Der Marathon-Mann (Marathon Man, USA 1976) #Filmfest 875

Filmfest 875 Cinema

Der Marathon-Mann ist ein US-amerikanischer Thriller des Regisseurs John Schlesinger aus dem Jahr 1976. Der Film basiert auf einem Roman von William Goldman. Die titelgebende Hauptrolle spielt Dustin Hoffman. An seiner Seite treten Laurence OlivierRoy ScheiderMarthe Keller und William Devane auf. Zur Legende wurde die in einer Folterszene immer wieder ausgesprochene Frage „Sind sie außer Gefahr?“, im Original „Is it safe?“, bei der sowohl der gefolterte Protagonist als auch die Zuschauer ahnungslos sind, auf was sich die Frage bezieht.

Dies ist kein Politthriller mit verschärftem Nachdenken über Diktatur und Demokratie und einer Parallelsicht zwischen MacCarthy-Ära in den USA, den aktuellen Zuständen in den 1970ern und dem Nationalsozialismus. Der Film fängt fantastisch an, parallel montiert, sehr kryptisch, ziemlich körnig, wie es sich insbesondere für einen Film der 1970er gehört, wenn er nicht so aufbereitet ist, dass er in HD wirkt, als sei er gerade erst gedreht worden. Weil Dustin Hoffman in „Die Reifeprüfung“ mit 30 einen 20jährigen spielte, lässt man ihn neun Jahre später einen 25jährigen spielen, prozentual ist der Unterschied kaum angewachsen. Vier Jahre nach „Marathon Man“ kommt er dann seinem richtigen Alter in „Kramer vs. Kramer“ ganz nah. Da dies nur eine Randbemerkung darstellt, muss das Wesentliche zum Film in der –> Rezension zu finden sein.

Handlung (1)

Babe Levy, ein Student der Geschichte in New York, bereitet sich auf seine Doktorarbeit vor. Darin will er sich auch mit der McCarthy-Ära befassen, der sein Vater zum Opfer gefallen ist. Dieser ertrug die Verfolgungen durch das „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ nicht und beging Selbstmord. Nebenbei trainiert Babe für einen Marathon-Lauf, sein Vorbild ist der äthiopische Olympiasieger Abebe Bikila.

Währenddessen setzt eine harmlose Fahrzeugpanne eine Kette von Ereignissen in Gang. Als der Wagen eines Rentners in einer engen Straße stehen bleibt, beginnt ein ungeduldiger zweiter Rentner hinter ihm zu hupen. Als der vordere Rentner um Geduld bittet („langsamer“), erkennt der hintere Rentner daran den Deutschen und beschimpft ihn (nur im Originalton erkennbar) auf Jiddisch – was der Deutsche wiederum mit einem zornigen „Jude!“ beantwortet. Es entbrennt ein Streit, den beide mit ihren Fahrzeugen in einer bizarren Verfolgungsjagd austragen und der für beide tödlich endet, als sie in einen Tanklastzug rasen. Der junge Student Babe Levy, der beim Marathontraining die brennenden Fahrzeuge aus der Ferne sieht, ahnt nicht, wie sehr ihn dieser Unfall noch betreffen wird.

Denn der tote Deutsche ist der Bruder eines berüchtigten KZ-Arztes. Christian Szell, gelernter Zahnarzt, trug unter den KZ-Häftlingen den Spitznamen „Der weiße Engel“. Er folterte die jüdischen Gefangenen und presste ihnen ihre mühsam geretteten Diamanten ab. Nach seiner Flucht nach Uruguay lagert seine Beute in einem New Yorker Schließfach, aus dem ihn sein Bruder mittels Kurieren regelmäßig mit Diamanten nach Bedarf versorgt hat. Dessen Tod hat diese Versorgungskette unterbrochen, Szell muss reagieren. Er beschließt, die Diamanten selbst abzuholen. Die Kuriere sind für ihn ein Sicherheitsrisiko geworden.

Doc, der Bruder des Marathonläufers Babe, war einer der Kuriere für Szell. In Paris entkommt er knapp einem Sprengstoffattentat und dem Anschlag des Killers Chen in seinem Hotel. Als er Post von Babe bekommt, macht auch er sich auf nach New York. Babe hat Doc in diesem Brief von einem merkwürdigen Überfall berichtet. Der Marathonläufer lernt in der Bibliothek die Schweizerin Elsa Opel kennen und lieben. Die beiden werden im Central Park überfallen. Die Täter, Karl und Erhard, sind Helfer Szells. Doc beschließt, Szell in New York zur Rede zu stellen.

In New York angekommen, lädt Doc zunächst Babe und Elsa zum Essen ein, fragt sie charmant aus – und entlarvt die vorgebliche Schweizerin als Deutsche. Elsa stürzt davon, Babe folgt ihr – Doc bleibt im Lokal zurück und geht anschließend zum Treffen mit Szell. Es kommt zum Streit, Szell verwundet Doc mit einem Springmesser, das er unter seinem Mantelärmel verborgen hat, tödlich und flieht. Doc kann sich noch in die Wohnung seines Bruders retten, stirbt dort aber, ohne noch etwas zu sagen. (…)

 Rezension

 Hoffman wirkt als Student, der als Amateuerläufer für einen Marathon trainiert, aber recht authentisch, vor allem als angehender Historiker. Er haust in einer Studentenbude und ist seminarweise privilegiert, ansonsten aber nicht. Überraschenderweise kann er ein hübsches Mädchen für sich gewinnen, aber ist das Zufall. Oder ist sie auf ihn angesetzt worden? Angesetzt von jenen Organisationen, die mit Organisationen zusammenarbeiten, in denen alte Nazis in Südamerika andere alte Nazis in Südamerika verraten? Wir erfahren es bis zum Schluss nicht, ihre Rolle bleibt ambivalent.

Und da gibt es den Bruder des Studenten Levy mit dem Spitznamen „Babe“, der arbeitet für Regierungsorganisationen, die mit den erwähnten Organisationen arbeiten und da gibt es Kuriere und ganz sicher ist der Bruder ganz tief innen sauber, integer. Aber wie steht es mit Peter, dessen Chef? Erfahren wir letztlich auch nicht, denn der wird erschossen (wie die hübsche junge Frau).

Vor allem aber ist da ein Mann namens Szell, gespielt von niemand Geringerem als Laurence Olivier, der sich bemüht, den Ex-KZ-Arzt hinreichend böse, aber nicht vollkommen monströs wirken zu lassen. Wir hätten Olivier, den wir kinoseitig bisher nur aus jüngeren Jahren kennen, nicht wiedererkannt. Wenn er noch leben würde, würden wir seine Figur fragen, warum um Himmels willen diese umständlichen Kurierlinien via Paris organisiert werden und er seinen Diamantenschatz, Beute von KZ-Insassen, nicht in Südamerika verwahrt. Weil es dort politisch zu unsicher ist? Auch den Hintergrund für die aufwendige Verbringung von Mineralien erklärt man uns leider nicht.

Roger Ebert hat zu diesem Film etwas Schönes geschrieben, etwas sehr Weises auch:

I’m not a purist when it comes to thrillers, and with „Marathon Man,“ that’s just as well. If a movie like this is going to work, it has to work moment by moment and scene by scene — and „Marathon Man“ does. There are all sorts of unanswered questions when the film’s over, but I’m not inclined to hold that against it. I enjoy thrillers for the people and predicaments in them, not for their clockwork plots” (Rezension zu “Marathon Man”).

Wenn wir uns endlich entschließen könnten, so an die Sache heranzugehen, würden die Rezensionen kürzer, weil die vielen Fragestellungen entfielen, die wir an unsere Leser weitergeben. Zudem wären wir viel besser drauf, weil wir immer nur im Moment verweilen würden, aber uns nie über die Funktion des Großen und Ganzen und was da alles fehlt äußern müssten. Unseren Kritiken würde das Erbsenzählerische vollkommen fehlen. Wir könnten vor allem bei unseren Rezensionen für die TatortAnthologie (mittlerweile integriert in Crimetime, Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2022) des Wahlberliners höhere Bewertungen aussprechen, weil uns der Krimiplot dann mehr oder weniger egal wäre oder vollkommen hinter die Faszination für den tollen Moment zurücktreten würde und die Intention ohne ihre Hinterlegung mit einer guten Handlung zu würdigen wäre.

Viele Kritiker verfahren in der Tat so, nicht nur Roger Ebert, der dem Film trotz der auch von ihm gelobten Darstellungen von Hoffman und Olivier nur 3 von 4 Sternen gibt, nicht 3,5 oder 4. Bei einem ähnlichen Wert werden wir auch herauskommen, obwohl uns der Mangel an Stringenz in dem Film eben doch nervt. Es ist also gar nicht alles so viel anders, nur wird unterschiedlich darüber gesprochen.

Wir beziehen uns noch einmal auf Roger Ebert und stellen unisono mit ihm fest, dass ein Thriller von den vielen misslichen Lagen lebt, in denen sein Held sich bewähren muss und bleiben einig mit dem leider 2013 verstorbenen amerikanischen Starkritiker, dass „Marathon Man“ viele solcher Lagen bietet – und einen Höhepunkt, der im wörtlichen Sinn darauf fußt, dass Babe Levy Sportler ist und sich laufenderweise von seinen überraschten Häschern entfernen kann. Schön auch die Unfallszene zu Beginn. So deutlich ist wohl noch nie in einem New York-Szenario eine deutsch-jüdische Konfrontation ausgetragen worden. Natürlich ist dabei Vieles verkürzt, aber sowohl der New Yorker wie der Pariser Teil sind insofern gut gefilmt, als die Städte nicht nur Kulissen sind, sondern lebendig und eigenpersönlich wirken – wenn auch nicht überwiegend im positiven Sinn.

Das gilt besonders für Paris, das als ein ziemlicher Müllhaufen und von Streiks und Demonstrationen geplagt dargestellt wird. Zwischenzeitlich nimmt der Film etwas leicht Apokalyptisches an; da explodieren Bomben ohne nachvollziehbaren Grund mitten in der Stadt und es wird gesagt, das sei ja heute an der Taesordnung. In der Tat, in den 1970ern zeichnete sich ab, dass der Terror die Städte erreichen würde, was er ja mittlerweile, um ein paar Jahrzehnte verspätet, getan hat.

Finale

Oscarpreisträger John Schlesingers erste Regiearbeiten waren wichtige Filme des neuen Britischen Films in den 1960ern, unter anderem der berühmte „Darling“ mit Julie Christie (1966), den Oscar erhielt er dann für „Midnight Cowboy“ (1969). „Marathon Man“ zeugt von ausgezeichnetem Verständnis fürs Medium Film, auch wenn er sich plotseitig ein wenig verliert und zudem im Verlauf immer spekulativer wird.

75/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Regie John Schlesinger
Drehbuch William Goldman
Produktion Sidney Beckerman
Robert Evans
Musik Michael Small
Kamera Conrad L. Hall
Schnitt Jim Clark
Besetzung

 

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