist „Varieté“ nun doch nicht, was den Vorteil hat, dass er sich nicht so verselbstständigen konnte. Demgemäß sollte man ihn musikalisch etwas dezenter behandeln.

Was folgt daraus für die Bewertung? Lasse ich dieses Halbverbrechen mit schrägen Tönen einfließen oder bleibe ich beim Halbmord an Artinelli? Ich habe mich für Letzteres entschieden, damit ich dem Film als solchem nicht unrecht tue. E. A. Dupont, Emil Jannings und die anderen können nichts dafür und sich nicht mehr dagegen wehren, was man in den 2010ern aus ihren Werken macht. Ich stelle auch die Ausführung des Films weit über die Qualität der kolportagehaften Handlung inklusive dem Halbmord an Artinelli und lasse insofern den berühmten Kameramann Karl Freund besonders hochleben. Insofern ist allesganz subjektiv und einseitig und geprägt von der Faszination für das Medium, die der Film so sehr lebt, dass man sie mitleben muss, wenn man diese Faszination teilt. Schließlich ist der Film doch ein großes Varieté, heute mehr denn je.

83/100

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Produktionsland Deutschland
Originalsprache Deutsch
Erscheinungsjahr 1925
Länge 102 Minuten
Stab
Regie Ewald André Dupont
Drehbuch Leo Birinski
Ewald André Dupont
Produktion Erich Pommer
Musik Ernö Rapée
Kamera Karl Freund
Carl Hoffmann
Besetzung

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