Frontpage | Briefing | Die neue Ordnung wird von anderen gemacht. Haben wir darauf wenigstens eine Antwort?
Joe Biden war noch gar nicht Präsident der USA, da schrieben kluge Analyst:innen bereits: An der zunehmend protektionistischen und handelspolitisch konfliktreichen Strategie des Landes wird sich nicht viel ändern, wenn die Demokraten übernehmen. Nun haben sie vor zwei Jahren übernommen und es wird schlimmer werden.
Die Europäer waren zu naiv und haben hinter der „neuen geopolitischen Einigkeit die industriepolitischen Ambitionen der USA unterschätzt“. Das europäische Versäumnis: Der Wochenrückblick des Chefredakteurs (handelsblatt.com)
In den USA werde versucht, einen Teil der Globalisierung rückabzuwickeln und das dürfte die Ordoliberalen überhaupt nicht freuen, heißt es weiter.
In der Tat: Die Midterm-Wahlen waren bestimmt durch einen Überbietungswettbewerb von Demokraten und Republikanern in Sachen Protektionismus und Billionen (nach deutscher Schreibweise) von Dollars als Investitionsförderung. IRA nennt sich das Gesetz, das Joe Biden nun unterzeichnet hat und fördert auf den ersten Blick vor allem grüne Technologie und soll dem Namen nach die Inflation reduzieren.
In Wirklichkeit setzt die Biden-Administration auf den ohnehin enormen Staatsschuldenberg nochmal einen zweistelligen Anteil am jährlichen BIP obenauf, um Industrie von woanders abzuwerben und in die USA zu holen. Allein die dauerhaft niedrigen Energiepreise sind ein massives Argument, die Subventionen für Neuansiedlungen ein weiteres. Die amerikanischen Wähler:innen haben verstanden und die Demokraten nicht so sehr abgestraft, wie man es zuvor auch ein Europa befürchtet hatte. Besser wird es für uns dadurch aber nicht.
In dieser Lage sorgt die deutsche Bundesregierung dafür, dass hierzulande die ohnehin weltweit höchsten Energiepreise noch einmal durch die Decke gehen und nun wohl auch die Industrie treffen werden, die sich immer ihrer Sonderkonditionen sicher sein konnte. Man kann nicht die Privatpersonen mit dem vierfachen Energiepreis belasten wie die Großabnehmer, das wird sich noch zeigen. Das beinhaltet zu viel politischen Sprengstoff.
Wir schreiben seit Jahren, dass Deutschland endlich eine strategische Wirtschaftspolitik betreiben muss. Anderen Europäern wird es leichter fallen als der neoliberalen Bundesrepublik, auf die amerikanischen Herausforderungen zu reagieren, weil sie ohnehin eher interventionistisch unterwegs sind. Am allermeisten wird der französischen Politik das Szenario vertraut vorkommen und man wird sich darauf einzurichten wissen. Wirklich dagegenhalten kann aber nur die gesamte EU. Die Größenordnung dafür hätte sie, den USA zu signalisieren, dass ein Kräftemessen am Ende nur Verlierer hervorbringen kann, wenn es darauf hinausläuft, dass aus dem nachvollziehbaren Schutz der eigenen Industrie massive, unfreundliche Abwerbung bei anderen wird. In Deutschland übt man gerade im Kleinen und anhand chinesischer Investitionsinteressen, wie man Einflussnahme endlich begrenzt. Das US-Modell ist genauso gefährlich wie die chinesische Methode, nur funktioniert es anders herum. Man steigt nicht mehr ein, man geht nicht All-In, sondern bewegt die, die schon hier sind, zum Aussteigen.
Wenn es nicht anders geht, zusätzlich mit neuen Handelsbarrieren. Autos deutscher Marken in den USA? Kein Problem, solange sie dort produzieren, dann gibt es auch keine Strafzölle. Jüngst ist Toyota, hierzulande fast unbemerkt, zum größten amerikanischen Automobilhersteller aufgestiegen, obwohl es sich um ein im Kern immer noch urjapanisches Unternehmen handelt. Die Autos, die von den Toyota in den USA verkauft werden, werden jedoch überwiegend dort hergestellt. Auch die Bayerischen Motorenwerke haben ihr größtes Werk in einem dadurch bekannt gewordenen Ort namens Spartanburg, nicht in Bayern. Andere deutsche Hersteller bauen ihre Präsenz in den Staaten ebenfalls aus. Im Jahr 2016, also einer wirtschaftlichen Normalzeit, kam es zu einem wichtigen, aber viel zu wenig diskutierten Wendepunkt: Erstmals wurden mehr Autos deutscher Marken im Ausland produziert als hierzulande. Da war die neue Ordnung noch gar kein Diskussionsthema, nur einzelne Versprengte wie wir fanden, dass eine strategische Wirtschaftspolitik doch keine schlechte Idee wäre, um den Industriestandort Deutschland zu sichern.
Man hat sich tatsächlich darauf verlassen, dass die USA ihrer eigenen Deindustrialisierung für immer tatenlos zusehen werden und nur auf die Finanzindustrie und das Silicon Valley setzen, das sich gerade selbst wieder in einer Transformationsphase befindet und neue Wege gehen muss.
Wenn in Europa dagegengehalten werden soll, müssen alle an einem Strang ziehen, und das wird wieder einmal sehr schwierig werden.
Allein die unterschiedliche Wirtschaftskraft der EU-Staaten wird dafür sorgen, dass es immer wieder Ausfaserungen gibt. Denn für Investitionsprogramme werden neue Schulden aufgenommen werden müssen und einige Staaten der EU stecken jetzt schon bis über die Ohren im Debt.
Die EZB wird sich an das Statut der amerikanischen Fed angleichen müssen, die einen umfassenderen Auftrag hat als nur für Geldstabilität zu sorgen, nämlich einen industriepolitischen im Sinne der Vollbeschäftigung. Faktisch finanziert die EZB schon lange vor allem die südlichen EU-Staaten und sie werden von einer strategischen Industriepolitik auch am meisten profitieren. Deutschland kann aber, um das nicht zu sehr zu provozieren, nicht alleine handeln, obwohl es schuldenseitig im Moment noch besser dasteht. Mit sich aufgrund von gewaltigen Energie-und-Inflations-Hilfspaketen, die zudem ungerecht sind, schnell verschlechternder Tendenz.
Der EU-Binnenmarkt mit 500 Millionen Menschen ist das, was in die Waagschale geworfen werden muss. Ohnehin: Was immer dabei herauskommt, die USA sind zunächst im Vorteil. Sie haben vor allem Deutschland gegenüber ein großes Handelsbilanzdefizit und können deshalb nicht so viel verlieren, wenn sie sich mehr abschotten wie Deutschland mit seiner Exportlastigkeit. Man hat die Warnzeichen aus den USA, gesendet zum Beispiel von Donald Trump, der sich gegen diese Handelsungleichheit gewendet hat, immer wieder ignoriert und geglaubt, es wird schon nicht so schlimm werden und sich sehr bemüht, ihn nicht ernst zu nehmen.
Unternehmensführer sind besonders anfällig für solche Ignoranz, weil sie vor allem ihren Markt, ihre Company im Blick haben, weil die Politik dort nicht jeden Tag mit dem Laternenpfahl winkt und das Tageschäft auf den ersten Blick wirkt, als habe es nur mit der Performance des eigenen Unternehmens, mithin mit der eigenen, zu tun, wie gut das Geschäft läuft.
Geopolitische Beobachter und Analysten der politischen Rahmenbedingungen haben es leichter, die Zeichen zu erkennen. In Deutschland gab es diese Stimmen auch, jedoch waren sie zu leise, zu wenige. Ihre Einwände haben nicht zu klugem Regierungshandeln geführt, das auf Austarieren setzt, vielmehr kam es zu einseitigen Abhängigkeiten, die nun in einer bösen Zwickmühle münden. Die Abhängigkeit von Russlands Energielieferungen kann nun seitens der USA zu einem erheblichen Erpressungspotenzial umgemünzt werden.
Man darf sich nicht vormachen, der Ukrainekrieg käme den Strategen in Washington nicht sehr gelegen. Werte spielen dabei überhaupt keine Rolle, sondern es geht um die geopolitischen Vorteile, die man aus der Lage ziehen kann. Dieser Krieg hilft den Vereinigten Staaten bei der Durchsetzung ihrer imperialen Interessen mehr, als er Wladimir Putin je nützen wird. Das gilt auch dann, wenn er ihn insofern gewinnen sollte, als er Teile der Ukraine an Russland angliedern kann. Diejenigen in den USA, aber auch in Europa, die Deutschland immer wieder scharf wegen Nord Stream 2 kritisiert haben, sind nun obenauf und Russland und Deutschland schauen buchstäblich gemeinsam in die leere Röhre, die zudem durch Sabotage beschädigt wurde. Wir teilen nicht die in Kreisen verbreitete Ansicht, dass Russland das locker durch neue Handelskooperationen in Asien kompensieren kann,, vor allem braucht ein solcher Switch seine Zeit. Doch am härtesten trifft es mittlerweile Deutschland, denn die Verengung von Wahlmöglichkeiten bei der Versorgung mit essenziellen Gütern bedeutet in der Regel Preisanstiege. Weiterhin schränkt die Notwendigkeit, das Land nicht dunkel und kalt werden zu lassen, politische Optionen stark ein.
Besonders, wenn sie auf Werten basieren sollen, nicht, wie in anderen Ländern, auf Interessen. Wir möchten der Regierung dringend raten, sich und uns nichts mehr vorzulügen, sondern deutlich erkennbar und die Interessen des Landes zu schützen. Dafür wurde sie gewählt. Hingegen steht im Auftrag nichts davon, andere mit unterschiedlichem Maß zu messen, je nachdem, wie mächtig sie sind und wie sehr ihre Rohstoffe gerade benötigt werden, und damit die eigenen Werte unglaubwürdig wirken zu lassen. In Wirklichkeit ist das eine ebenso anmaßende wie unzuverlässige und opportunistische Politik, die zu Recht anderswo auf der Welt mit Argwohn quittiert wird.
Ohne den Schutz lebenswichtiger Interessen hingegen wird es hier bald keine zu schützenden Werte mehr geben. Demokratie lebt auch von Wohlstand, vom Wohlergehen aller, das sollte man nicht vergessen. Wem der Wohlstand der Mehrheit egal ist, dessen Ambitionen in Sachen Demokratie sind in Zweifel zu ziehen. Jetzt rächt es sich in diesem Sinne auch, dass in Deutschland seit über 20 Jahren eine sozialschädliche Politik gemacht wird, die dafür sorgte, dass die finanzielle Substanz der Menschen sich schon vor der Krise verschlechtert hatte und dass in den hochverschuldeten Ländern Europas die Privatpersonen oft wesentlich besser dastehen als bei uns. Vom Vermögen bis zu den Rentenansprüchen zieht sich seit vielen Jahren eine Schneise der Vernichtung durch Deutschland. Unschlagbar wäre die hiesige Politik hingegen, wenn sie auf die neuen Vorgaben aus den USA angemessen reagieren und trotzdem ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit bewahren würde, die es dort nicht gibt und die Vorteile der Europäer, z. B. ihre bessere phsysische und gesellschaftliche Konstitution, nutzen würde.
Das wäre die Stunde der Europäer, aus der Kombination von industrieller Stärke und traditionellem sozialem Ausgleich die Anziehungskraft zu gewinnen, die u. a. Top-Fachkräfte hierherzieht, um auch dieses aktuelle Thema zu streifen. Derzeit hingegen wird sich doch jeder fragen, der seine Zelte bei uns aufschlagen will, wie sicher seine Zukunft sein wird und ohnmächtig werden, wenn er die erste Strom- oder Gasrechnung erhält. Solche Verhältnisse ist man woanders nicht gewöhnt, aber sie sprechen sich herum und halten Menschen von der Ansiedlung ab. Es gibt auch gesellschaftspolitische Aspekte, aber die werden manchmal in Relation zu ähnlichen Phänomenen in anderen Staaten und zu wirtschaftlichen Aspekten etwas übertrieben dargestellt. In Großstädten wie Berlin kann man, gesellschaftlich betrachtet, als Immigrant:in recht gut leben und ist vielfach Teil einer sehr diversen Community.
Am Ende zählt aber, was hinten rauskommt. Wer hat’s gesagt? Also muss der hiesige Standort wirtschaftlich attraktiver gemacht werden. Die Unternehmen müssen sich dabei an der eigenen Nase fassen, aber der Staat darf nicht so kontraproduktiv wirken, wie er es im Moment tut.
Im Land der Freiheit und des angeblich freien Marktes, den Vereinigten Staaten von Amerika, wurde immer schon subventioniert. Doch wird jetzt so deutlich von der reinen Lehre abgewichen, dass es auch hier endlich jedem dämmern müsste, was uns seit Jahren klar ist: Es wird mit dem Ausverkauf nicht so weiterlaufen können.
Die inzwischen vertane Zeit lässt sich nicht mehr zurückgewinnen, aber vielleicht klappt es ja noch, mit ebenso ambitionierten „Transformationssubventionen“ dafür zu sorgen, dass man sich über den Atlantik hinweg wieder zusammensetzt, um nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Aauf lange Sicht betrachtet hilft das, was jetzt gegeneinander aufgestellt wird, dem Westen nicht und die USA können unmöglich ihre Ambitionen ohne Partner durchsetzen. Partner gibt es aber nach wie vor überwiegend in Europa. Die übrigen wichtigeren Länder sind mindestens auf Distanz, wie sich an deren häufig neutraler Haltung im Russland-Ukraine-Krieg gezeigt hat.
Der nationale Egoismus hat Hochkonjunktur. Doch wie hat uns unser VWL-Professor zu Beginn der Einführungsvorlesung mitgeteilt? Der wahre Egoist kooperiert. Natürlich im Sinne der Angebotstheorien.
Die Herausforderungen haben sich seitdem verändert, die Ideologie, die hinter dem Spruch steht, ist längst Old School, Kooperation muss heute anders gedacht werden. Aber eines ist geblieben: Dass kopflose wirtschaftspolitische Flickschusterei, wie die hiesige Bundesregierung sie nicht erst seit der Ampel zeigt, alles aufs Spiel setzt, was nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde.
In den 2000ern versuchte beispielsweise der Egoist Gerhard Schröder, auf seine Weise, an den Stellschrauben zu drehen. Wir waren von Beginn an der Meinung, diese Methoden sind nicht nachhaltig gewesen, sondern auf kurzfristigen Erfolg unter Inkaufnahme sozialer Verwerfungen ausgerichtet, die langfristig das Land so schwächen werden, wie es sich jetzt bewahrheitet.
Wir sind nicht nur gespannt darauf, sondern es ist auch wichtig für uns, dass man nun endlich die richtigen Schlüsse ziehen und eine gesunde Mischung aus strategischer Wirtschaftspolitik und Wohlfahrt organisieren wird. Um ehrlich zu sein: Wenn wir uns die aktuellen Akteure anschauen, können wir nicht anders als schreiben: Es gibt es viel Grund zum Pessimismus. Einzig der Kanzler und einige in seiner Partei machen den Eindruck, als hätten sie in etwa begriffen, worum es geht. Gott schütze Kanzler Scholz, erleuchte ihn, stärke seine Durchsetzungskraft oder bewahre uns wenigstens davor, dass diese Regierung das endgültig ruiniert, was sich schon unter den Vorgänger:innen schleichend verringert hat: die Substanz all der materiellen und immateriellen Dinge, von denen und für die wir leben.
TH