Crimetime 1138 – Titelfoto © NDR
Kinder aus dem Katalog. Ermittler aus dem Bilderbuch?
Die Handlung in Kurzfassung: Aus dem Wasser wird eine Kinderleiche gezogen, ein Fall für die Hamburger Mordkommission, für Stoever, der immer hingucken kann, und für den sensiblen Brocki, der sich abwendet – und damit bestraft wird, dass er anschließend nur noch Kommandos empfangen darf, es sind aber einige Polizisten mehr erforderlich, um die Lösung des Falles zu finden und damit eine ungeheuer dreiste Art von Kinderhandel aufzudecken.
Wie war das Gefühl nach dem Film? Schräglage. Wir sind Fans der späten Zeit von Stoever und Brockmöller, als sie schon sangen. Aber bei diesem Thema und in diesem Moment dieses selige Liedchen, dazu noch mit so einem abgewandelten Text? Das kann man nur akzeptieren, wenn man sagt, die beiden wissen, dass sie damit die Vierte Wand einreißen, also quasi aus der Fiktion treten. Die Zuschauer wiederum wissen, dass so etwas einfach dabei sein muss und trennen es innerlich von der übrigen Inszenierung ab. Sentimental Journey, mit Einbruch in die HO-Fleischerei, wo meterlange Würste hängen. Für sich witzig, aber im Kontext mit Mord an einem Kind und Kinderhandel leider deplatziert. Überhaupt wäre der Fall besser in Köln aufgehoben gewesen. Nach dieser bereits deutlichen Meinungsäußerung begründen wir diese natürlich noch in der –> Rezension näher.
Handlung
Ihr neuer Fall geht auch den erfahrenen Hauptkommissaren Stoever und Brockmöller an die Nieren: In einem Waldstück wird die Leiche eines Babys gefunden. Es handelt sich um die kleine Tochter der Familie Moelders. Wenige Tage nach seiner Geburt war der Säugling aus dem Krankenhaus entführt worden. Die Entführer wußten nicht, daß das Kind mit einem Herzfehler zur Welt kam; ohne medizinische Betreuung hatte das Baby keine Überlebenschance.
Die osteuropäische Familie Moelders, die in einer Unterkunft für Asylbewerber am Hamburger Hafen lebt, ist verzweifelt und kann sich nicht vorstellen, wer ihnen das angetan hat. Hilfe bekommen die Moelders von Ludger Hansen, einem eifrigen Mitarbeiter der gemeinnützigen Organisation „Minar“.
Der Kindesraub ist kein Einzelfall – das Verschwinden hellhäutiger Kinder von Asylbewerbern häuft sich. Der Druck der Öffentlichkeit steigt: Handelt es sich um eine besonders perfide Art von Kinderhandel? Oder ist Kindesmissbrauch im Spiel? Stoever und Brockmöller leiten die neu gebildete Sonderkommission, der auch Marion Mindner zugeteilt wird, eine Psychologin aus der SOKO „Kinderraub“. Sie hat durchaus eigene Vorstellungen von Ermittlungsarbeit, die Stoever nicht immer teilt.
Nach und nach erhärten sich Hinweise, dass internationale Kinderhändler mit im Spiel sind. Auch der 13jährige Anatolij Moelders will unbedingt erfahren, wer seine Schwester auf dem Gewissen hat. Seine Neugier bringt ihn jedoch in tödliche Gefahr. Als Stoever und sein Team erfahren, dass ein kleines Mädchen das nächste Opfer der Kinderhändler werden soll, gehen sie ein hohes Risiko ein, um die skrupellosen Verbrecher dingfest zu machen.
Rezension
Warum lieber nach Köln, für so einen Fall? 1998, als „Arme Püppi“ entstand, waren die immer noch tätigen Ballauf und Schenk schon am Werk, und die können Kinder. Sie haben genau die richtige Art, um Tatorte mit kleinen, hilflosen Opfern so an den Zuschauer zu vermitteln, dass er involviert ist, nicht nur gespannt oder interessiert. Die Art, wie sie Betroffenheit und emotionales Mitgehen zeigen, ist dafür genau richtig. Stoever und Brockmöller in ihrer Spätphase hatten diese Fähigkeit eher nicht – obwohl sie außerhalb der erwähnten Gesangszene erkennbar ernster bleiben als manchmal sonst, die üblichen Kabbeleien zwischen den beiden gibt es nicht zu sehen. Aber Stoever wirkt hier zu robust und der etwas weichere Brockmöller kommt in diesem Tatort kaum zur Geltung. Manfred Krug, also Stoever, war übrigens am Drehbuch beteiligt und hat die Art, wie er agiert, mitbestimmt. Im Norden, das merken wir immer mehr, haben die Schauspieler mehr zu sagen als anderswo in der Republik. Was nicht immer ein Vorteil ist. Es hat gute Gründe, dass es beim Film eine Arbeitsteilung gibt. Einer davon ist, dass Schauspieler doch auch ein wenig egozentrisch sind, das müssen sie ja, um gut spielen zu können – sich dadurch aber, wenn sie die Gelegenheit erhalten, gerne Sachen ins Drehbuch schreiben, die der neutrale Betrachter vielleicht als entlarvend, aber in einer Vielzahl von Fällen nicht als stimmig empfindet.
Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im neuen Wahlberliner im Dezember 2022, acht Jahre nach der Erstellung des Entwurfs: Mittlerweile wissen wir, wie es mit Tschiller, dem Dominator der nunmehr vorerst beendeten Hamburg-Reihe weitergegangen ist, unsere Skepsis gegenüber allzu viel Einfluss der Schauspieler:innen hat sich bestätigt (Schweiger), ähnlich bei Lindholm, die eine Schmitz brauchte, um geerdet zu werden (Furtwängler), vor allem aber: Manfred Krug hat sich selbst wohl tatsächlich für den besseren Drehbuchautor oder Dialogschreiber gehalten und es den Verfassern der für ihn und Charles Brauer geschriebenen Skripte ziemlich schwer gemacht. Und damit weiter zum Skript.
Wie ist denn das Drehbuch? Angelegt als Howcatchem und ziemlich übertrieben, was gekontert wird durch eine für 1998 ungewöhnlich konservative Inszenierung. Wir dachten zunächst, der Tatort sei älter. Stoever und Brockmöller haben sich während ihrer langen Tätigkeit ja optisch nur sehr langsam verändert, vor allem Stoever ist vom Aussehen sehr konstant gewesen. Als dann der Gesang kam und der 7er-BMW, war alles klar, denn den haben sie ja als Dienstfahrzeug erst sehr spät bekommen, sozusagne als Belohnung für ihren langjährigen und vom Publikum sehr geschätzten Dienst am Tatort.
Das Übertriebene ist diese Art von Kinderhandel. Wir sind keine Spezialisten dafür, aber dass Kinder heimlich fotografiert und dann auf Bestellung geklaut werden, halten wir für Humbug. In viel zu vielen Fällen lässt sich das nämlich sicher nicht so auf den Punkt arrangieren, dass Angebot und Nachfrage vor allem zeitlich genau abstimmbar sind. Dass unter dem dadurch entstehenden Zeitdruck etwas schiefgeht, ist absehbar. War am Ende ja auch so. Dass anfangs Eltern bereit gewesen sein sollen, ihre Kinder zu verkaufen – okay, zumindest in Osteuropa gibt oder gab es das wirklich, auch dazu existiert mindestens ein passender Tatort, dessen Titel uns gerade nicht einfällt. Klasse waren die Szenen der Interaktion zwischen Stoever und dem Sonderkommando, auch die Kindesentführer fanden wir recht gut dargestellt, unabhängig von der unglaubwürdigen Begehungsweise ihrer Taten. Alle anderen Darsteller blieben eher blass.
Um die Emotionen der Zuschauer mehr zu binden, als es allein durch schreiende Kinder in einer alten Fabrikhalle möglich gewesen wäre oder bei vorliegender Inszenierung möglich war, hat man die Figur des „Helmut“, des kleinen Jungen, erfunden. Nett, ihm so einen altmodischen Namen zu geben, Einwanderer haben ja oft noch kein Feeling dafür, was gerade angesagt ist und tendieren zu deutschen Namen, die längst out sind – besonders häufig bei Spätaussiedlern wahrnehmbar. Vielleicht hat man aber auch einfach nur den Namen des Regisseurs genommen. Aber wie Helmut den illegalen Kinderaufenthalt findet und dann auch entführt wird, ist eigentlich am Zentrum des Themas vorbei und lenkt die Aufmerksamkeit in die falsche Richtung. Man merkt, dass das Drehbuch etwas dünn war und mit einer solchen Identifikationsfigur aufgepeppt werden sollte. Uns hat das nicht reingezogen. Er heißt übrigens mit Nachnamen Moelders. Wir kennen kein osteuropäisches Land, in dem das ein üblicher Name ist – zunächst dachten wir, es handelt sich um Holländer, deren Kind in einer Hamburger Klinik behandelt und von dort entführt wird, wodurch die soziale Problematik der Immigranten erst einmal verdeckt blieb.
Wie sieht’s generell mit Kinder-Tatorten aus? Manchmal sind uns die etwas zu spekulativ, wie auch hier. Die sehr sachliche Inszenierung gleicht das allerdings aus. Kinder sollte man nicht überstrapazieren, zumal in der Realität vergleichsweise wenige Kindestötungen vorkommen. Zumindest gibt es nicht sehr viele Fälle, in denen der Tod eines Kindes wirklich als Mord erkannt und dass dementsprechend ermittelt wird. Am meisten berührend fanden wir die Szene, in welcher der kleine, weiße Sarg ins Grab gesenkt wurde. Das Kind wurde zwar nicht ermordet, sondern starb, weil es krank war und die Entführer nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Das macht strafrechtlich einen ziemlich deutlichen Unterschied – das sollte auch Stoever wissen – emotional aber kaum.
Mit spekulativ meinen wir aber diesen Kinderhandel. Schlimm genug, dass es Kinderhandel gibt, dass es ein so großes Wohlstandsgefälle gibt, dass es Menschen gibt, die um jeden Preis ein Kind haben wollen und sich den Preis auch leisten können, während andere nicht wissen, wie sie ihre Kinder durchbringen sollen. In dem Zusammenhang ist übrigens unlogisch, dass vor allem Kinder armer Leute geklaut werden. Weil die armen Leute zu arm sind, um sich an die Polizei zu wenden? Bei der hier gezeigten Vorgehensweise der Entführung, welche die Kinderhändler anwenden, seit es mehr Bedarf als verkaufswillige Eltern gibt, müsste es allein darauf ankommen, dass die Kinder besonders hübsch sind und dadurch leicht Abnehmer finden. Da gibt es übrigens einen Moment, der uns besonders nachdenklich gemacht hat.
Welche Szene hat besonders nachdenklich gemacht? Es war nicht der Part, der bei den Käufern in dieser Alstervilla spielt, mit dieser Halle, die wie das Treppenhaus eines Museums wirkt, wie diese Leute dargestellt werden, lasse wir mal außen vor, abgesehen von der für den Nachdenk-Moment wichtigen Tatsache, das sie reich sind. Der Zwischenchef der Entführerbande sagt zu einem Kind, das seinen Käufern übergeben werden soll, dass es jetzt bald glücklich und in Wohlstand aufwachsen wird, mit anderen Worten. Sicher darf man keine Kinder entführen, um abzukassieren und gleichzeitig deren Schicksal positiv zu beeinflussen. Aber wenn Kinder aus desolaten Verhältnissen auf diese Weise, sagen wir, vom Staat, herausgezogen würden und an Menschen übergeben, die alle Voraussetzungen erfüllen, um Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen – wäre das so falsch? Der Schutz der Mutter steht in Deutschland sehr hoch. Gerade in den weit entwickelten Gesellschaften nördlicher Staaten ist man weniger zimperlich damit, Kinder in neue Umgebungen zu bringen, wenn die leiblichen Eltern erkennbar nicht mit den Kindern umgehen können. Der Schutz der Muttergefühle wird hierzulande leider zu oft als Alibi für eine achtlose Laissez-faire-Haltung hergenommen, die in der Tat kinderfeindlich ist. Dass bei uns Leute mit den schlechtesten Erziehungsvoraussetzungen die meisten Kinder haben, wird dieser Gesellschaft ohnehin auf den Kopf fallen. Tut es schon, angesichts der bekannten Schwierigkeiten im Bildungs- und Sozialbereich.
Das ist nur allgemein nachgedacht, ausgelöst durch diese Szene. Im Film werden die Eltern, denen die Kinder entführt werden, zwar als arm, aber nicht als verwahrlost dargestellt. Das ist auch richtig so, sonst würde man zu sehr auf die Schiene gesetzt, dass die Kinder doch eigentlich Glück haben, die entführt werden und in bessere Verhältnisse kommen. Viele Kinder hätten das wirklich verdient, aber dafür müsste der Staat sorgen. Dass wohlhabende Menschen, die aus medizinischen Gründen keine eigenen Kinder haben können, alle Wege gehen, um jenseits der Adoption mit ihren hohen Hürden und Anforderungen an Kinder zu gelangen, können wir nachvollziehen. Viele Kinderlose sind es nicht, weil sie partout kinderfeindlich sind, das wollen wir an der Stelle auch zu bedenken geben, wegen des allgemeinen Bashings von Kinderlosen, als seien sie allesamt unverantwortliche und egoistische Subjekte. Manchmal wird es einfach nichts, aus unterschiedlichen Gründen, und der Wunsch, das zu einem – oft sehr späten Zeitpunkt – zu korrigieren, der ist verständlich. Es sollte einen legalen Weg geben, diesen Menschen mehr zu helfen. Das gehört sogar zum sozialen Ausgleich, Kindern eine gerechte Chance auf eine gute Zukunft zu geben.
Wie fällt das Fazit aus?
Das Thema hat uns angesprochen, wie der vorherige Absatz belegt. Die Art, wie es in „Arme Püppi“ transportiert wird, eher nicht. Schon der Titel und wie Stoever das sagt, als ein verschlossener Sack aus dem Waser gezogen wird, ist irgendwie unpassend. Sicher gut gemeint, aber am hier angesagten Taktgefühl vorbei. Takt ist eh nicht Stoevers Stärke, manchmal macht das auch viel Spaß, wenn er die Verdächtigen und alle anderen so richtig angeht. Hier eher nicht, zumal er lange Zeit keine Verdächtigen zu verhören hat. Da muss einen Polizeipsychologin als Aufbau-Gegnerin herhalten. Nun ja. Leider werden es nicht mehr als 6,5/10 Punkte. Das ist nicht sehr viel unter dem Durchschnitt unserer Wertungen (der liegt seit langer Zeit konstant bei etwa 7,2/10) und damit ist dem Engagement, das wir dem Film zugute halten, Genüge getan.
Eine Anmerkung: Erstmalig haben wir für ein nicht mehr aktives Team eine Bewertungskurve erstellt, um nachzuvollziehen, wie Stoever und Brockmöller sich entwickelt haben. Sehr interessant. Sehr guter Start, dann ziemlich abwärts – dann aber eine lange Aufwärtsphase, zu der auch „Arme Püppi“ beiträgt, der von den der Kurve zugrundeliegenden Nutzer-Bewertern beim Tatort-Fundus etwas höher eingeschätzt wird als von uns. Allerdings: Unter den heutigen Ermittlern lägen Stoever und Brockmöller nur gerade so im Mittelfeld. Was ihre Fälle angeht. Ihre Beliebtheit geht aber darüber hinaus. (Diese Kurve haben wir bei der Veröffentlichung 2022 nicht abgebildet, denn auch der Tatort-Fundus mit seinen interessanten Ranglisten und Kurzkommentaren ist mittlerweile Geschichte).
6,5/10
© 2023, 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)
Stab:
Buch: Thorsten Näter
Regie: Helmut Förnbacher
Darsteller:
Stoever (Manfred Krug)
Brockmöller (Charles Brauer)
Stefan Struve (Kurt Hart)
Marion Mindner (Donata Höffer)
Eckhardt Warncke (Matthias Fuchs)
Ludger Hansen (Hermann Beyer)
Valerij Moelders (Piotr Olev)
Anna Moelders (Elena Nagel)
Anatolij Moelders (Fjodor Olev)
Oberstaatsanwalt (Rolf Becker)
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